Singen für das Gemeinschaftsgefühl

Von Camilla Hildebrandt · 21.01.2011
Der Chor der Kantorei Salzwedel bringt Gesangsbegeisterte aus Ost- und Westdeutschland zusammen. Entstanden ist er Ende der 60er-Jahre. Heute besteht der 80 bis 100 Mitglieder starke Chor aus Gesangslustigen aller Altersgruppen und bekannten Konzert-Solisten.
"Ich komme aus Zasenbeck, Niedersachsen, das ist direkt an der Grenze. Und ich hatte nach einem neuen Chor gesucht. Denn der Dorfchor, in dem ich jetzt singe, drohte sich aufzulösen. Und ich suchte nach einem Chor, der von der Qualität viel besser ist und bei dem man was lernen kann."

"Diese intensive Gemeinschaft, wie wir es hier erleben, und dass ich sonnabends sage: ich freu mich auf Montagabend, wenn wir Probe haben, das hatte ich vorher so nicht. Und dann auch die Genauigkeit der Proben, und dass sich das alles, was wir geprobt haben, bis ins kleine Detail wiederfindet in der Aufführung, das ist es, was mich begeistert."

Montagabend, 19.30, in der alten Lateinschule, rechts neben der Salzwedler Katharinenkirche. In dem alten Fachwerkhaus, 1. Etage sitzen rund 60 Sänger eng beieinander auf Holzbänken und plaudern noch eine Weile über die Ereignisse der letzten Woche, bevor es - wie gewohnt - mit Stimmübungen losgeht.

"Mmmmmmm‚ nicht jeden Ton betonen, mmmm, wir singen weiter auf so, sosososo, das o ist nicht flach und lässig wie beim Schreiben..."

Fast alle sind sich einig: das Besondere an diesem Chor? Dirigent Matthias Böhlert. Hoch konzentriert steht er vorne am Klavier und gibt genaue Anweisungen wie die Töne klingen sollen oder wer vielleicht gerade in der Tonlage etwas zu hoch gerutscht ist. Anstrengend oder zu ernst werden die Proben dadurch nie, versichert der 70-jährige Tenor Klaus Schartmann, der seit 1991 dabei ist.

Klaus Schartmann: "Unser Chorleiter lässt in den Proben Klöpse los, Wortspiele, Bilder, Vergleiche, die den Chor dermaßen zum Lachen bringen, dass die Stimmung gar nicht runtergehen kann."
Böhlert spielt die Melodie auf dem Klavier vor...

Streng sei er, ja, sagt Sopranistin Sandra, 19 Jahre, - aber eben auf freundliche Art und Weise.

Sandra: "Er achtet sehr darauf, dass nicht geflüstert wird, dass die Seiten nicht so rascheln, dass an der richtigen Stelle geatmet wird und all so was. Wenn 20 Leute alle zusammen blättern, wo das Orchester still ist, dann stört das doch sehr."

Böhlert: "...entweder jetzt blättern, oder jetzt, wenn ich spiele...”"

Matthias Böhlert übernahm den Chor vor 25 Jahren. Damals hatte er gerade sein A-Examen in Halle abgeschlossen, das heißt sechs Jahre Kirchenmusikstudium. Den Chor kannte er durch ein Praktikum bei seinem Vorgänger, Kantor Joachim Barthels, - aber, dass er so bald hierher ziehen sollte, war nicht abzusehen, erzählt der heute 52-Jährige in einer kurzen Pause. Bis er eine Karte vom Kantor erhielt.

" "Das war Ende 1983: sie gehen weg, sie konnten auf dieser Karte nicht schreiben, dass sie in den Westen gingen. Aber das erfuhr ich dann hier, und die Stelle wurde frei."

Natürlich interessierte ihn in Salzwedel der damals noch recht kleine Chor, der nur ein Mal im Monat probte, aber vor allem: die neue Orgel.

Böhlert: "Und man merkte hier, dass Gemeinde aufgebaut wird und, dass alles einem hohen Anspruch unterliegt. Und es gab die Friedensgebete schon, die ja später dann zur Wende führten, was man aber damals noch nicht wusste..."

Und er wollte die Arbeit seines Vorgänger fortsetzen: Oratorien aufführen.

Herr Simon: "Ich versteh den Chor auch als eine Gemeinschaft von Leuten, die versuchen, ihr Christenleben zu gestalten. Und da spielt es natürlich eine Rolle, dass wir, bevor wir zu einer Aufführung gehen, uns im Gebet sammeln und Kraft suchen, dass wir das auch können, was wir machen."

Mit der Wende wurde der Chor schließlich zu dem, was er heute ist, ein fast professioneller Chor, meint Böhlert begeistert.

Der erste "West-Sänger" kam 1991.

Böhlert: "Und 1992 kam ein ganz großer Schwung aus dem Hannoverschen Wendland. Wir haben wirklich ab da einen Chor Ost-West, 50/50. Hier an dieser Stelle ist die Einheit gelungen."

Das Repertoire der Kantorei Salzwedel umfasst heute Werke wie Bachs "Johannespassion" und Mozarts "Krönungsmesse". Und seit 17 Jahren begleiten Orchestermitglieder der Komischen Oper Berlin die zwei Konzerte pro Jahr. Der subjektive Ost-West-Vergleich? Sehr beachtlich, meint Klaus Schartmann, der nach 45 Jahren Rheinland in die Heimat seiner Frau gezogen ist.

"Wir sind in Siegburg mit Musikern des Beethoven Orchesters versorgt worden, hier werden wir mit Musikern von der Komischen Oper versorgt. Und das ist ein Unterschied, muss ich sagen. Schon alleine die Lustlosigkeit dieser alten Herren (lachen), die war immer schon bemerkenswert. Und hier haben wir eine frische, fröhliche Truppe, die sich immer von Berlin auf den Weg macht und uns in großen Chorwerken begleitet."


Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.