"Sigurd" am Theater Erfurt

Großartige französische Variante des "Nibelungen-Ring"

Marc Heller (Sigurd) und Ilia Papandreou (Brunehild) in der Oper "Sigurd" am Theater in Erfurt.
Marc Heller (Sigurd) und Ilia Papandreou (Brunehild) in der Oper "Sigurd" am Theater in Erfurt. © picture alliance / dpa / Foto: Michael Reichel
Dieter David Scholz im Gespräch mit Britta Bürger · 30.01.2015
Sie galt als vergessen - die Oper "Sigurd" des französischen Komponisten Ernest Reyer. Dabei war sie an der Pariser Oper einst ein Erfolg. Gegen Richard Wagners Version hatte sie jedoch hierzulande keine Chance. Jetzt feiert "Sigurd" am Theater Erfurt Deutschlandpremiere.
Am Theater Erfurt wurde eine vergessene Oper ausgegraben – und zum ersten Mal in Deutschland gezeigt – die 1884 in Brüssel ihre Uraufführung erlebte, an einigen Theatern Europas nachgespielt wurde, an der Pariser Oper zwischen 1890 und 1935 immerhin 252 Aufführungen erlebte, dann aber in Vergessenheit geriet. Kein Wunder, es handelt sich um nichts weniger als den quasi "französischen Nibelungen-Ring" an einem Abend. Der hatte nur schwer eine Chance gegen Richard Wagner. Der Komponist heißt Ernest Reyer, seine Oper in vier Akten "Sigurd“. Für uns war in der Premiere Dieter David Scholz.
Britta Bürger: Herr Scholz, Wagners "Ring" auf Französisch, von einem französischen Komponisten komponiert, wie hört sich das denn an? Klingt das nach Wagner?
Dieter David Scholz: Nein, ganz und gar nicht. Es klingt eher nach Berlioz, was die Orchestrierung angeht. Aber Reyer verfügt auch über die exotische Klangfarben-Raffinesse eines Camille Saint-Saens und die Üppigkeit und Süße Gounods, was die Vokalpartien angeht. Also eine durch und durch französische Oper, kompositorisch auf der Höhe ihrer Zeit, der Komponist Reyer war mit allen Wassern gewaschen. Große Blechbläserbesetzung. Es gibt Bühnenmusiken. Es ist übrigens eine Nummernoper mit Arien, Chören, Duetten, Finali und Orchesterstücken, das sind vor allem zwei Ballette, die man allerdings in Erfurt gestrichen hat, auch einiges andere mehr, sodass das vieraktige Stück inklusive Pause auf nicht mehr als drei Stunden kommt. Das ist publikumsfreundlich und tut dem Stück gut. Es wird dadurch stringenter.
Bürger: Wer war denn dieser Ernest Reyer eigentlich?
Scholz: Reyer war gebürtiger Marseillaiser, war eigentlich Musikkritiker, am renommierten Journal des Débats, dort war er als solcher der Nachfolger von Berlioz in der Funktion als Chefkritiker. Nebenher hat er komponiert. Das heißt, eigentlich wollte er hauptberuflich Komponist sein, die Journalistik war sein Broterwerb. Mit der Oper "Sigurd" ging Reyer 20 Jahre schwanger. Seit den 1860er-Jahren arbeitete er an diesem Werk, ohne auch nur zu ahnen, dass ein gewisser Richard Wagner in Deutschland bzw. in der Schweiz gleichzeitig an einer Vertonung des gleichen Stoffs arbeitete. Brüssel wagte erst ein Jahr nach Wagners Tod die Uraufführung. Ab 1885 spielte man das Stück auch an der Pariser Oper, und zwar kontinuierlich bis 1935, als Paradestück für Heldentenöre und hochdramatische Soprane.
Bürger: Die ausufernde Handlung der Wagnerschen Tetralogie, die schließlich vier Abende umspannte kennen wir. Wie hat Reyer diesen Stoff so zusammengerafft, dass er in eine Oper passt, wenn auch von vierstündiger Dauer?
