Sittenbild der US-Gesellschaft

Rezensiert von Roland Krüger · 10.01.2006
Maria J. Hyland erzählt in ihrem Debüt-Roman "Schlaflos" die Geschichte einer jungen Australierin, die voller falscher Erwartungen in die USA reist. Doch dort trifft sie nicht auf eine perfekte und durchorganisiert Welt, sondern erlebt in ihrer amerikanischen Gastfamilie, dass vor allem die Fassade zählt.
Die junge Australierin Louise (Lou) Connor landet mit dem Flugzeug in Chicago. Sie wird ein Jahr als Austauschschülerin in den USA verbringen und freut sich auf ein Schuljahr, in dem sie endlich ihre verhasste Kindheit und Familie hinter sich lassen kann.

Kaum im US-amerikanischen Alltag angekommen, stellt sie fest, dass der ihre Gastfamilie umgebende glänzende Schein viele Schatten wirft: Die Hardings sind alles andere als eine perfekte Familie. Sohn James verhält sich Lou gegenüber geradezu belästigend, während sie zu Tochter Bridget überhaupt keine Beziehung aufbauen kann. Ihre Gasteltern Margret und Henry reagieren nur dann normal, solange Lou sich den ungeschriebenen Familienregeln vorbehaltlos unterwirft.

Vom ersten Tag an wird die junge Austauschschülerin von Schlaflosigkeit gequält, die sie erst mit Alkohol, später mit anderen Drogen zu betäuben versucht. Lou gerät auf ihrem Weg in die Erwachsenenwelt in einen Strudel aus pubertärem Aufbegehren, sinnlosen Vorschriften und prä-sexuellen Abenteuern.

Allen pädagogischen Bemühungen zum Trotz zeigt sich das moderne Amerika, Inbegriff für Zivilisation und Selbstverwirklichung, außerstande, die Suche eines hochbegabten Mädchens nach Liebe und Anerkennung zu fördern. Lous Aufbruch in die Freiheit endet in Angst vor der Zukunft.

Zurzeit behandeln viele Bücher das kulturelle Aufeinandertreffen verschiedener Religionen, Weltregionen oder Gesellschaften. Aber M. J. Hylands Roman wandert nuancenreicher als manch anderer zwischen kulturellen Spannungsfeldern. Eine junge Australierin kommt voller falscher Erwartungen nach Amerika und trifft dort auf eine nur vermeintlich perfekte und durchorganisierte Welt. Blütenweiße Bettlaken und reinlich getünchte Häuser stehen in krassem Gegensatz zur Realität, die sich in diesen Häusern abspielt. Einmal erlauben die Hardings den minderjährigen Jugendlichen den Genuss von Alkohol. Aber die Gasteltern sind nicht in der Lage, diesen Ausrutscher zu akzeptieren, sondern verbieten ihren Kindern und der Gasttochter sogar die Erinnerung an den fröhlichen Abend. Was für Lou in Australien gang und gäbe war – Alkoholkonsum – wird in den USA zwar auch praktiziert, aber keiner gibt es zu. Während es in ihrer wirklichen Familie in Australien ständig Streit gegeben hat, erlebt Lou in ihrer Gastfamilie zwar gewahrten Anstand aber niemals wirkliche Nähe. Alle reden zwar ständig über Gefühle, aber niemand würde es wagen, über seine wahren und aktuellen Gefühle Auskunft zu geben. Jedes Familienmitglied hat sein eigenes, schönes Zimmer, aber im gemeinsamen "Living room", in dem eigentlich gemeinsames Leben stattfinden sollte, dröhnt nur der Fernseher.

Schon die Gegenüberstellung Australien – USA steht für eine ganze Liste von Unterschieden. Anfangs sieht Lou die USA als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, während sie selbst wider Willen Australien verkörpert. Der fünfte Kontinent steht hierbei als Sinnbild für übertriebene Freizügigkeit aber auch für die Missachtung von Vorschriften, für Wildnis und sogar für Straffälligkeit, denn schließlich war Australien eine Strafkolonie, und jeder weiße Australier muss logischerweise einen Gesetzesbrecher unter seinen Vorfahren haben.

Aber der Roman beschreibt Gegensätze auch auf einer weiteren Ebene: In "Schlaflos" trifft eine Jugendliche auf die Welt der Erwachsenen. Lou bewegt sich auf dem Grat zwischen Wollen und Dürfen, zwischen Rebellion und Anpassung, zwischen Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Sie hasst ihren Körper, findet sich hässlich, nutzt aber voller Stolz ihren hellen Verstand und wachen Geist, der so ruhelos ist, dass sie ernste Schlafprobleme hat. Lou ist Heldin und Antiheldin in einem – ein literarischer Gegensatz.

"Schlaflos" ist M. J. Hylands erster Roman. Die Autorin wurde 1968 als Tochter irischer Eltern in London geboren und hatte eine schwierige Kindheit. Ihre Existenz bezeichnet sie gern als "nomadisch" – wegen familiärer Probleme und ständiger Jobsuche ihres Vaters gab es zahlreiche Umzüge. So lebte M. J. Hyland in Australien, Irland und England. Nach einer Ausbildung zur Juristin in Australien wohnt sie heute als freie Autorin in Melbourne und schreibt derzeit an ihrem zweiten Roman.

Aufgrund ihres Lebenswegs könnte man meinen, "Schlaflos" sei ein autobiographischer Roman. M. J. Hyland jedoch streitet diese Vermutung ab; allerhöchstens fünf Prozent ihrer Heldin Lou hätten autobiographische Züge, sagt sie. In den ersten Romanentwürfen war der Held sogar ein männlicher Teenager.

Dennoch steht sie auf der Seite ihrer Protagonistin. Wie Lou sieht auch die Autorin in den USA ein Land, in dem Wohlstand und heile Welt zwar zu haben aber schnell auch gefährdet sind. Hyland erzeugt Verständnis für die Eskapaden ihrer Romanfigur, lehnt jedoch – auch im Text – das Selbstzerstörerische in Lous Aktionen ab. Das Buch bezieht Stellung gegen die Todesstrafe, was die Autorin jedoch mehr als humanistische Stellungnahme denn als Kritik an Politik oder Gesellschaft in den USA verstanden wissen möchte. Hyland sieht in "Schlaflos" kein politisches Buch, gibt aber zu, dass es eine Menge über die Amerikaner sage.

Wahrscheinlich ist das auch der Grund, der den Debüt-Roman der Autorin so lesenswert macht. En passant erfährt der Leser viel über aktuelle Befindlichkeiten der so genannten westlich orientierten Welt.

Das Buch ist fesselnd geschrieben, die jugendliche Hauptperson kann herrlich-schrill, oft sehr direkt, zeitweilig aber auch philosophisch-abgehoben phantasieren. Der Roman hat Humor, seine Figuren weisen Höhen aber auch tiefe Abgründe auf.

In einer Zeit, da täglich über die Konflikte zwischen Christentum und muslimischer Welt, zwischen Arm und Reich und zwischen entwickelter und so genannter dritter Welt diskutiert wird, ist es äußerst spannend, die Nuancen eines Spannungsfelds zu beleuchten, dessen Extreme scheinbar dicht beieinander liegen. Wir stellen fest: Auch zwischen Australien und den USA können Welten liegen.

Maria J. Hyland: Schlaflos
Roman, aus dem Englischen von Ingo Herzke
Piper Verlag GmbH, München
377 Seiten, Preis: 14,00 Euro