Sholem Alejchem zum 100. Todestag

"Wenn ich einmal reich wär..."

Das Scholem-Alejchem-Denkmal in Kiew erinnert an den in der Ukraine geborenen jiddischen Schriftsteller.
Das Sholem-Alejchem-Denkmal in Kiew © imago/Sergienko
Von Carsten Dippel · 13.05.2016
150.000 Menschen säumten den Trauerzug, als der Autor Sholem Alejchem beerdigt wurde. Die jüdischen Geschäfte New Yorks hatten allesamt geschlossen. Die Romane des Wegbereiters der Jiddischen Literatur waren ironische Kommentare zur Realität, verbunden mit aufklärerischen Absichten.
"Wenn ich einmal reich wär'...", so singt Tewje im "Fiedler auf dem Dach". Ein Gassenhauer, wie so viele Lieder aus dem berühmten Musical, das auf dem Roman "Tewje, der Milchmann" von Sholem Alejchem basiert. Tewje, "arm an Geld, aber reich an Kindern", ist die wohl berühmteste Figur des großen jiddischen Poeten. Heute vor 100 Jahren starb Sholem Alejchem in New York. Als er zu Grabe getragen wurde auf dem Brooklyner Arbeiterfriedhof, säumten 150.000 Menschen den Trauerzug und die jüdischen Geschäfte New Yorks hatten allesamt geschlossen.
Sholem Alejchem, 1859 im ukrainischen Perejaslaw als Sholem Rabinowitsch geboren, schrieb 20 Jahre lang am Tewje-Roman, der eigentlich mehr eine Sammlung von Erzählungen rund um seinen Helden ist. Es war die Zeit des von Pogromen heimgesuchten Zarenreichs. Die Juden im sogenannten Ansiedlungsrayon, in ihren von Armut geprägten Städteln, sind ständigen Schikanen ausgesetzt. Und mitten hinein in diese gefährdete Welt stellt Alejchem, der als Hauslehrer bei einem wohlhabenden jüdischen Gutsbesitzer begann, seine Figur. Tewje hadert mit sich und der Welt. Eine Welt, die aus den Fugen gerät.
Zitat: Tewje, der Milchmann, S. 135/171:
"Warum fahrt Ihr nicht endlich?", fragen mich die Frauen. "Warum ich nicht endlich fahre?" Ihr seht doch", sage ich, "warum: das Pferd will nicht beten, ist nicht dazu aufgelegt." "Zieht ihm die Peitsche über", meinen sie, "Ihr habt doch eine Peitsche."
"Ich danke Euch", sage ich, "für den Ratschlag. Gut, dass Ihr mich daran erinnert habt. Die Sache hat nur den einen Schönheitsfehler", sage ich, "dass sich der Bursche von solchen Sachen nicht beeindrucken lässt; er ist schon so an die Peitsche gewöhnt, wie ich an die Armut!"
Oder:
Und ich komme wieder ins Haus und nehme meine Alte beiseite und beginne eine Unterhaltung mit ihr: "Was würde etwa zum Exempel sein", sage ich, "wenn unsere Sprinze eine Millionärin wäre?"
Fragt sie mich: "Was bedeutet das, eine Millionärin?"
Sage ich: "Millionärin bedeutet: eines Millionärs Ehefrau..."
Fragt sie mich: "Was bedeutet das, ein Millionär?"
Sage ich ihr: "Einen Millionär nennt man einen Menschen, der eine Million besitzt..."
Fragt sie mich: "Wie viel ist das, eine Million?"
Sage ich: "Wenn du so eine dumme Kuh bist und nicht weißt, wie viel eine Million ist, was habe ich denn dann noch mit dir zu reden?"
Sie sagt: "Wer bittet dich zu reden?"
Und damit hat sie auch wieder recht.

