"Sie versuchten das immer wieder von sich wegzuschieben"

Robert Jay Lifton im Gespräch mit Joachim Scholl · 18.11.2009
Der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton hat vor über 20 Jahren die Rolle der Ärzte im Dritten Reich untersucht. Er sei bei seinen Gesprächen mit den Medizinern überrascht worden, "dass kein Einziger auch nur ein klares Bekenntnis ablegen konnte", sagte Lifton, über den ab Dezember die Dokumentation "Wenn Ärzte töten" in den deutschen Kinos zu sehen ist.
Joachim Scholl: "Zum Nutzen der Kranken soll ich wirken, mich davon fernhalten, Verordnungen zu treffen zu verderblichem Schaden und Unrecht." So heißt es im Eid des Hippokrates, und diesen Eid geschworen hat auch das Heer der deutschen Ärzte, die in den Vernichtungslagern Abertausende Menschen töteten – durch Gas, durch Giftspritzen, durch grausame medizinische Experimente. Wie konnte es geschehen, dass Ärzte zu Mördern werden?

Das hat sich der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton gefragt und erstmals die psychologischen Hintergründe solcher Verbrechen beleuchtet. 1988 erschien auf Deutsch sein Standardwerk "Ärzte im Dritten Reich", ein Buch, das auch auf Interviews mit ehemaligen KZ-Ärzten basiert, über 40 von ihnen hat Robert Jay Lifton befragt. Jetzt kommt ein Film über den Psychiater und seine Arbeit in die deutschen Kinos, "Wenn Ärzte töten", so der Titel der Dokumentation. Robert Jay Lifton war im Deutschlandradio Kultur auch zu Gast bei uns, und ich habe ihn zunächst gefragt, wie er es überhaupt ausgehalten hat, Ärzten gegenüberzusitzen, die nichts anderes als Mörder waren.

Robert Jay Lifton: Dadurch, dass ich arbeitete, mir war immer klar, dies ist eine wichtige Leistung, die ich da erbringe. In meinem Gefühlsleben habe ich natürlich schwere Momente erlebt, aber mich hat immer die Einsicht getragen, dass ich durch mein Buch das letzte Wort behalten würde. Das Buch war sozusagen die Revanche des Geistesarbeiters.

Scholl: Man muss an dieser Stelle betonen, dass die meisten dieser Ärzte juristisch nicht belangt wurden, nach dem Krieg unbehelligt weiterpraktizierten. Das ist ein eigener Skandal deutscher Geschichte. Sie, Herr Lifton, haben den Ärzten Vertraulichkeit zusichern müssen, sonst hätten sie gar nicht mit Ihnen gesprochen. Haben diese Mediziner in den Gesprächen eigentlich ein Bewusstsein von Unrecht oder von Schuld gezeigt?

Lifton: Keiner dieser Ärzte, mit denen ich sprach, hat je ein Geständnis gebracht, etwa im Sinne von "es war böse, es war schlecht, was ich gemacht habe". Diese Ärzte hatten allesamt nicht die seelische Fähigkeit, das einzugestehen. Ich habe damals viele Gespräche mit Alexander Mitscherlich geführt, der mein Freund war und der der Erste war, der das Unrecht der Ärzte in der Naziherrschaft ausgedrückt hatte, von den Nürnberger Prozessen an. Und er vertritt die Meinung, dass seine Generation nicht die Größe aufbringen könne, das ganze Ausmaß des Schreckens einzugestehen, weil man einfach es nicht vor sich selbst eingestehen konnte, dass man Teil dieses bösen Geschehens war. Einige Male haben die Ärzte indirekt etwas zugegeben, indem sie über ihre Nachkriegsgeschichte eine gewisse Genugtuung ausdrückten.

So hat etwa ein Doktor gesagt: Ich bin glücklich, dass ich jetzt Müttern bei der Geburt beistehe. Er hat den Satz nicht vollendet, er meinte, ich bin glücklich darüber, dass ich jetzt das Leben bringe und nicht den Tod. Aber so weit ging es eben nicht. Aber ich habe doch immer wieder diese Erleichterung gespürt, dass die Ärzte nach dem Krieg auf der Seite des Lebens standen, nicht auf der Seite des Todes. Ich habe also niemals ein offenes Eingeständnis erwartet, aber ich war doch überrascht zu sehen, dass kein Einziger auch nur ein klares Bekenntnis ablegen konnte.

Scholl: Sie schreiben in Ihrem Buch und wiederholen es auch nun in diesem aktuellen Film: "Ärzte waren das Herz von Auschwitz." Und Sie beschreiben das Vernichtungslager als "evil mythic medical center", als böses, mythisches Krankenhaus. Lebten und handelten die Ärzte also in einer Art von Parallelwelt, in der so etwas wie der hippokratische Eid vielleicht auch gar nicht mehr bindend war?

