Skurriles Gesellschaftsdrama

Von Bernd Sobolla · 19.03.2012
Der Libanon ist nicht gerade als Filmnation bekannt. Eher selten kommt es vor, dass ein dort produzierter Film die Festivals von Cannes, Sundance und Toronto erobert. Die 35-jährige libanesische Regisseurin Nadine Labaki hat mit "Wer weiß, wohin?" genau das geschafft.
Etwa 30 Frauen wandeln schwarz gekleidet durch die Wüste. Sie scheinen zu wanken, von Trauer erdrückt, dann bewegen sie sich fast tänzerisch in sanftem Rhythmus seitwärts, dann wieder vorwärts - ehe sie den Friedhof erreichen. Ein atmosphärisch genialer Einstieg in die Geschichte eines Dorfes.

"Beifall / "Seid willkommen, alle zusammen! An diesem historischen Tag heiße ich die Dorfbewohner herzlich willkommen. Unser Dank geht auch an unseren Priester und den Imam, dass sie zu uns gekommen sind an diesem Abend." / Beifall / "Für unsere Vereinigung und dafür, dass wir zusammen leben in Frieden."" (Filmausschnitt)

Das Dorf liegt irgendwo im Nahen Osten. Die einzige Brücke zur nächsten Stadt hin ist zerstört. Es gibt nur einen Fernseher und nur eine Anhöhe, auf der dieser halbwegs Empfang hat. So versammelt sich die Gemeinschaft dort, umgeben von Minenfeldern, um fernzusehen. Dort sitzen verschrobene Charaktere: Männer, die sich ständig streiten, weil der Nachbar nicht auf seine Ziegen oder Hühner aufpasst. Mütter, die sich um ihre Kinder sorgen, wenn im Fernsehen Kussszenen gezeigt werden. Aber ernster scheint es zu werden, als die Frauen sehen, wie über politische Unruhen berichtet wird. Denn diese, so fürchten sie, könnten auf ihr Dorf übergreifen. Und so unterbrechen sie unkonventionell das Programm.

"Ausführlich wurde in der Sitzung über die Sicherheitsprobleme des Landes diskutiert. Die sich in den letzten Tagen zugespitzt haben." / "Mahmud, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht mit dem Finger in der Nase bohren. Hör auf! Und du, habe ich dir nicht verboten, den roten Pullover anzuziehen? Warum macht ihr nicht, was ich sage." / "Höre mal, Saldeh! Deine Hühner sind ständig in meinem Garten." / Tumult" (Filmausschnitt)

Für die Regisseurin Nadine Labaki waren reale religiöse Auseinandersetzungen vor vier Jahren der Ausgangspunkt für ihren Film:

""Im Libanon haben wir nach dem Bürgerkrieg zwei Jahrzehnte in Frieden gelebt. Und einige unglückliche Ereignisse vor einigen Jahren zwischen rivalisierenden Gruppen haben dazu geführt, dass wieder zu den Waffen gegriffen wurde. Zum Glück dauerte es nur einige Wochen. Aber ich fühlte die Gefahr eines neuen Bürgerkriegs. Und dann erfuhr ich, dass ich schwanger war, und dachte über mein Kind nach und in welche Gesellschaft es geboren werden würde. Ich sah Nachbarn und Freunde, die in wenigen Stunden zu Feinden wurden.

Und ich dachte, was mein Sohn machen würde, wenn er 18, 19 wäre und verführt würde, mit Waffen auf die Straße zu ziehen, um seine Nachbarschaft oder Familie zu beschützen? Was würde ich als Mutter tun, um ihn daran zu hindern?"

So ernst der Hintergrund, die Regisseurin versteht es geschickt, viele skurrile Ereignisse rund um das Dorf und seine Bewohner zu erzählen, sodass man den Film durchaus als Tragikomödie bezeichnen kann: Denn die Frauen, die sich täglich in Amales Café treffen, entschließen sich zur totalen Informationsblockade: Der Fernseher wird zerstört, die Dorfzeitung landet im Feuer. Und damit die streitbaren Männer auf andere Gedanken kommen, wird eine Gruppe leicht bekleideter ukrainischer Tänzerinnen engagiert, deren Bus "zufällig" in der Nähe eine Panne hat.

"Das ist Anna, Anna." / "Aber wer ist das denn? Katja?" /" Lass mich mal sehen!" / "Hier, schau!" / "Ja, das ist Katja". / "Ist sie das?" / "Wir haben von sexy geredet. Das ist ganz klar übertrieben." / "Wer könnte denn das wohl sein? Verstehe ich nicht. Haben wir die ausgesucht?" / "Das ist der Bonus. Die hat es umsonst dazu gegeben." (Filmausschnitt)

Aber der rechte Friede kehrt nicht ein: Als Ziegen in die Moschee des Dorfes eindringen und diese verunreinigen, stehen die Christen unter Generalverdacht. Und als die Marienstatue zerschlagen und das Weihwasser der Kirche blutig ist, droht der Streit zu eskalieren. Just in dem Moment erscheint der Frau des Bürgermeisters die Jungfrau Maria.

"Glocken / "Yvonne, kannst du uns hören?" / "Yvonne, ..." / "Yvonne, rede mit uns! ... Was sagt sie?" / "Sie sieht Männer untereinander Krieg führen. Männer holen unter Betten ihre Waffen hervor." / "Ohhh!" / "Was hat sie noch gesagt, Yvonne?" / "Yussuf!" / "Ohhh, sie spricht von dem Heiligen." / "Er ist ein Arschloch." /" Du liebe Güte." / "Yvonne, die Heilige Jungfrau sagt Arschloch?" / "Reiß dich zusammen!"" (Filmausschnitt)

Nadine Labaki, die auch die Cafe-Besitzerin Amale spielt, hat mit "Wer weiß, wohin?” ein skurriles Gesellschaftsdrama gedreht, das immer wieder daran erinnert, dass dort draußen ein latenter Kriegszustand herrscht, vor dem sich das Dorf vielleicht bald nicht mehr schützen lässt. Dennoch oder gerade deshalb hat sie durch den Einsatz von Musik, Gesang und Tanz dafür gesorgt, dass der Film - eine Hommage an verantwortungsvolle Frauen - zuweilen wie ein Musical wirkt.

Nadine Labaki: "Ich versuche, so viel wie möglich zu experimentieren. Auch mag ich Musik, Tanz und Lieder. Und für diesen Film hat das alles gut gepasst, denn sie lassen den Film wie ein Märchen erscheinen. Er wirkt irgendwie irreal."

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