"Sie verstanden die Dimension von einer solchen Katastrophe nicht"

Juri Andruchowytsch im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 12.04.2011
Pripyat war einmal "eine der glücklichsten Städte der UdSSR", sagt Juri Andruchowytsch. Der Autor hat die heute unbewohnbare, weil radioaktiv verstrahlte ukrainische Stadt besucht. Und er hat darüber einen Essay geschrieben, den er in Berlin vorstellt.
Liane von Billerbeck: Es klingt zynisch, dennoch: Der Zeitpunkt könnte kaum passender sein. Seit gestern wissen wir auch offiziell, dass Fukushima eine ähnliche atomare Katastrophe ausgelöst hat wie Tschernobyl vor 25 Jahren. Kawamata und Minamisoma, das sind zwei japanische Städte im Umkreis des Atomkraftwerkes, deren Namen bis gestern außerhalb Japans niemand kannte. Nun werden sie evakuiert und könnten eine ähnliche Bekanntheit erlangen wie die ukrainische Stadt Pripyat, die vor 25 Jahren am 27. April, einen Tag nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl evakuiert wurde. Pripyat ist heute eine Geisterstadt, und aus und über diese Stadt gibt es jetzt in der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung Fotos zu sehen, innerhalb einer ganzen Veranstaltungsreihe, vor dem 26. April, dem Datum der Atomkatastrophe von Tschernobyl.

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch liest zur heutigen Eröffnung einen Essay, den er nach einem Besuch in der Geisterstadt Pripyat geschrieben hat. Er heisst: "Der Stern Absinth. Notizen über ein verbittertes Jubiläum". Juri Andruchowytsch ist jetzt bei uns zu Gast. Herzlich willkommen!

Juri Andruchowytsch: Dankeschön. Guten Tag!

von Billerbeck: Wenn Sie die Nachrichten aus Japan hören, dass es dort auch eine Todeszone gibt, Geisterstädte entstehen wie in Tschernobyl, in der Nähe von Tschernobyl, was für Bilder kommen Ihnen da in den Sinn?

Andruchowytsch: Das ist für mich eine ganz frische, ganz neue Erfahrung, mein Besuch in Pripyat, in dieser Geisterstadt. Das war im September vorigen Jahres, am 11. September war das. Und das war ein unglaublich sonniger, schöner Tag. Es war fast heiß, wie im Sommer. Ich war in einer Gruppe von Besuchern, die von jemandem geleitet wurde, einer der Aktivisten einer solchen Bewegung für die Stadt Pripyat. Er wurde in Pripyat geboren. Einer der Söhne dieser Stadt. Unsere Stadtführung – können wir sagen – dauerte so etwa vier Stunden lang. Die Bilder sind bei mir immer noch sehr, sehr stark und zusammen mit dieser Sonne, die damals auch wahrscheinlich so strahlend war wie '86 zusammen mit Ruinen und mit diesem Wald. Der Wald frisst eigentlich alles dort.

von Billerbeck: Sie schreiben in Ihrem Essay, dass Sie als Kind immer von Dschungelstädten geträumt haben, von Yucatán in Mexiko. Ist Ihnen das jetzt wieder in den Kopf gekommen, als Sie in Pripyat waren und sahen, wie der Wald sich die Stadt zurückerobert?

Andruchowytsch: Ja, natürlich. Wir können diese Flora nicht vergleichen, aber so einigermaßen, irgendwie eine surrealistische Dschungelstadt, eine völlig surrealistische, weil eine Stadt der alten, uralten Architektur, also solche typisch sowjetischen Gebäude wie ein großer Kulturpalast oder ein für die damaligen Zeiten extraschickes Hotel, ein Konzertsaal, und das alles, alles so in einem Zustand, als ob das ein Tempel der Maya im Dschungel wäre. Aber ich spreche jetzt zu poetisch, denke ich, und zu schön. Für sehr viele Leute ist das immer noch ein sehr tragisches Treffen. Die Leute, die damals dort lebten, die wollen ab und zu wieder nach Pripyat kommen, natürlich.

von Billerbeck: Und sie haben auch keine Angst, dass sie da verstrahlt werden? Sie müssen einfach an den Ort, wo sie mal gewohnt hatten?

