Sittlichkeit kontra Sexwellen

Sybille Steinbacher im Gespräch mit Frank Meyer · 22.02.2011
Ganz so verklemmt waren die 50er-Jahre gar nicht, hat die Historikerin Sybille Steinbacher in ihrem Buch herausgefunden. Ohne den Kinsey-Report oder Unternehmerinnen wie Beate Uhse wäre die sogenannte sexuelle Revolution der 68-er gar nicht möglich gewesen, sagt sie.
Frank Meyer: In dem Film "Die Sünderin" aus dem Jahr 1951 ist Hildegrad Knef ein paar Augenblicke lang nackt zu sehen. Der Film wurde damals zu einem riesigen Skandal - "'Die Sünderin' - Ein Faustschlag ins Gesicht jeder anständigen deutschen Frau!", so stand es in einem Flugblatt. Manche Vorführungen des Films konnten nur unter Polizeischutz stattfinden. Auch durch Skandale wie diesen denkt man heute, die 50er-Jahre in der Bundesrepublik, klar, die waren verklemmt, lustfeindlich, prüde. Aber nun kommt die Historikerin Sybille Steinbacher und sagt, das stimmt so nicht, auch in den 50er-Jahren gingen hier schon Sexwellen durch das Land. Frau Steinbacher, seien Sie uns herzlich willkommen!

Sybille Steinbacher: Guten Tag!

Meyer: Frau Steinbacher, Sie sind Professorin an der Universität Wien und haben Ihre Habilarbeit über die Sexualität in den 50er-Jahren geschrieben. Die ist jetzt erschienen, diese Arbeit, unter dem Titel "Wie der Sex nach Deutschland kam". Lassen Sie uns mal bei diesem Skandal um "Die Sünderin" bleiben: Ist das nicht ein Beweis dafür, wie hysterisch man damals reagiert hat auf zum Beispiel eine nackte Frau im Kino?

Steinbacher: Sicherlich. Es ist ein Beispiel ja für die Hysterie, wenn Sie so wollen, letztlich für die Turbulenzen, die das Thema Sexualität oder Sittlichkeit, wie es damals hieß, auslösen konnte. Zugleich muss man sagen, der Skandal wurde nicht speziell jetzt durch diese kurze Nacktszene von Hildegard Knef ausgelöst, sondern der Skandal des Filmes lag letztlich in den Themen, die er behandelt hat. Es geht in dem Film ja um Selbstmord, es geht um Prostitution vor allem – all diese Themen waren ja Tabuthemen, und Prostitution war in der Nachkriegszeit ein großes soziales Problem. Natürlich rankte sich ganz viel um diese Nacktszene, und die Neugier des Publikums konzentrierte sich auch darauf.

Meyer: Gab es denn in dieser Zeit so etwas wie eine staatliche Sexualpolitik? Über dieses Thema schreiben Sie ja in Ihrem Buch: Ein politisches Projekt - wir arbeiten daran, Sexualität aus dem öffentlichen Raum möglichst zu verdrängen.

Steinbacher: Dabei muss man sagen, diese staatliche Sexualpolitik war keine Erfindung der Nachkriegszeit, sondern Sexualität war spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein ideologisch hoch aufgeladenes Thema, das politisiert war, das gesellschaftliche und politische Debatten und Auseinandersetzungen ausgelöst hat. Und die Nachkriegsjahre, spätestens ab 48, waren eine Zeit, in der dieser Konflikt um Sexualität noch einmal ganz besonders ausgetragen wurde. Es war gerade die katholische Kirche, der es ja nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, sich mehr noch als die evangelische als Siegerin in Trümmern zu stilisieren, und sie hat das Gebiet Moral, Sexualmoral ja ohnehin von jeher besetzt und hat hier sich auch noch einmal eine ganz besondere Deutungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg herausgenommen. Es waren die Theologen, es waren die Wissenschaftler, die Naturwissenschaftler vor allem, die das Themenfeld Sexualität besetzt haben. Und von dieser Seite her dann, auch getragen von der Politik, ist letzten Endes ja, wenn man so will, ein staatliches Programm zum Schutz der Sittlichkeit gestartet worden.

Meyer: Was ich eindrucksvoll fand an Ihrem Buch unter anderem war, wie Sie beschreiben, wie damals in der Nachkriegszeit das Ideal von der deutschen Frau als Hausfrau aufgerichtet wurde und wie arbeitende Frauen energisch diskreditiert wurden, um das mal so zu sagen, mit wirklich unfeinen Mitteln. Dieses Hausfrauenideal der frühen Bundesrepublik und der Kampf gegen Sexualität in der Öffentlichkeit, wie hängt das eigentlich zusammen?

