Sind wir in guter Verfassung?

Zu Gast: Dr. Lore-Maria Peschel-Gutzeit und Prof. Dr. Paul Kirchhof · 23.05.2009
Ein Festwochenende steht bevor: 60 Jahre Grundgesetz - 60 Jahre Bundesrepublik. Zwei Zeitzeugen, die diese Jahrzehnte mit erlebt und die Rechtsprechung mit gestaltet haben, sind unsere Gäste bei "Radiofeuilleton - Im Gespräch": Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit (Jahrgang 1932) zählt zu den profiliertesten Juristinnen des Landes: Sie war Justizsenatorin in Berlin und Hamburg und hat sich auch als Anwältin und Richterin zeitlebens für die Durchsetzung der Grundrechte stark gemacht.
"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es es gibt keinen wichtigeren Artikel, den kann man nicht toppen, das ist sozusagen, die Krone der Schöpfung. Oder Art. 2 – das ist eine echtes Freiheitsrecht, Art. 3 die Gleichbehandlung! Das sind Artikel, die aus der Französischen Revolution stammen und aus der amerikanischen Verfassung. Dann die garantierte Religionsfreiheit, die garantierte Meinungsfreiheit – das ist doch etwas, was nicht hoch genug einzuschätzen ist!."

60 Jahre Grundgesetz ist für sie ein Grund zum Feiern – gerade wegen der Vergangenheit der Deutschen: "Es ist eine phantastische Verfassung, aber was mich noch mehr erfreut ist, dass sie lebendig ist, dass sie gelebt wird. Das konnte man sich 1949 nicht vorstellen. Ich komme aus einer Diktatur, bin Kind der Nazis, wir wurden zwangsweise erzogen zu Demokraten, wurden Kinder der Reeducation. Ich habe erlebt, wie ein Staat zusammen gebrochen ist, es gab keine Ärzte mehr, keine Verwaltungsbehörden, keine Schulen, man war vollständig auf sich geworfen. Und in dieser Situation bekamen wir vorgeführt, welche Gräuel die Nazis begangen hatten. Und da habe ich mir gesagt, ´Ich lass` mich nie wieder täuschen. Ich muss einen Beruf lernen, der es mir erlaubt, Dinge zu beurteilen, ob sie recht oder unrecht sind.`"
Prof. Dr. Paul Kirchhof war sechs Jahre alt, als das Grundgesetz in Kraft trat. Als Sohn eines Verfassungsrichters war ihm die Juristerei quasi in die Wiege gelegt.
Der bekannte Verfassungs- und Steuerrechtler war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. Als designierter Finanzminister von Angela Merkel sorgte er 2005 mit seinen Vorschlägen zur Vereinfachung des Steuerrechts für Schlagzeilen.

Für ihn ist das Grundgesetz ein "verkannter Glücksfall": "Dieses Grundgesetz bietet jedem Bürger die rechtliche Chance, sein Glück zu suchen und zu finden."

Jeder Bürger könne diese Rechte einfordern und individuell einklagen – betont der ehemalige Verfassungsrichter. Das verkenne jeder, der derzeit darüber rede, ob man das Grundgesetz nicht durch eine neue Verfassung ersetzen solle. Damit stelle man viele bewährte Errungenschaften zur Disposition. Der heutige Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg warnt auch davor, das Grundgesetz durch immer neue Gesetzesänderungen und Zusätze zu überfrachten:

"Im Steuerrecht gibt es um die 63.000 Normen, die kann keiner kennen." Auch er nicht als Steuerrechtler … Ähnliches passiere im Finanzrecht oder auch im Sozialgesetzbuch.

Seine Überzeugung: "Geschriebenes Recht verfehlt seinen Sinn, wenn es die Köpfe der Bürger nicht erreicht."

Diese Gesetzesflut überfordere letztlich den Bürger, er verliere das Interesse am Staat. Seine Mahnung: "Nur der informierte Bürger kann am Ende sein Wahlrecht ausüben. Wenn er das unterlässt, ist es sein Problem. Nur, wenn er desinfomiert wird, ist das eine grobe Fehlentwicklung. Dann geht die Demokratie flöten."


"Sind wir in guter Verfassung? 60 Jahre Grundgesetz" - darüber diskutiert Matthias Hanselmann heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit Lore-Maria Peschel-Gutzeit und Paul Kirchhof. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 – 2254 2254 und per E-Mail gespraech@dradio.de.


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