Lifton: Die Naziärzte, mit denen ich sprach, stellten Auschwitz als eine Art anderen Planeten dar, das war wirklich der Ausdruck, den sie immer wieder verwendeten, als sei das eine abgetrennte Welt, die nichts mit unserem normalen Leben zu tun habe. Sie sagten das, um ihr eigenes Verhalten zu rechtfertigen.

Was sie mit dieser Redeweise meinten, es sei eben eine so umfassende, eine so andere Dimension, dass die normalen Verhaltensgrundsätze dort nicht mehr anwendbar seien. Sie hatten in gewisser Weise recht, dass sie das als etwas sehr weit Entferntes, als etwas völlig Anormales darstellten. Wenn ich immer wieder diese Frage stellte in Gesprächen über Auschwitz, wie konnte es zu dieser Grausamkeit kommen, dass man Menschen tötete, dass man Kinder tötete, dann wurde mir erwidert: Ja, es war schrecklich, aber Sie müssen bedenken, es war Auschwitz.

In all dem aber war immer wieder auch spürbar, dass sie auch merkten, dass das Verhalten, das sie gezeigt hatten, schmutzig, schmierig war. Aber sie versuchten das immer wieder von sich wegzuschieben, indem sie eben diese Andersartigkeit von Auschwitz herausstellten. Sie haben immer wieder das Andersartige dargestellt, als wäre das ein anderer Planet gewesen.

Scholl: Robert Jay Lifton, Sie gehen noch weiter in Ihren Forschungen, sagen, dass Ärzte nicht nur das Herz von Auschwitz waren, sondern das Herz des gesamten nationalsozialistischen Systems. Wie meinen Sie das?

Lifton: Aus meinen Forschungen habe ich die Einsicht gewonnen, dass das zentrale Motiv für die Nazibewegung nicht war, Krieg zu entfesseln, Land zu gewinnen oder die Herrschaft über Europa anzustreben. Das alles traf natürlich auch zu, aber der letzte Beweggrund der gesamten Nazibewegung war, dass man versuchen wollte, alle schlechten Gene, wo immer sie sich befanden, auszumerzen. Ob das nun kranke Menschen waren oder verrückte oder ob es irgendwie sonst beeinträchtigte Menschen waren, die sich nicht weiter fortpflanzen sollten, letztlich ging es darum, diese schlechten Gene auszumerzen und auch insbesondere beim jüdischen Volk, das die Nazis als Rasse bezeichneten, eben diese Ausmerzung vorzunehmen.

Diese Elimination, das nannte ich die biomedizinische Vision, und das ist der entscheidende Antrieb. Man findet es auch ganz deutlich ausgedrückt im Buch "Mein Kampf" von Adolf Hitler, wo er sagt, nur die nordische Rasse sei imstande, Kultur zu schaffen, die anderen Rassen seien immerhin imstande, Kultur zu tragen, nur die jüdische Rasse, die sei eben darauf angelegt, die Kultur zu zerstören. Und das war die letztlich medizinische Grundidee hinter dem Nationalsozialismus. Die Ärzte waren sozusagen biologische Aktivisten mit dieser Mission. Sie trugen dieses grandiose, bösartige Projekt voran, und sie hatten auch die Hauptrolle zu spielen bei der Umsetzung dieser medizinischen Zielvorstellung in Auschwitz mithilfe dieser Selektion, wo sie gute von bösen Genen absondern mussten. Sie waren die Entscheidenden, die das Naziprojekt umsetzten.

Scholl: Der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Er hat die Psychologie der KZ-Ärzte der Vernichtungslager erforscht und beschrieben. In den Interviews, Herr Lifton, die Sie mit den Opfern führten, kam auch immer wieder der tiefe Schock zur Sprache, der Schock über die Tatsache, dass es gerade Ärzte waren, die folterten, verstümmelten, töteten. Hat dieser Schock damit zu tun, dass nach unserer Vorstellung ein Arzt eigentlich der bessere Mensch sein muss oder sein sollte, weil er ja über die Fähigkeit verfügt zu heilen und Leben zu retten?

Lifton: Es war allgemein die Überzeugung, dass Ärzte zwar einerseits nicht vollkommen sind, dass sie verführbar sind, dass sie den Luxus und das Geld lieben und so weiter, dass aber der Arzt letztlich eine Art Heiler ist, dass er Schmerzen lindern soll, dass er das Leben schützen und hegen soll im Gegensatz zu demjenigen, der das Leben nimmt und der Schmerzen zufügt.