Steinbacher: Das hängt insofern zusammen, als die Frau seit jeher und gerade nach Ansicht der bürgerlichen Gesellschaft ja sozusagen Garant der sittlichen Ordnung zu sein hatte. Das ist etwas, was sich mit Entstehen der bürgerlichen Familie Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hat. Und dieses Modell ist nach 1945 noch einmal ganz massiv gestärkt worden und sollte letzten Endes dienen als Garant auch der kulturellen Ordnung, als Stabilitätsgarant des jungen Staates. Und darum lag die Wahrung der Sittlichkeit so ganz stark bei den Frauen. Und der Blick auf Frauen und junge Mädchen war darum ganz besonders geschärft und letzten Endes auch ganz besonders ideologisiert, wenn man so will.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit Sybille Steinbacher, Professorin an der Universität Wien und Autorin des Buches "Wie der Sex nach Deutschland kam". Frau Steinbacher, jetzt haben wir über den Kampf für Sittlichkeit gesprochen, in Ihrem Buch geht es ja aber auch um die Sexwellen, die dann trotz dieses Kampfes nach Deutschland kamen, und da spielt offenbar eine große Rolle der Kinsey-Report – der war ja aus Amerika nach Deutschland gekommen, 1954 und 55 sind die Bücher über das sexuelle Verhalten der Frau und das sexuelle Verhalten des Mannes auf Deutsch herausgekommen. Was haben denn diese Bücher damals in Deutschland in Bewegung gebracht, welche Debatten haben sie ausgelöst?

Steinbacher: Diese Bücher, muss man sagen, haben tatsächlich eine mediale Welle ausgelöst. Die sind ja schon unmittelbar bei Ihrem Erscheinen einige Jahre früher, 48 und 53, in den USA zu Bestsellern geworden. Man muss dazusagen, das sind hoch wissenschaftliche Bücher, die alles andere als lustvoll oder erotisch sind, sondern Bücher voller Tabellen und Statistiken. Kinsey war ja Biologe und hat sich des Problems sozusagen aus der Sicht des Biologen angenommen. Letzten Endes waren es die Illustrierten, die sowohl in den USA wie dann auch in der Bundesrepublik einige Jahre später seine Bücher popularisiert haben. Sie haben diese wissenschaftlichen Werke in eine allgemein verständliche Sprache gebracht. Und mit Kinsey begann wirklich eine Welle, ein Boom. Es sind Umfragen dann initiiert worden zum Sexualverhalten der Deutschen, es gab Taschenbücher mit allgemein verständlichen Zusammenfassungen von Kinseys beiden Büchern, also eine enorme Popularisierungswelle, die eingesetzt hat und die diese Anschauungen von Kinsey verbreitet hat.

Meyer: Das war die eine Sexwelle, von der Sie jetzt sprechen, und eine andere wichtige Institution ist für Sie offensichtlich die Unternehmerin Beate Uhse, die hatte ja schon 1947 ihren Versandhandel mit Kondomen und Büchern zum Thema Ehehygiene aufgemacht. Hat sich Beate Uhse Verdienste erworben um die sexuelle Befreiung der Bundesrepublik?

Steinbacher: Das Schlagwort sexuelle Befreiung ist letztlich auch eines, das ganz viel zu tun hat mit Kinsey, und Uhse setzte unmittelbar in ihren ganzen Werbekampagnen auf das, was Kinsey initiiert hat, mit seiner Neuinterpretation von Sexualität. Kinsey sagt ja, es gibt keine krankhaften Formen von Sexualität, alles ist normal, alles ist natürlich, gerade auch Homosexualität, und er sagt auch, eine freie Sexualität ist Ausweis einer fortschrittlichen, einer aufgeklärten, einer freien Gesellschaft. Und auf diese Botschaften setzt Beate Uhse und verbreitet sie letzten Endes mit dem ganzen großen Konzern, den sie ja dann im Laufe der 60er-Jahre aufgebaut hat. Zunächst war sie keineswegs die Einzige, die auf Erotik gesetzt hat und die den Erotikboom getragen hat. Es gab so in den frühen 50er-Jahren durchaus noch größere Unternehmen, als Beate Uhse das da schon auf den Weg gebracht hatte, aber spätestens Mitte der 60er war sie die Marktführerin und dann auch ja bald europaweit die zentrale Frau in Sachen Erotik. Ja, und insofern kann man sagen, dass sie durchaus diese Botschaften von der freien Sexualität, die sie unmittelbar verbunden hat mit der Konsumgesellschaft, in die Bundesrepublik getragen hat.

