Skandalös, erfindungsreich, verwegen

Von Oliver Seppelfricke · 30.05.2006
Das mit Pelz umhüllte Kaffeegedeck "Frühstück im Pelz" gehört zu ihren bekanntesten Werken. Unter dem Titel "Meret Oppenheim: Mit ganz enorm wenig viel" widmet das Kunstmuseum Bern der berühmten Surrealistin eine Gesamtschau ihres vielseitigen Werks.
Ein so verspieltes und vielseitiges Werk, das zugleich so unbekannt ist, gibt es kein zweites in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Und ein Leben wie ihres auch nicht. Aufgewachsen ist die 1913 in Berlin geborene Tochter eines Hamburger Arztes und einer Schweizerin im Dreiländereck Deutschland – Frankreich – Schweiz.

Während des Weltkriegs zog die Familie ins schweizerische Delémont bei Basel. Zur Grundschule ging Meret ins südbadische Steinen, zur Oberschule ins wenige Kilometer entfernte Schopfheim, dann folgten eine Privatschule in Zell im Schwarzwald, die Rudolf-Steiner-Schule in Basel und neben einem Mädcheninternat noch die Oberschule in Lörrach. Es war von Anfang an ein Leben in ständiger Bewegung.

Therese Batthacharya ist die Kuratorin der Schau:

"Ich glaube, sie war sehr aufgehoben in ihrer Familie. Und dann hat sie ja schon sehr früh in ihren Fantasien gelebt. Schon in einem Brief mit 16 Jahren schreibt sie ihrer Großmutter, dass sie heute wieder etwas gemacht hat und sie sei sehr froh, dass sie jeden Tag zeichnen könne, weil 'wahrscheinlich muss ich das als Beruf wählen'. Das sagt sie schon dann."

Mit 18 steht für Meret Oppenheim fest, dass sie Künstlerin werden will. Mit 20 geht sie nach Paris. Kommt in den Kreis der Surrealisten, sitzt Man Ray für eine Fotoserie nackt Modell und gilt schnell als "Muse" der Surrealisten. Eine Bezeichnung, von der Meret Oppenheim später sagte: "Das stimmte gar nicht, da ist viel hinzugedichtet worden."

1936 schafft sie ein Werk, das sie schlagartig berühmt macht: das "Frühstück im Pelz". Eine mit Pelz umhüllte Kaffeetasse, Löffel und Untertasse ebenso. Das Werk gilt schnell als Inbegriff der neuen Kunstrichtung "Surrealismus". 1936 erwirbt es der Direktor des New Yorker MoMa Alfred Barr jr. Meret Oppenheim gilt als skandalös, erfindungsreich und verwegen. Für Meret Oppenheim war dieser frühe Erfolg jedoch mehr ein Fluch als ein Segen, meint Therese Batthacharya, die Kuratorin der Schau:

"Das war eben sehr ein Fluch. Sie litt auch darunter und hatte Depressionen. Sie ging dann auch weg von Paris. Sie hat dann gedacht, sie wolle jetzt noch richtig Kunst studieren. Und hat vor allem Restaurierung studiert in Basel. Und hat schon gearbeitet. Hat aber immer wieder Dinge zerstört."

Im selben Jahr 1936 entsteht auch ein weiteres Schlüsselwerk: "Ma gouvernante – my nurse – mein Kindermädchen". Ein paar weißer Stöckelschuhe mit brauner Sohle legt sie mit einer Kordel eng umschlungen auf ein Silbertablett. Die Absätze ragen in die Höhe und sind mit gekräuseltem weißen Serviettenpapier versehen. Das ganze sieht aus wie ein Brathähnchen.