Andruchowytsch: Ja, es gibt dort jetzt eine Organisation, die das alles kontrolliert, zum Beispiel dieser Führer, der mit uns da war, die haben für alles notwendige Technik dabei, also die Geigerzähler, vor allem, man kann sofort sehen, wo wieder ein schmutziger Fleck ist, wo es relativ sauber ist, man kann die Stelle auswählen. Nachdem wir aus der Zone weg waren, auf der Grenze zwischen der Zone und sozusagen noch mal im Land, gab es eine ausführliche Radiationskontrolle. Alle Geräte zeigten, dass wir praktisch sauber waren. Niemand von uns hatte etwas Schlechtes abbekommen. Das ist manchmal irgendwie ein ganz zufälliger Faktor.

von Billerbeck: Pripyat, diese Stadt, viereinhalb Kilometer entfernt von Tschernobyl, das war ja auch eine große Verheißung, wie die gesamte Atomkraft eine große Verheißung war, wir sind etwa gleich alt, deshalb erinnere ich mich auch noch an meine Kindheit, an eine Zeitschrift in der DDR, die hieß "Frösi" und da gab es eine Comicfigur, die hieß Atomino. Es war ein völlig unkritisches, …

Anruchowytsch: … eine positive Figur …

von Billerbeck: … fortschrittgläubiges Verhältnis zur Atomkraft. Das war ja auch in Pripyat so, in der ganzen Sowjetunion …

Andruchowytsch: … eine Art Kult, ja.

von Billerbeck: … ein Kult, ja. Es gab ja diesen Glauben an den Fortschritt schon mal in der Frühzeit der Sowjetunion, also im ersten Fünf-Jahr-Plan …

Andruchowytsch: … die Elektrifizierung des Landes …

von Billerbeck: … genau. der berühmte Spruch …

Andruchowytsch: … ja, von Lenin.

von Billerbeck: … Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des gesamten Landes. Hat sich diese Verheißung mit dem Bau der Stadt Pripyat erfüllt?

Andruchowytsch: Ja, natürlich. Das war eine der glücklichsten Städte der UdSSR.

von Billerbeck: Weil sie reich war durch die Atomkraft?

Andruchowytsch: … so zumindest erzählte das unser Führer, der damals ein Kind war. Vielleicht war das auch ein bisschen ein Kinderparadies für ihn. Er war zehn Jahre alt, als diese Katastrophe dort passiert ist, die 80er-Jahre, das war schon die Zeit, als die sowjetische Planungswirtschaft fast völlig kaputt ging. Es gab nur solche Versorgungspunkte in der UdSSR …

von Billerbeck: Inseln!

Andruchowytsch: Inseln, genau, wo alles zu kaufen war. Die Hauptstadt, Moskau – in Kiew, der ukrainischen Hauptstadt, war das schon schlechter und ärmer als in Moskau, in Pripyat war das besser als in Kiew. Ein Beispiel mit der Kiewer Torte ist sehr anschaulich. Die Torte hieß Kiewer Torte, und das war so eine Art von Spezialität, die man aus Kiew brauchte. Und es gab keine Kiewer Torten in Kiew selbst. Man musste von Kiew nach Pripyat kommen, um eine zu kaufen. Ich denke, das war sehr wünschenswert für die Fachleute, einen Job dort zu bekommen, nach Pripyat zu kommen, auch die Wohnungsfrage wurde sehr gut gelöst, alles mögliche, also schon fast dieser Kommunismus.

von Billerbeck: Sie beschreiben in Ihrem Essay einen Agitationsfilm über das Atomkraftwerk, den Sie da gesehen haben, in Pripyat, gedreht im Sommer vor der Katastrophe, und in diesem Film, da ruft ein Ingenieur voller Begeisterung aus: Vor allem, wir befinden uns hier in völliger Harmonie mit der Natur, sind Frucht von ihrer Frucht. Hast du Lust, dann bade im Fluss. Gehe in den Wald, wandere zwischen den Kiefern umher. Sammle eine Pfanne Pilze zum Abendessen. Bitteschön, alles da, wir sind mitten in der Natur. Aus heutiger Sicht hört sich das total verrückt an. Aber wie haben Sie das empfunden …

Andruchowytsch: … auch grausam.

von Billerbeck: … grausam, ja. Wie haben Sie das empfunden, als Sie diesen Film in Pripyat gesehen haben? Diesen Agitationsfilm?

Andruchowytsch: Das war unterwegs schon in dem Bus, wir fuhren schon weg, und das war wie ein Epilog. Sehr traurig, wirklich. Das ist so eine sehr enthusiastische Figur, ich kenne den Namen nicht, einer der Personen des Dokumentarfilms, aber er war wirklich so glücklich, enthusiastisch und voll von Lebensfreude. Wenn man dann aus diesem Abstand nach so vielen Jahren nach der Katastrophe das hört, und besonders nach diesem Besuch in der Geisterstadt, dann hört sich das schon wirklich mehr als sarkastisch, eher grausam an.

von Billerbeck: Walter Mossmann, ein Liedermacher aus der deutschen Anti-AKW-Bewegung, der hat ihnen mal geschrieben, auch das zitieren Sie: "Ich habe damals versucht," damals in den 80-ern, als man gegen die Atomkraft ganz heftig protestierte…

Andruchowytsch: … die ersten Tage, glaube ich noch.

von Billerbeck: Genau – "mir eine solche verstrahlte Landschaft vorzustellen. Es ist mir nicht gelungen, man kann sich kein Bild davon machen." Wenn ich an Pripyat denke, und ich kenne es nur aus Filmen, dann denke ich immer sofort an dieses Riesenrad, das da gebaut wurde für den Vergnügungspark, das ja noch nicht in Betrieb genommen war. Welches Bild haben Sie in Erinnerung nach dieser Fahrt dorthin?