Meyer: Frau Steinbacher, aber war nicht die eigentlich entscheidende Sexwelle dann, hing die nicht zusammen mit der Einführung der Pille Anfang der 60er-Jahre und dann mit der Verfügungsmöglichkeit für Frauen über ihre eigene Sexualität?

Steinbacher: Das hatte ich zunächst auch gedacht und mich auf die Suche gemacht, dafür Belege letztlich zu finden. Ich hatte einen sehr, sehr schönen Quellenbestand, den Oswalt Kolle mir zur Verfügung gestellt hatte, der mittlerweile leider verstorben ist. Er hat ja in den 60er-Jahren auf seine vielen Artikelserien hin sehr viele Leserbriefe erhalten, und gerade von Frauen. Und ich hatte mir gedacht, dass man aus diesen Briefen schließen könne, welche Bedeutung die Pille für die Frauen hat, eben als Instrument sexueller Befreiung, und ich muss sagen, die Pille spielte letzten Endes keine Rolle, jedenfalls vor dem Hintergrund dieser Quellenbasis kann man diesen Schluss nicht ziehen. Ich würde sogar fragen wollen, ob die Pille wirklich für die sogenannte sexuelle Befreiung eine so entscheidende Rolle gespielt hat. Man muss dazu ja auch sagen, 61 ist die Pille zwar in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt worden, das war das erste Land in Europa, das sie eingeführt hatte, aber sie ist erst so ab 65, 66 wirklich zu einem, hat wirklich Verbreitung gefunden. Sie war sehr restriktiv, sie durfte zunächst nur an verheiratete Mütter ausgegeben werden. Und erst so dann Ende der 60er-Jahre kann man wohl sagen, dass die Pille so eine Art Lifestyle-Medikament geworden ist, also per se für Freiheit und Fortschritt stand. Dass sie aber tatsächlich eine so zentrale Bedeutung für diese Frauengeneration hatte, kann man ... da wäre ich sehr vorsichtig, das so platt wirklich anzunehmen. Was ich aus den Quellen und aus diesen Briefen an Kolle weiß, waren vor allem die Klagen über die Nebenwirkungen der Pille sehr, sehr groß, und das war das große Thema in diesem Zusammenhang.

Meyer: Frau Steinbacher, wenn wir versuchen, so eine Art Fazit zu ziehen, wäre das die sexuelle Revolution in der Bundesrepublik, die wir immer eigentlich ins Jahr 1968 packen oder irgendwo da rundherum, die wäre eigentlich ohne die Sexwellen der 50er-Jahre, Stichwort Kinsey-Report, Stichwort Beate Uhse, nicht möglich gewesen?

Steinbacher: Das würde ich so sagen, ja. Also 68 waren ganz viele Schlachten ja schon geschlagen auf diesem Feld in der Auseinandersetzung um die Sittlichkeit. Was 68 passiert ist und wofür die 68er stehen, das ist eine neuerliche Kritik von links und eine politische Aufladung des Themas von links orientiertem Freudomarxismus der 20er-Jahre. "Sexuelle Revolution" ist ja der Titel des großen Kultbuches der 68er gewesen, von Wilhelm Reich, ein Buch, das er schon 1936 geschrieben hatte, das dann aber 66 erst unter dem Titel "Die sexuelle Revolution" noch einmal auf den Markt gekommen ist. Der ursprüngliche Titel lautete anders, der lautete "Die Sexualität im Klassenkampf". Also die 68er haben letzten Endes mit der Politisierung von Sexualität ja auch eine linke Konsumkritik verbunden, das war ihr gesellschaftskritischer Ansatz, und darum ging es 68 letztlich. Was genau der Terminus sexuelle Revolution meinen sollte, das war den 68ern so nicht klar, musste auch gar nicht unbedingt klar sein. Der Terminus, denke ich, eignet sich als analytischer Begriff nicht, sondern als ein historischer Begriff im Kontext des Buches von Wilhelm Reich und des Kultstatus des Reich und das sein Buch 67 gehabt hatten.

Meyer: "Wie der Sex nach Deutschland kam: Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik", so heißt das Buch von Sybille Steinbacher, erschienen im Siedler Verlag. Frau Steinbacher, vielen Dank für das Gespräch!