Nicht nur, dass man erst einmal auf eine solche Idee kommen muss. Man muss sie auch noch so perfekt realisieren, wie Meret Oppenheim es tat. Sie war eine Perfektionistin durch und durch. Ihr Werk ist ungeheuer vielseitig. Sie schuf Gedichte, Texte, Möbel, Bühnenkostüme, Bilder, Skulpturen, Designobjekte. Eine Frau voller Ideen. Mit zu viel Ideen schon. In einer von Männern dominierten Kunstwelt. Auch das war für sie ein Hemmschuh. Der zu ihrer langen künstlerischen Lähmung beitrug. Dabei war für sie die Kunst "androgyn", wie sie sagte. Therese Batthacharya, die Kuratorin der Schau:

"Da hat sie schon immer versucht, sich zu behaupten. Aber sie lehnte es einfach ab, an Frauenkunstausstellungen teilzunehmen. Weil sie dann wieder in eine Ecke gestellt wird. Deshalb hat sie immer gesagt: 'Die Kunst ist androgyn.' Für sie waren eben auch die Künstler jene Personen, die weiter schauen. Die mehr empfinden als der alltägliche Mensch. Und deshalb träumt er nach vorne."

Dann folgt eine lange, lange Schaffenskrise. Sie dauert gut 15 Jahre. Von 1939 bis 1954. Meret verdient in dieser Zeit ihr Geld als Restauratorin. Bearbeitet die Werke anderer Künstler und besucht kurioserweise - als Künstlerin voller Ideen - noch die Kunstgewerbeschule, um das technische Handwerk zu erlernen.

Nach zwei Jahren verlässt sie die Schule wieder und fährt mit ihren Objekten fort. Sie schafft einen Tisch mit Krähenfüßen. Meret Oppenheims Werk ist voller Fantasie und Anspielungen. Jahrelang hat sie sich intensiv mit der Traumdeutung von C.G. Jung auseinander gesetzt. "Es sind die Künstler, die für die Gesellschaft träumen", sagte sie.

"Ihr Vater hat sie zu C.G. Jung geschickt. Der Vater war ja Arzt und kannte Jung. Und dann hat aber der Jung gar keinen beunruhigenden Bericht geschrieben, sondern ihr eben auch Mut gemacht. Und deshalb hat sie sich dann auch intensiv mit ihren Träumen befasst. Nicht, dass sie sie illustriert hätte, sondern sie dienten ihr dann eigentlich ein Leben lang als Orientierungspunkt und als Anregung für ihr Werk."

Die Schau in Bern zeigt alle bekannten und berühmten Werke. Gut 200 insgesamt. Ein Drittel stammt aus Privatbesitz und war noch nie zu sehen. Da Meret Oppenheim 30 Jahre lang mit ihrem Mann in Bern gelebt hat, finden sich in dieser Stadt besonders viele Spuren und Sammler.

Man sieht und bestaunt also nicht nur das reife Frühwerk, sondern auch die vielen Objekte, die während und nach der Schaffenskrise und den lähmenden Selbstzweifeln entstanden. Ihre fantastischen Gedichte und Texte, ihr ständiges Wechseln zwischen Figuration und Abstraktion in Zeichnungen und Gemälden, sie konnte Traumbilder malen wie Miro oder surrealistische Büsten wie Giacometti, sie war verspielt wie ein Kind und gedankenreich wie ein Philosophin – in Bern ist das schon unheimlich vielseitige Werk dieser Künstlerin nun zu bestaunen. Ein Kunsthighlight, gerade im Freud-Jubiläumsjahr!

"Ich glaube, diese Vielfalt, das ist wirklich faszinierend. Wie sie alles versucht hat und gesucht. Und mit Materialien gearbeitet hat. Sie ging raus und fand immer wieder inspirierendes Material, das sie verarbeitet hat. Ich glaube, das ist schon das Wichtige an ihr. Diese Überraschungen, die man immer wieder erlebt, wenn man eben eine solche breite Fülle an Arbeiten sehen kann."

Die Meret-Oppenheim-Retrospektive: mit ganz enorm wenig viel ist im Kunstmuseum Bern vom 2. Juni bis 8. Oktober 2006 zu sehen.