Texte mit viel Wärme und hintergründigem Humor

Die Töchter Tewjes gehen unterschiedliche Wege. Am Horizont ziehen die Zeichen von Revolution, Umbruch, Gefahr auf. Am Ende müssen die Juden ihr Städtel Anatevka verlassen. Alejchem erzählt dieses Drama mit viel Wärme und hintergründigem Humor. Da ist Tewjes Ringen mit Gott, sein beständiges Abwägen, alles in farbintensiver Sprache, reich an Zitaten aus der jüdischen Tradition.
Schon in seiner ersten jiddischen Erzählung "Zwei Steine (zwej schtejner)" sind die Motive dieses augenzwinkernden Blicks auf die Welt zu finden. Alejchem, der 1883 die Tochter des Hauslehrers heiratet, später dessen Erbe an der Börse verliert, um sich ab 1890 ganz dem Schreiben zu widmen, verbindet damit aufklärerische Absichten. Immer jedoch mit seinem typisch ironischen Kommentar zur Realität. "Ein jeder lachte mit dem einen und weinte mit dem anderen Auge", erinnerte sich Manès Sperber einmal an den Tewje-Roman.
Walter Felsenstein: "Je weiter Felsenstein sich mit diesem Werk auseinandersetzte, er machte sie ja auch ganz anders als New York, nämlich diese jüdische Kultur und Tradition und dagegen diese... 1905 wie die russische Revolution ja quasi vorbereitet wurde, diese ganzen Aspekte wurden in seiner Inszenierung durchaus unterstrichen. Und das war dann auch der springende Punkt, weshalb die DDR das nicht rauskommen lassen wollte."
Ost-Berlin im Winter 1971. Von der sowjetischen Botschaft unter den Linden bis zur Komischen Oper sind es nur wenige Schritte. Gebannt wartet das Ensemble Walter Felsensteins auf die Nachricht ihres Chefs. Felsenstein, der legendäre Begründer des Opernhauses sitzt bei Botschafter Abrassimov. Darf der "Fiedler" gespielt werden? Dann die erlösende Nachricht: Ja, es gibt grünes Licht.
"Das kann man gar nicht beschreiben, was das für ein Kitzel war, wie diese Premiere kam und wie angespannt das Publikum und auch wir Darsteller von dieser ganzen Aktion davor betroffen waren. Und wie dann Asmus, der wunderbare Tewje, sein Lied 'Wenn ich einmal reich wär' gesungen hatte... es gab eine Ovation, die Leute standen auf, es waren zehn Minuten, das hörte nicht auf, Fußtrampeln. Also ein politischer Zuspruch und Protest, der das Haus erfüllte."

"Fiedler" meistgespielt in der Komischen Oper - bis heute

Christoph Felsenstein spielte in der Inszenierung seines Vaters jahrelang den Perchik. Bei der Uraufführung des "Fiedlers" saßen lauter Stasileute im Publikum. Ein jüdisches Thema, ein kritischer Blick auf Russland, das passte der SED nicht ins Bild. Moskau jedoch setzte sich durch. Allerdings diktierte Botschafter Abrassimov seinem Freund Felsenstein einige Textänderungen. So wurde aus Pogrom eine "inoffizielle Belästigung", aus Kiew das jiddische Jehupez, Amerika als Fluchtziel der Juden gestrichen.
Trotzdem: Ein DDR-Bürger, der zwischen den Zeilen zu lesen vermochte, fand zahlreiche Anspielungen. Felsenstein lag sehr viel am Stück. Er drohte, die Komische Oper zu verlassen, sollte er nicht das am Broadway so erfolgreiche Musical adaptieren dürfen. In Absprache mit den Amerikanern hatte er volle Freiheit für die Interpretation. So zeigt sich die Ost-Berliner Version des "Fiedlers" weniger als leichtes Musical, sondern viel mehr als humoreskes Drama und damit näher am Original.
"Dieser Spannungsbogen von Humor, Philosophie und Tragödie, wie Gorki es nannte, das war Sholem Alejchem und das interessierte Felsenstein an der Inszenierung, diesen Bogen zu spannen und diese Widersprüche auch aufzuzeigen."
"Der Fiedler auf dem Dach" wurde mit über 500 Aufführungen bis 1988 das bis heute erfolgreichste Stück an der Komischen Oper. Für das deutsche Publikum war es bei aller chagallesken Ausmalung und Folklore die erste Berührung mit dem jüdischem Osteuropa. Dem Städtel in einer Zeit dramatischer Veränderungen hat Alejchem zweifellos ein Denkmal gesetzt.
Hinter dem großen Roman tritt zuweilen jedoch sein umfangreiches Werk aus Erzählungen, Theaterstücken, Romanen, Essays etwas in den Schatten. Doch Sholem Alejchem hat neben Mendele und Perez einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung der Jiddischen Literatur geleistet. 1905 verließ Alejchem nach erneuten Pogromen Russland über viele Stationen in Europa Richtung Amerika. Zwei Jahre später kehrte er noch einmal nach Europa zurück, landete im Kriegsjahr 1914 schließlich erneut in New York. So war Sholem Alejchem ein Wanderer zwischen den Welten und damit selbst auch ein Teil jener Geschichten, die er erzählt.
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