Sieg über sich selbst

09.10.2006
Den Frankfurter Soziologen, Philosophen und Germanisten Helmut Dubiel trifft die Parkinson-Krankheit mit 46 Jahren auf dem Höhepunkt seiner akademischen Karriere: Erst nach Jahren der Verdrängung, Lüge und Verzweiflung entschließt er sich, mit Hilfe der Apparatemedizin und mit bis zu 30 Tabletten pro Tag den Kampf gegen die Krankheit aufzunehmen. "Tief im Hirn" heißt der schonungslose Bericht, der vom Sieg über sich selbst erzählt.
Der Morbus Parkinson, die Parkinson’sche Krankheit, zu deutsch auch oft "Schüttellähmung" genannt, ist entgegen weit verbreiteter Annahme weder eine moderne Zivilisationskrankheit noch ein tödliches Altersgebrechen. Die Diagnose Parkinson bedeutet nicht den baldigen Tod, jedoch einen tiefen Einschnitt in das bisherige Leben. Denn die Medizin kann das Leiden nur lindern, sein Fortschreiten lediglich bremsen. Die Stärke der Symptome variiert erheblich von einem Patienten zum anderen. Aber immer bleibt es bei der sogenannten Parkinson-Trias von Akinese, Rigor und Tremor.
"Tremor bezeichnet das Zittern der Hände in Ruhestellung, Rigor die Versteifung der gesamten Körpermuskulatur und Akinese die Verarmung aller Bewegungen des Körpers. In ihren frühen Stadien ist die Ausprägung aller dieser Merkmale noch sehr individuell verteilt. Im Laufe der Jahre jedoch gleicht sich die Ausprägung dieser Merkmale immer mehr an, sodass man den Eindruck gewinnen mag, die Kranken seien allesamt untereinander verwandt."

Das schreibt der Giessener Soziologie-Professor Helmut Dubiel in seinem gerade erschienenen Essay "Tief im Hirn", in dem er berichtet, wie er erkrankte, wie er verdrängte, wie er verzweifelte und wie er endlich lernte, mit seiner Krankheit weiterzuleben. In seinem Fall schlägt die sogenannte Alterskrankheit schon zu, als er 46 ist, auf dem Höhepunkt seiner akademischen Karriere. Er soll die Leitung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung übernehmen, des einstigen Arbeits- und Tummelplatzes der Adorno und Horkheimer. Als er die ersten Symptome an sich ausmacht, ahnt er bereits, was mit ihm geschehen ist. Von nun an beobachtet Helmut Dubiel mit steigendem Mistrauen seine zunehmenden körperlichen und seelischen Defizite - belügt der Wissenschaftler sich und seine Freunde, obwohl er nach der Lektüre von Fachbüchern längst wissen muss, was ihm fehlt. Als er schließlich - und viel zu spät - die Fachärzte aufsucht, heißt die Diagnose nüchtern, schnell und hart:: Parkinson! - Ende eines Lebensplans!

"So hätte ich mich gern gesehen: viril und lebenstüchtig, ein Mann, der zu den Sternen aufblickt und doch mit beiden Beinen auf der Erde steht."

Wie gesagt: Eine ursächliche Behandlung gibt es noch nicht, jedoch kann das Fortschreiten des Parkinson verlangsamt werden. Wobei im Mittelpunkt nach wie vor eine sehr individuell zugeschnittene medikamentöse Therapie mit bis zu sechs verschiedenen Wirkstoffen mehrfach täglich steht. Dagegen ist die Transplantation von fetalen Nervenzellen ins Gehirn, die helfen sollen, die Produktion von körpereigenen Signalübertragungsstoffen für die Steuerung von Bewegung und Mimik anzuregen, wenig erfolgversprechend verlaufen. Bleibt also bei schwerer Parkinson-Krankheit in Einzelfällen eine operative Therapie - wie auch im Falle Dubiel.

"Bei der Tiefenhirnstimulation werden über kleine Bohrlöcher im Schädel elektrische Sonden ins Tiefenhirn eingeführt. Diese Sonden werden über einen Impulsgeber gesteuert, eine Art Hirnschrittmacher, der unter dem Schlüsselbein eingepflanzt wird."

Der kann nun per Impuls selbst entscheiden ob er lieber sprechen will; dann erkauft er das durch Unbeweglichkeit. Oder er will stehen und laufen; dann ist seine Sprache fast nicht mehr zu verstehen. Wenn Freunde und Bekannte fragen, ob er nicht nur für die Pest die Cholera eingetauscht hätte , besteht er jedoch darauf, dass die Operation ein Erfolg gewesen sei:

"Mein Tremor war verschwunden, ebenso wie die quälend gewordenen Überbewegungen. Meine Bewegungen waren flüssig und locker. Die Tabletten konnten drastisch reduziert werden."

Was an Dubiels schmalem Essay fasziniert und bestürzt, das ist die schonungslose und distanzierte Beschreibung seiner Krankheit. Und die intellektuelle Reflexion seiner eigenen Rolle dabei: als Opfer wie als Täter. Wobei der Patient als Sozialwissenschaftler diese Beschreibung ausweitet zu kleinen kritischen Gesellschaftsanalysen: Wie lebt es sich in einer permanenten Risikogesellschaft?

Wie funktioniert die Stigmatisierung von Kranken, gar von unheilbar Kranken? Wie kann eine Liebesbeziehung mit lebenslanger Behinderung umgehen? Wo verlaufen die Grenzen von Apparatemedizin oder der klinischen Erprobung neuer Arzneien? - Das Buch, das sehr anzurühren vermag, lässt an den Satz von Albert Camus denken ...

"... Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen!"

Im Epilog zu seinem Buch schreibt Helmut Dubiel ganz in diesem Sinne:

"Ich habe mich in den letzten Monaten – mit einigem Erfolg - darum bemüht, die positiven Bestände meines Lebens zu sichern, statt zu beklagen, was ich nicht mehr habe oder kann. Ich muss mich freilich damit abfinden, dass ich als Behinderter gelte. ... Aber das Wissen um die Offenheit des Lebens, die Ahnung, dass hinter der nächsten Bergkette, hinter der nächsten Wegbiegung noch ein unbekanntes Land liegt, ist eine Bedingung des Glücks."

Rezensiert von Jochen R. Klicker

Helmut Dubiel:
Tief im Hirn

Verlag Antje Kunstmann, München 2006
142 Seiten, 14,90 Euro