Sigmund Freud

Der Seelenforscher

Der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud kurz nach seiner Ankunft in London am 6. Juni 1938.
Der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud kurz nach seiner Ankunft in London am 6. Juni 1938. © AFP
Von Martin Tschechne · 23.09.2014
Sigmund Freud ist der Vater der Psychoanalyse. Die Freudschen Begriffe Libido, Ödipuskomplex, Über-Ich oder Lustprinzip erhitzen bis heute die Gemüter. Freud starb am 23. September 1939, heute vor 75 Jahren, im Londoner Exil.
"I started my professional activity as a neurologist trying to bring (…)"
London, im Dezember 1938: Vor den Mikrofonen der BBC macht einer dem Gastland seine Aufwartung. Er ist 82, Jude, den Nazis in seiner Heimatstadt Wien gerade noch entkommen. Ich begann meine berufliche Laufbahn als Neurologe", fängt er also an. Die Stimme ist brüchig; er tut sich schwer mit der fremden Sprache - dabei ist er längst weltberühmt als Literat und Forscher, der dem Menschenbild seiner Epoche ein ganz und gar neues Koordinatensystem gegeben hat: die Psychoanalyse. Sein Name ist Sigmund Freud.
"My name is Sigmund Freud."
Er sei zum Sterben nach England gekommen, wird er noch sagen. Lange schon litt der notorische Zigarrenraucher an Gaumen- und Zungenkrebs. Jetzt hatte er nur noch wenige Monate zu leben; den Zeitpunkt seines Todes durch eine Überdosis Morphium bestimmte er selbst: Freud starb am 23. September 1939.
"Die Flüchtigkeit des Seelischen festzuhalten, und das mit einer theoretischen und wissenschaftlichen Würde zu versehen - das hat keiner vorher erbracht", sagt Michael Buchholz.
Doch die Würde, die der in Berlin lehrende Psychoanalytiker dem Begründer seiner Disziplin attestiert, war von Anfang an umstritten. Freud hatte seinen Zeitgenossen im ausgehenden 19. Jahrhundert viel zugemutet - und das nicht nur den Damen und Herren der Wiener Gesellschaft, die er auf seiner bald schon legendären Couch von ihren Neurosen kurierte, indem er sie die Traumata ihrer Kindheit nacherleben ließ: das Sehnen nach wärmender Mutterliebe, die Kälte der Moral, die Strenge der Väter, Heimlichkeit, Strafe, eine verklemmte Sexualität.
Das Über-Ich hebt den Zeigefinger
Auch die Kollegen aus der Wissenschaft düpierte der Nervenarzt nachhaltig, indem er ihrem frisch erwachten Streben nach sauberer Mechanik ein Modell entgegensetzte, demzufolge unter einer nur dünnen Schicht von Vernunft und Konvention dunkle und geheimnisvolle Triebe das Seelenleben beherrschten.
Der Psychoanalytiker und Gesellschaftskritiker Alexander Mitscherlich sah Freud als einen, der das ganze positivistische Menschenbild der Moderne in Wanken brachte.
"Historisch würde man sagen, die erste Provokation war doch die Provokation, die mit der Sexualität zusammenhing. Also in der viktorianischen Epoche von der Sexualität als einer Naturgewalt zu sprechen, war offenbar etwas, was der herrschenden Ideologie genau gegen den Strich ging."
So lehrte es Freud, und so ging es ein in die Alltags-Psychologie: Wir sprechen von Trieben und Libido, von Lustprinzip, Verdrängung, Narzissmus und Ödipuskomplex, vom Unbewussten, das uns verführt, und vom Über-Ich, das immer, wenn es schön wird, den Zeigefinger hebt.
Psychoanalyse eine Gestalt der Philosophie
Bis die Neurowissenschaft entdeckte, dass Sigmund Freud mit der Psychoanalyse der modernen Hirnforschung ein paar wichtige grundlegende Erkenntnisse vorgegeben hatte. Es seien vier, sagt der in Bielefeld lehrende Psycho-Physiologe Hans Joachim Markowitsch:
"Erstens, dass mentale Zustände großteils unbewusst sind, zweitens, dass mentale Zustände eine neurale Basis haben, drittens: Kognition und Emotion lassen sich nicht trennen, und viertens: Die biologischen und die Humanwissenschaft müssen voneinander lernen."
Was also bleibt? Die Erkenntnis, dass sich frühe Erfahrungen ins Gedächtnis einschreiben, auch wenn sie später nicht bewusst sind. Oder allgemein: dass der Mensch zwar ein Produkt seiner Umgebung ist, aber vor allem einer, so Michael Buchholz, der die Geheimnisse seiner Existenz zu ergründen sucht.
"In der Psychoanalyse geht es noch um etwas anderes, nämlich: dem Funktionieren des eigenen Geistes zuzuschauen. Und das setzt die Entwicklung eines höheren Beobachtungsstandpunktes dem eigenen Selbst gegenüber voraus, und wenn man jetzt noch mal dazu nähme, dass das Denken des Denkens eigentlich ein alter Name für die Philosophie ist, dann würden wir an dieser Stelle zurückkehren können zu dem Kreis, der sich dann schließt, dass die Psychoanalyse eine Gestalt sozusagen der Philosophie ist."
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