In diesem Sinne war Auschwitz zwar für sich genommen bereits ein gewaltiges Entsetzen für alle, dass es so etwas geben könnte. Aber dass eben Ärzte hier ganz entscheidend beteiligt waren am Tötungsprozess, dass sie in den Gaskammern mitwirkten, solche Dinge haben zu diesem ungeheuren Schmerz, zu dieser Verstörung noch eine weitere Dimension hinzugefügt. Ich habe mit einem Zahnarzt ein Interview in Haifa geführt, der drei Jahre in Auschwitz zugebracht hatte und der wie durch ein Wunder das Lager überlebt hatte.

Und er hat immer wieder gesagt: Diese Welt ist nicht diese Welt. Was meinte er damit? Er meinte damit, dass man, wenn man Auschwitz erlebt hatte, immer eine dunkle Bedrohung spürte, unter der Normalität lauerte. Und dieses Bedrohungsgefühl war noch zusätzlich dadurch vergrößert, dass es eben Ärzte gewesen waren, die hier an diesen Tötungen, an diesem Schrecken so maßgeblich beteiligt waren.

Scholl: Im Vorwort der deutschen Ausgabe von Ihrem Buch "Ärzte im Dritten Reich" erwähnen Sie, wie schwer es Ihnen fiel, nach Abschluss Ihrer Forschungen darüber zu reden. Wenn jemand Sie etwa fragte: Was haben Sie denn nun gelernt aus all diesen Begegnungen mit Opfern und Tätern, Mr. Lifton?, dann hätten Sie nur gesagt, eine Menge, und sofort das Thema gewechselt. Jetzt sind über 20 Jahre vergangen. Ihre Arbeiten haben unseren Blick auf diese Untaten verändert, wie hat die Arbeit Sie selbst verändert?

Lifton: Als ich dieses Buch damals abgeschlossen hatte und ich immer wieder gefragt wurde, wie es mir nun damit gehe, wurde mir klar, ich hatte die ganze Erfahrung noch nicht ausreichend in meine Psyche eingebaut, um zu wissen, wie es mir damit ginge. Ich arbeite aber jetzt gerade an Memoiren, an Erinnerungen, wo ich darüber nachdenke, wie diese Arbeit – nicht nur am Nazibuch, sondern auch an den Forschungen zu Vietnam, zu Hiroshima und zur nuklearen Bedrohung – auf mich gewirkt hat.

Und mir wurde schon klar, diese Arbeit mit den Naziärzten, das war schon der härteste Brocken, das war das Schwierigste, das auch eine tiefe Traurigkeit in mir hinterlassen hat, aber zugleich auch eine Art Stolz darauf, dass ich diese Anstrengung unternommen hatte. Ich fand diese Arbeit damals so anspruchsvoll, dass ich heute im Rückblick mich manchmal noch frage: Hab’ ich das Buch wirklich geschrieben? Denn der Gegenstand fällt als eine so bizarre und groteske Verknüpfung von Ereignissen, dass manchmal sogar eine Atmosphäre der Unwirklichkeit über das Ganze ausgegossen wird.

Scholl: In dem Film, den wir nun über Sie sehen, Mr. Lifton, sitzen Sie im Garten Ihres Hauses und zeichnen Cartoons. Kleine Bildergeschichten, in denen lustige Vögel miteinander sprechen. Auch dafür wurden Sie bekannt. Sind diese Bird Cartoons, wie Sie sie nennen, der humoristische Ausgleich für, ja, diese lebenslange Erforschung der dunklen Seiten des Menschenwesens?

Lifton: Manchmal fragen mich die Menschen ja: Jetzt, wo du dich mit all diesem Grauen befasst hast, wie schaffst du es eigentlich, geistig gesund zu bleiben? Und darauf antworte ich: Ja, ich zeichne lustige Vögel. Diese Vögel repräsentieren für mich das ganze Absurde, was ich immer wieder gesehen habe, sie stehen für eine Art Galgenhumor.

Wenn man sich mit solchen Themen befasst, dann muss man auch ein gewisses Maß an Humor mitbringen. Es ist auch meine tiefe Überzeugung, dass der Humor einem hilft, diese Absurdität zu überstehen. Und die Vögel, die ich zeichne, drücken das irgendwie aus, sie repräsentieren all dieses Verquere, das Schräge, mit dem ich mich auseinandergesetzt habe.

Scholl: In einem Cartoon fragt ein Vogel: Wie fühlst du dich nach 30 Jahren Dasein als Psychoanalytiker? Und der andere Vogel antwortet: Ein bisschen besser. Robert Jay Lifton, ich danke Ihnen für das Gespräch. Der Film, die Dokumentation mit Robert Jay Lifton, "Wenn Ärzte töten", von Hannes Karnick und Wolfgang Richter kommt im Dezember in die deutschen Kinos. Robert Jay Lifton, thank you for being here!

Lifton: Thank you!