Andruchowytsch: Ja, vor allem – aber das ist nicht in der Stadt, das ist der Kanal, der Wasserkanal in der Nähe des AKW …

von Billerbeck: … für das Kühlwasser?

Andruchowytsch: … vier Kilometer von Pripyat entfernt, und diese riesengroßen Welse dort, die Fische, die so groß wie Delfine sind, die wahrscheinlich nach der Katastrophe nie gefischt wurden, und sie sind wirklich riesig geworden. Und ich weiß bis jetzt nicht, ob das gut oder schlecht für die Fische ist. So, in dieser Ruhe, in diesem Schlamm, der wahrscheinlich völlig verstrahlt ist, zu wohnen, zu leben, und wie lange können sie dort überhaupt leben? Aber ich hoffe, dass das schon irgendwie ein ewiges Zeichen von einem solchen Konflikt zwischen Natur und menschlicher Tätigkeit ist. Und diese Fische sind irgendwie auch so eine Abzweigung von diesem direkten Konflikt.

von Billerbeck: Wenn wir nach Japan sehen, dann sehen wir bei vielen Menschen so im Fernsehen immer diesen Unglauben im Gesicht, dass sie immer noch nicht verstanden haben, dass sie nie wieder dorthin zurückkehren können, in ihr Haus, zu ihren Sachen. Das können die Leute sich einfach immer noch nicht vorstellen. Wie lange hat das in Pripyat gedauert, bis die Menschen verstanden haben: Ich habe diese Heimat für immer verloren.

Andruchowytsch: Ich vermute, das ist natürlich eine sehr persönliche Sache, bei verschiedenen Menschen war das verschieden. Ich kann nur wieder unseren Stadtführer zitieren, der erzählte eine ganz private Geschichte aus seinem Schulleben. Er als Zehnjähriger war am 27. April sehr glücklich, dass sie evakuiert wurden, weil er gerade ein paar Probleme in seiner Schule gekriegt hat mit älteren Jungen, ein paar Konflikte um einen Ball. Er hat einen Ball verloren von jemandem, der älter war und musste irgendwie Geld zurückgeben… also das war eine wunderbare Lösung all seiner Probleme, einfach wegzufahren. Er verstand das so, dass die schlechten Zeiten vergehen, und dann kommt man zurück. Das war also ganz verschieden.

Aber Sie haben recht, wenn Sie das fragen, weil ich denke, alle Leute waren sicher, dass sie zurückkommen. Sie verstanden die Dimension von einer solchen Katastrophe nicht. Es gibt so eine Erscheinung in der 30-Kilometer-Zone, Richtung Südosten, da ist eine ganze Gegend, die heute auf der Karte völlig grün gemalt ist, also eigentlich sauber. Die Richtung des Windes war anders, aber diese Gegend wurde auch so ganz automatisch in diese 30-Kilometer-Zone eingeschlossen. Und da gibt es solche älteren Leute, die einfach willkürlich, illegal, ohne jede Erlaubnis schon einige Monate nach der Katastrophe zurückkamen. Sehr viele von Ihnen sind seitdem schon gestorben, einfach weil sie so alt waren, schon damals waren sie alt. Für solche Leute aus den Dörfern, für die Bauern, besonders wenn sie so alt sind, ist die Änderung des Ortes einfach undenkbar. Sie haben das einfach so erlebt als: Wir müssen dahin zurück, wir sind sowieso alt, wir werden sowieso sterben, wir kommen zurück. Manche von ihnen leben noch bis heute, was bedeutet, dass auch diese Methode mit einer Zone, die als ein Kreis gezeichnet wurde, die war auch natürlich irgendwie falsch. Es gibt so viele Vieldeutigkeiten in dieser Geschichte.

von Billerbeck: Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch. Ganz herzlichen Dank für Ihren Besuch!

Andruchowytsch: Dankeschön!

von Billerbeck: Heute liest er seinen Essay über den "Stern Absinth" zur Eröffnung einer mehrteiligen Ausstellung in der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in der Berliner Schumannstraße. Unter dem Titel "Die Straße der Enthusiasten" sind dort Fotos aus und über Pripyat zu sehen, Agitationsplakate und Plakate gegen die Atomkraft.
Mehr zum Thema