So etwas Ähnliches wie Literatur

Von Tomas Fitzel · 11.11.2012
Der Open Mike in Berlin ist nach dem Klagenfurter Ingeborg-Bachmann Preis der zweitwichtigste Vorlesewettbewerb der deutschsprachigen Literatur seit inzwischen 20 Jahren. Doch in diesem Jahr war nicht nur stilistisch, sondern auch thematisch teilweise große Gleichförmigkeit zu beobachten.
21 Mal hörte das Publikum 15 Minuten lang gespannt zu und spendete allen gleichermaßen Beifall. Nach 20 Jahren ist der Open Mike fast schon zu einem Selbstläufer geworden. Man ist extra aus dem Prenzlauer Berg nach Neukölln umgezogen, um im Heimathafen fast doppelt so viel Platz wie zuvor zu haben, doch auch hier saß das großteils junge Publikum dicht gedrängt oder fand sogar gar keinen Einlass mehr wegen Überfüllung.

1992 hatte noch die ehemalige Villa von Otto Grotewohl in Berlin-Pankow gereicht. Dort flanierte man in dem schönen Garten, unterhielt sich über den Boom der deutschen Literatur und all dem, was aus dem noch unbekannten spannenden Osten kam.

Heute ist zwar der Publikumszuspruch enorm, ansonsten ist aber Ernüchterung eingetreten auf vielen Ebenen, wie man anschließend im Gespräch mit den Lektoren feststellte, die die 21 Texte aus fast 700 auswählen mussten.

Lars Claßen:"Also, schwergefallen ist mir die Auswahl nicht, aber letztlich weil nur zwei Texte in Frage kamen, ich hab ja nicht nur nach zwei Texten gesucht, sondern nur zwei gefunden, mit denen ich mich sehr wohl fühle."

Lars Claßen vom Suhrkamp Verlag. Nicht nur stilistisch, auch thematisch war in diesem Jahr teilweise große Gleichförmigkeit zu beobachten.

Daniel Beskos: "In den letzten Jahren ist ja schon immer so eine Tendenz zu sehen, Familie, Freunde, wo geht es hin im Leben, Schule, Studium."

Daniel Beskos ebenfalls einer der Lektoren für die Prosatexte. Christoph Buchwald, zuständig für die Lyrikauswahl, fiel die generelle Abwesenheit von Zeitgeschichte auf:

"Wo versucht Literatur etwas herauszufinden über Konflikte, die uns beschäftigen, unsere Fragen, Nöte, Zweifel, die Erschütterungen einer Zeit, die uns zurücklassen, mit diesen Fragen, an denen wir uns abarbeiten. Diese großen Fragen kann man ja auch im Kleinen spiegeln, aber auch da ist man wesentlich vorsichtiger, und fast bin geneigt zu sagen: etwas mutlos."

Demgegenüber steht eine inzwischen hohe Professionalität der jungen Autoren. Bei der Lyrik konnte man ein großes Formbewusstsein beobachten, weder vor traditionellen Formen wie dem Sonett noch vor Reim und Alliteration scheuen heute die Lyriker zurück, blieben aber oft doch merkwürdig spröde, unsinnlich und oft kleinteilige Spracharbeiten.

Handwerklich waren die vorgetragenen Texte allesamt tadellos gearbeitet, auch der Vortrag meist sehr sicher und gekonnt. Bei einigen Prosatexten hatte man beim bloßen Lesen dann den Eindruck, ein und denselben Autor zu lesen, so sehr sie ähnelten sich im Thema, im dem es um Zweier- und Dreierbeziehungen ging, wie auch der verzagt melancholische Grundton. So fielen wirklich nur einige wenige Texte auf, im Grunde eigentlich nur zwei der vier prämierten.

Zum ersten der Text von Juan S. Guse aus Hessen, den die Jury mit dem Preis für den besten Prosatext bedachte, den Preis allerdings auf zwei Autoren aufteilte. Mit ihm wurde ebenfalls die Wienerin Sandra Gugic ausgezeichnet. Der 23-jährige Juan S. Guse überraschte im anschließenden Interview mit einem doch ungewöhnlichen Geständnis.

"Das war tatsächlich so, dass ich bis, ich 17 war, kein einziges Buch gelesen habe, auch als Kind nicht und dann habe ich im Internet von einem Buch gelesen, also es war der 'Tractatus' von Wittgenstein und die Geschichte fand ich so interessant, weil da schien etwas zu sein, wovon ich noch nie gehört hatte, was aber mit etwas korrelierte, was ich jeden Tag benutze, nämlich Sprache."

Und genau dies merkte man auch seinem Text an, der den Leser an einen unbekannten Ort, in eine fremde Welt führt.

Lesung Juan S. Guse:
"Als ich aufstehe, sind die Hunde da. Es klingt wie Rufe. Ich gehe zu ihnen, trete aus dem Haus auf die Straße. Es sind Tausende. Sie freuen sich über mich, formen einen Strudel, stellen sich auf ihre kräftigen Hinterbeine. Sie sind unzählig, reichen bis zum See hinunter, sitzen im Gestrüpp, in den Ästen der Bäume, auf unserem Dach, auf den Stromleitungen."

Man weiß nicht, ist es real oder Traum, aber es werden Bilder darin entwickelt, die nachhallen.

Auf eine andere Art kann man dies auch von der Gewinnerin des Publikumspreises, Joey Juschka, sagen. Joey Juschkas Text ist eigentlich das Gegenteil von Juan S. Guse. Schnelle Dialoge mit Verve geschrieben, ein harter Stoff, die alltägliche Gewalt gegen Frauen auf den Straßen Kreuzbergs, aber sie bleibt eben nicht bei der bloßen Darstellung der Realität von Gettokids in Kreuzberg, sondern sie lässt ihrer Fantasie freien Lauf und erfindet eine jugendliche Schutztruppe.

Lesung Joey Juschka:
"Bulldog beugt sich vorsichtig vor und liest von der Visitenkarte ab. In die Hand nimmt er sie nicht. 'Verein zum Schutz allein laufender Frauen', liest er zweifelnd. 'Was soll 'n das?' 'Schutz alleinlaufender Frauen – SCH A Äff. Schaf. e.V. sag ich'."

Dies zeigt einen Humor, wie man ihn vielleicht auch von Wilhelm Genazino kennt, aber doch mit einer ganz eigenen Stimme. Die Lyrik teilt das Schicksal mit der zeitgenössischen Musik, sie hat sich damit abgefunden, dass sie nur für einen sehr kleinen Kreis spricht. Zu dem Reglement des Open Mike gehört, dass die Jury anders als in Klagenfurt nicht über die Texte vor dem Publikum diskutiert. Doch gerade bei der Lyrik wäre dies notwendig, um eine Entscheidung auch nachvollziehbar zu machen. Was zeichnet den Preisträger Martin Piekar wirklich vor den anderen aus?

Lesung Martin Piekar: "Ich fühl mich so Bastard zwischen Wüste und Oase. So halb und halb, so weder; doch keinen Wechselbalg."

Die Literaturszene ist heute eine komplett andere als noch vor 20 Jahren. Heute schreibt fast jeder, einen Blog, twitter oder andere Formen, das verändert auch die Literatur, Autor sein ist heute keine exotische Lebensform mehr, aber was hier entsteht, ist nur so etwas Ähnliches wie Literatur. Dem muss auch ein Literaturwettbewerb Rechnung tragen, auch wenn es dafür keine einfache Antwort gibt.