Simplify your moral: Moralize your life!

Von Reinhard Mohr · 26.01.2011
Es gibt gute Gründe, die Massentierhaltung zu kritisieren und auf massive Veränderungen zu drängen. Doch der Furor, mit dem gegenwärtig das Gewissen der Currywurst essenden Menschheit aufgerüttelt werden soll, irritiert dann doch ein wenig.
Früher war es ganz einfach. Man war ein anständiger Kerl, ein guter Mensch, eine treue Seele. Ob Mann oder Frau – die zehn Gebote reichten als Richtschnur des Handelns. Zugleich wusste jeder, dass Neid, Missgunst, Eifersucht, ja sogar Mord und Totschlag damit nicht aus der Welt waren. Im Gegenteil. Oft erwiesen sich die größten Moralprediger als die schlimmsten Verbrecher. Heuchelei und Scheinheiligkeit waren wie Bruder und Schwester aller guten Absichten. Voltaires "Candide" grüßt seit 250 Jahren aus der besten aller Welten.

Dann kam die Revolte von 1968, in der die Moral bis in den hintersten Winkel der Existenz politisiert wurde. Alles musste auf den Prüfstand, alles musste diskutiert und gerechtfertigt werden. Kritik und Selbstkritik, ja Selbstbezichtigung bis an die Grenze zum mittelalterlichen Autodafé: Schwöre ab, bekämpfe Deinen inneren Teufel wie den kapitalistischen Ausbeuter, den alten bürgerlichen Schweinehund! Es gab nur einen Weg: Die Revolution musste das Böse aus der Welt tilgen. Allein, der reinigende Aufstand der Massen blieb aus, und so trieb das Böse weiter sein Unwesen.

In den 80er-Jahren versuchte man es auf die sanfte Art. Jetzt ging es um einen moralischen Nominalismus: Es kommt auf die richtigen Worte an, um das Gute zu befördern. Politische Korrektheit hieß, die Dinge bei dem Namen zu nennen, der die wünschenswerte Zukunft schon in der Gegenwart simulierte. Die Gleichstellungsbeauftragte sorgte für Gleichheit und der Integrationsbeauftragte für Integration.

Im Lauf der Zeit hat sich diese Methode allerdings etwas abgenutzt. Viel besser ist die Welt nicht geworden. Deshalb heißt die revolutionäre Parole nun wieder: Lasst den Worten Taten folgen! "Empört Euch!", ruft der 93-jährige Franzose Stéphane Hessel uns allen zu. Macht endlich was! Rafft Euch auf, verändert die Welt!

Bitte, gerne, selbstverständlich, aber wo anfangen? Seit es um die Globalisierungskritiker von "attac" ziemlich still geworden ist, sind wir um ein weiteres Beispiel dafür reicher, wie schwierig es ist, dem Guten, Schönen, Richtigen und Wahren in einer komplizierten, schwer durchschaubaren Welt dauerhaft zum Siege zu verhelfen. Ein Blick quer durch die Kontinente – von Iran bis Tunesien, vom Sudan bis Weißrussland, von Afghanistan bis Haiti – zeigt es schmerzlich. Und bei uns ist, nach 10.000 Jahren Ackerbau und Viehzucht, noch nicht einmal die Frage gelöst, was genau ins Futtermittel für Hühner und Schweine darf und was nicht.

Exakt hier setzt nun eine neue Bewegung für das Gute an, die aus der Geschichte eines gelernt hat: Macht es Euch nicht zu schwer! Überfordert Euch nicht! Konzentriert Euch auf einen Punkt, auf eine Sache! Simplify your life – das war gestern. Jetzt heißt es: Simplify your moral, moralize your life!

Der entscheidende Schritt zur Komplexitätsreduktion ist ein wahrer Paradigmenwechsel. Statt anständig leben heißt es jetzt: "Anständig essen". Der aktuelle Bestseller von Karen Duve trifft die moralische Wahrheit ganz konkret im Suppenteller. Er beginnt mit dem Satz: "Der Tag, an dem ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden." Frei nach Theodor W. Adorno dekretiert die Mutter Beimer der Fleischlosigkeit: Es gibt kein richtiges Essen im falschen! Wer tote Tiere isst, versündigt sich an der Schöpfung. Veganer gehen noch konsequenter vor und essen weder Fisch noch Fleisch, weder Käse noch Eier, und natürlich tragen sie weder Lederschuhe noch Lederjacken und schon gar keine Ledergürtel. Ethisch übertroffen werden sie nur von Frutariern, die sich allein von solchen Pflanzen ernähren wollen, die die Natur gleichsam freiwillig hergibt. Für sie ist schon ein stehendes Maisfeld ein Verbrechen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Es gibt gute Gründe, die vorherrschende Massentierhaltung zu kritisieren und auf massive Veränderungen zu drängen. Doch der Furor und die Absolutheit, mit denen gegenwärtig das Gewissen der Currywurst essenden Menschheit aufgerüttelt werden soll, irritiert dann doch ein wenig. Allein die prominente Liste bekennender Vegetarier – von Dschungelcamp-"Nervnatter" Sarah bis zu Boris Becker, von Dirk Bach bis Pamela Anderson – macht stutzig. Jenseits der Verzehrfrage sind die Fleischverächter noch nicht als Exponenten einer moralischen Lebensführung im Sinne Immanuel Kants aufgefallen.

"Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne!", hatte der große deutsche Philosoph des Idealismus gefordert. Zugegeben: Tiere fielen nicht unbedingt unter dieses Prinzip. Als Kant sich durch das ständige Krähen eines Hahns in seiner unmittelbaren Umgebung gestört fühlte, kaufte er seinem Nachbarn das störrische Federvieh ab und ließ es umgehend in den Kochtopf expedieren.

Mag sein, dass Kants Moralphilosophie noch einmal auf den vegetarischen Prüfstand muss. Doch die Befreiung der Menschheit aus dem Geist der Gemüsepfanne ist ungefähr so viel versprechend wie die 100 nächsten Versuche von Gesine Lötzsch, den goldenen Weg zum Kommunismus zu finden.

Glauben Sie’s mir.

Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für "Spiegel Online" und war langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".
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