Sittenverfall im digitalen Schwarm

12.09.2013
In kurzen, scharfzüngigen Essays beklagen der Philosoph Byung-Chul Han und der Journalist Arno Frank anwachsende "Schwarmdummheit" und einen Verfall elementarer Umgangsformen im Internet. Aufgrund ihrer treffenden Beobachtungen fordern sie mehr Respekt und mündigere Netzbürger.
Das Internet und soziale Netzwerke wie Facebook, Google oder Twitter haben neue Kommunikationsformen hervorgebracht und damit auch die Rolle traditioneller Medien wie Zeitung und Radio verändert. Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan hat schon in den 60er-Jahren beschrieben, wie elektronische Medien unsere Wahrnehmung und unser Denken beeinflussen, und von einer "technischen Erweiterung des Bewusstseins" gesprochen.

In jüngster Zeit haben Technik-Optimisten vielfach die Chancen der "Schwarmintelligenz" beschworen. Die Grundregeln, nach denen Ameisen ihre Beutezüge koordinieren oder Fische und Vögel komplexe Schwimm- und Flugmanöver abstimmen, dienen als Vorbild für die Regelung von Verkehrs- und Datenströmen. Auch die gemeinsame Entwicklung von Ideen und die Organisation politischer Protestbewegungen sollen nach dieser Vorstellung von der Vernetzung profitieren.

Demgegenüber betonen Arno Frank und Byung-Chul Han die Schattenseiten der digitalen Kommunikation. Arno Frank, der für die Berliner Tageszeitung taz aus Wiesbaden berichtet, zeigt in seiner pointierten Polemik "Meute mit Meinung", wie sich der Journalismus unter dem Einfluss der neuen Medien verändert hat. Herkömmliche Publikationsformen unterliegen einem fragwürdigen "New Deal" zwischen Sendern und Empfängern, da Leser oder Hörer keine bloßen Empfänger mehr sein wollen.

Im Internet folgt heute jedem Artikel eine Liste von Gegenstimmen. Der Rückkanal der Kommentar-Funktion fördert nach Franks Beobachtung jedoch keinen Dialog, sondern hat eine Unkultur von "Besserwisserei, Beleidigungen und Bedrohungen" hervorgebracht. Die Mehrheit der Nutzer, so die ernüchternde Bilanz des Autors, weiß mit dem Zuwachs an Macht und Freiheit schlicht nicht umzugehen.

Online-Kommentar als "sofortige Affektabfuhr"
Anders als der klassische Leserbrief verspricht der Online-Kommentar "sofortige Affektabfuhr", schreibt Byung-Chul Han. "Das digitale Medium ist in dieser Hinsicht ein Affektmedium." Han, der an der Berliner Universität der Künste Philosophie und Kulturwissenschaft unterrichtet, beschreibt in seinem Essay "Im Schwarm. Ansichten des Digitalen", wie soziale Medien "unsere Wahrnehmung, unser Denken, unser Zusammenleben" verändern.

Dabei gelingen ihm treffende Beobachtungen im Detail. Wie schon in seinem Band "Transparenzgesellschaft" weist Han politische Utopien der sozialen Medien in die Schranken und weist die Vorstellung von einer Gesellschaft ohne Geheimnis und ohne Privatsphäre als gefährliche Illusion zurück: "Die totale Transparenz zwingt der politischen Kommunikation eine Zeitlichkeit auf, die eine langsame, langfristige Planung unmöglich macht. Es ist nicht mehr möglich, Dinge reifen zu lassen."

"Respekt", erinnert Han, "heißt wörtlich ‚Zurückblicken‘. Im respektvollen Umgang mit anderen hält man sich zurück mit neugierigem Hinsehen." Beide Autoren plädieren in ihren Positionspapieren für mehr Respekt im digitalen Schwarm. Byung-Chul Han neigt dabei insgesamt zu einer kulturpessimistischen, rückwärtsgewandten Haltung, während Arno Frank nach vorne schaut und sich dafür ausspricht, dem mündigen Netzbürger in Zukunft mehr abzuverlangen, wenn er auf Augenhöhe mitreden will.

Besprochen von Frank Kaspar

Arno Frank: Meute mit Meinung. Über die Schwarmdummheit
Kein & Aber Verlag, Zürich 2013
71 Seiten, 7,90 Euro

Byung-Chul Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013
110 Seiten, 12,80 Euro
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