SMS-Allgegenwart

Von Hans Ulrich Gumbrecht · 05.08.2007
Manchmal kommt mir ein Traum, dessen Hügellandschaft ein Bild aus dem Religionsbuch kopiert, wo Jesus die wenigen Brot-Laibe und Fische in ein Mahl für die Vielen verwandelte, die seiner Predigt zugehört hatten. Nur lauschen die Vielen in meiner Traum-Szene nicht einer Stimme, und an irdischer Nahrung haben sie schon gar kein Interesse.
Wie sie so zwischen den grünen Hügeln sitzen, blickt eine jede von ihnen konzentriert, aber auch durchaus erfreut auf ein Handy, um flink seine Tasten zu drücken. Natürlich sind sie alle in die Kommunikations-Welt von SMS, von Short Messages Services, absorbiert. Doch nach der – sicher tendenziellen – Zugabe meiner Phantasie schicken sie sich nur wechselseitig messages, ganz ohne Ausnahme, so dass sie, weil ständig mit Tippen und Lesen beschäftigt, nie wahrnehmen, wie sie alle zwischen denselben Hügeln sitzen und also eigentlich weder die Technologie der Handys noch die Arbeit des Tippens bräuchten.

Der Traum ist mir zugleich sehr vertraut und sehr fremd, aber keineswegs immer wieder erschreckend, so wie jene einzelnen Gestalten, denen ich auf den Gehsteigen des wirklichen Lebens begegne, während sie selbstverständlich und laut sprechen, mit allen denkbaren Anzeichen starker oder auch falscher Gefühle. Längst habe ich gelernt, dass sie mit irgendeiner abwesenden Person durch die beinahe unsichtbaren Elemente ihrer Mobil-Phone verbunden sind; nur hilft mir, ehrlich gesagt, dieses Wissen nicht, mich an das zu gewöhnen, was ich sehe. Der Blick, der nicht mehr ein Blick von dieser Welt ist, mag durchaus meiner sein, aber trotzdem kann meine erste, unwillkürliche Reaktion in diesen einsam sprechenden Körpern bloß Wahnsinn erkennen.

Als ich zu entdecken glaubte, dass auch die scheinbar so aufmerksamen Studentinnen in meiner Vorlesung immer nur mit instant messaging beschäftigt waren, statt mir zuzuhören, bat ich meine Tochter Laura um ein Gespräch. Mit sechzehnjähriger Sachlichkeit hat sie mich beruhigt. Nein, sie und die allermeisten ihrer Freundinnen benutzen SMS nur, wenn sie erstens sicherstellen wollen, dass eine Nachricht schnell wahrgenommen wird, und wenn ihnen zweitens daran liegt, dass die Empfängerin nicht bei einem anderen Gespräch oder beim Musikhören [auf dem IPod zum Beispiel] rüde - das heißt wohl: durch ein anderes Geräusch - unterbrochen wird.

Tatsächlich bestätigt die Enzyklopädie des Internets, dass die auf dem winzigen Bildschirm der Handys aufscheinenden SMS-Textbotschaften im Durchschnitt nach 30 Sekunden gelesen werden, während E-mails darauf im Normalfall erstaunliche 48 Stunden warten. Und ob sie erklären könne, fragte ich Laura weiter, warum gute zehn Jahre vergangen seien, bis Kunden in den späten neunziger Jahren endlich die SMS-Technologie angenommen hätten. Auch dazu hatte sie eine solide Meinung: Erst die seit dem Kindergarten mit elektronischer Technologie aufgewachsene Generation sei abgeklärt genug gewesen, um eine inzwischen üblich gewordene und ja sehr elementare Funktion für SMS zu finden.

So ist meine Ratlosigkeit und meine Wut inzwischen geschmolzen zu bittersüßer Melancholie. Ich gehöre wohl zur letzten Generation von denen, für die Erfüllung darin lag, sich ganz – mit Seele und Leib sozusagen – auf ein Ding oder auf ein Ereignis konzentrieren zu dürfen. Auf ein Buch oder eine Symphonie, auf einen Elfmeter oder einen Teller Linsensuppe, oder vielleicht auch, wie die beiden steinalten Männer, die ich an einem Bayou in Louisiana traf, auf größere und kleinere Alligatoren, lebenslang. Den neuen Generationen hat die Technologie eine andere Erfüllung geschenkt, nämlich die beinahe vollkommene Erfüllung des ehrwürdigen Gottes-Prädikats von der Allgegenwart. Historisch genau genommen hat diese Entwicklung ja schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert begonnen: mit der Tageszeitung, dem Telefon, mit dem Radio und schließlich den Wochen- und Tagesschauen. All diese Medien machten es immer möglicher, akustisch, visuell und intellektuell dort zu sein, wo die Körper nicht waren. Als zuerst klar wurde, dass unsere Kinder wie wahre Zapping-Künstler aufwuchsen, die ganz selbstverständlich mehrere Fernsehprogramme simultan verfolgten wollten und konnten, da fanden wir das einfach amüsant. Doch inzwischen sind wir selbst amüsant und etwas rührend geworden, weil die medien-technologisch durchgesetzte Lebensform menschlicher Allgegenwart unsere alte Sehnsucht, nämlich mit Leib und Seele bei einer Sache zu sein, zu einer Sehnsucht der Vergangenheit gemacht hat.

Zugegeben: Irgendeinen Eindruck von jener Hügellandschaft, aus der sie beständig SMS-Botschaften verschicken, werden auch die Medienbenutzerinnen in meinem Traum haben. Und auch die erste Abendstunde nach einem heißen Tag in Athen ist nicht ganz verloren, selbst wenn man ausgerechnet auf der Agora messages lesen und beantworten muss. Das Leben der Zukunft wird dann ein Leben sein, das seine spezifische Intensität weniger aus der Konzentration auf das einzeln Gegenwärtige gewinnt als aus dem schnellen Wechsel zwischen dem verschiedenen Abwesenden. Vielleicht ist das immer schon der Rhythmus der Götter gewesen.


Hans Ulrich Gumbrecht zählt zu den deutschen Literaturwissenschaftlern mit internationalem Renommee. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Deutschland, Spanien und Italien, lehrte dann an den Universitäten Konstanz, Bochum und Siegen. Seit 1989 ist er Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stanford in Kalifornien.