"Alles, was bei Wagner im Rheingold passiert, ist bei Reyer ausgespart"
Scholz: Reyer hat sich ganz auf das Siegfried-Drama konzentriert. Also auf das, was sich zwischen Siegfrieds Auftreten am Burgundischen Hof und seinem Tod abspielt. Ohne alle Vorgeschichte, also man erfährt nichts von den Rheintöchtern, nichts von den Nibelungen, es gibt keinen Drachenkampf und nichts von den Eltern Siegfrieds, also Siegmund und Sieglinde. Auch Wotan bzw. Odin, wie er bei Reyer heißt, tritt nicht auf. Alles, was bei Wagner im Rheingold und in der Walküre passiert, ist bei Reyer ausgespart. Aber er verzichtet auch auf alle Abschweifungen ins Mythologische, Gesellschaftskritische, Vorfreudianische oder Soziolautopistisch-Politische, was ja bei Wagner sehr viel Raum einnimmt. Reyer bzw. seine Librettisten, der berühmte Emile du Locle und Alfred Blau haben aus dem Nibelungenlied, der Edda und der Völsungasage eine Art historische Oper entworfen, die ganz geradlinig das Leben und Sterben des Helden Siegfried nacherzählt, alles das, was man auch bei Wagner erfährt, wenn auch mit einigen – kleineren – Unterschieden, wo Reyer konkreter dem mittelalterlichen Nibelungenlied folgt als Wagner. Er bleibt näher an der Vorlage dran als Wagner. Das Stück endet trotz der Apotheose Siegfrieds und Brunehildes, die in Odins Paradies aufsteigen, mit der Vernichtung von Gunthers Reich durch Attila.
Bürger: Es ist ein ehrgeiziges Unternehmen, an einem Haus wie Erfurt diese große Nibelungen-Grand Opéra heute zu geben. Auch szenisch. Mit welcher Inszenierungsidee ist der Chef des Hauses, Generalintendant Guy Montavon an das Stück herangetreten?
Scholz: Guy Montavon hat sich eines Tricks bedient: Er lässt das eigentliche Drama als Traum Hildas, der Schwester Gunthers spielen. Sie liegt auf der Vorbühne in einem Krankenbett als sich windende Hysterikerin, die von einem Sigurd-Helden träumt. Sie ist eine traumatisierte Frau, die offenbar von Soldaten missbraucht wurde. Das wird angedeutet in einer der nachfolgenden Szenen. Die Bühne zeigt das zerstörte Worms von 1945. Auch der Zweite Weltkrieg hat Worms ja noch einmal zerstört, sowie 1500 Jahre zuvor Attila es niedergebrannt hatte. Und durch diese Rahmenhandlung abgesichert, gestattet es sich Montavon, die Traumszenen quasi historisch zu inszenieren, mit prachtvollen Island-Prospekten, einem fliegenden Wikingerschiff, in dem die schlafende Brunehild liegt und mit allerhand pyro- und bühnentechnischen Effekten und Verwandlungen. Sigurd und Brunehilde treten in den Uraufführungskostümen auf, in Silberrüstung mit Brünne und Schwanenflügel-Helm als Reverenz an den französischen Historismus der Grand Opéra. Im Schlusstableau krönen Regisseur Guy Montavon und sein Ausstatter Maurizio Baló ihre Inszenierung, indem sie die Apotheose Sigurds und Brunehildes auf dem Helm einer Monumentalstatue Attilas zeigen, die aus dem Bühnenboden gen Himmel auffährt. Ein starkes Schlussbild.
Bürger: Wie ist denn die musikalische und sängerische Qualität der Produktion. Lohnt es sich, nach Erfurt zu fahren, um dieses selten gespielte Werk zu sehen und zu hören?
Scholz: Ja, unbedingt. Man hat in Erfurt Sänger zur Verfügung, die den fünf Hauptpartien auf beeindruckende Weise gerecht werden. Herausragend ein neuer Heldentenor, Marc Heller. Er wirft als Sigurd mit hohen Cs, Hs und Bs nur so um sich. Auch Ilia Papandreou, die Haus-Hochdramatische in Erfurt, singt die Brunehilde fabelhaft und sieht auch noch fabelhaft aus. Der Opernchor des Theaters Erfurt, der mit Mitgliedern des Philharmonischen Chores Erfurt aufgestockt wurde, singt sehr respektabel. Das Philharmonische Orchester Erfurt ist mit Musikern der Thüringen Philharmonie Gotha erweitert worden. Ein Riesenapparat, den die neue, junge Musikchefin des Theaters Erfurt, die Dirigentin Joana Mallwitz, souverän und energisch leitet. Sie hat die Zügel sicher in der Hand, sorgt für glitzernde Klangpracht, vorwärtsdrängende Dramatik, lässt es auch schon mal ordentlich krachen und trägt die Sänger sicher auch durch die wunderbar filigranen, lyrischen Passagen. Eine großer Abend und eine Produktion, die man gesehen und gehört haben muss, schon, um das zu Unrecht so selten gespielte Ausnahmewerk kennenzulernen. Aber man lernt auch etwas über Wagner hinzu, wie er sich musikalisch bei seinen Vorgängern – Berlioz vor allem – bediente, und wo er vom Nibelungenlied abweicht, und was er alles hinzugefügt hat.
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