Shoah-Überlebende

Unvergossene Tränen

Der Schatten einer Familie, die sich an der Hand hält.
Nicht verarbeitete Traurigkeit von Holocaust-Überlebenden kann sich auf die Kinder und Enkel übertragen. © picture-alliance / dpa / Markus C. Hurek
Von Jens Rosbach · 29.08.2014
Shoah-Überlebende haben häufig versucht, die Schrecken von Verfolgung, Folter und Flucht zu vergessen - und damit unbewusst ihre Familien belastet. Kinder und sogar Enkel von NS-Opfern kämpfen mit den Konsequenzen der Verdrängung: Depressionen, Überängstlichkeit und Selbstzweifel.
"Meine Mutter konnte keine Koffer packen. Meine Mutter war nicht in der Lage, Koffer zu packen. Jedes Mal war das ein Drama, bevor sie verreist ist. Dabei ist sie gerne verreist. Und eine Zeitlang hat das eine gute Freundin von ihr übernommen, die dann sagte: Ich kann gut packen, ich komme und mache das. Dann später habe ich das übernommen."
Marguerite Marcus ist eine kleine Frau mit rotbraunen Haaren, rotbrauner Brille und türkisfarbener Hose. Die Berliner Jüdin, 55 Jahre alt, hat den Holocaust nicht selbst erlebt. Doch die NS-Verfolgung liegt bis heute wie ein Schatten über ihrer Familie: Marguerites Mutter musste nämlich Ende der 30er-Jahre aus Hitler-Deutschland nach England fliehen. Die damals 17-Jährige sollte ihre Eltern nie wieder sehen:
"Alle Menschen, die 1938/1939 Deutschland verlassen haben, mussten genau aufschreiben: Zahnbürste, Zahnpasta, alles - was sie in ihren Koffer gepackt haben. Diese Liste musste auch meine Mutter aufgeschrieben haben. Das hat sie nie erwähnt. Aber seitdem habe ich verstanden, dass sie keine Koffer mehr packen konnte.
Oft, was sie erzählte, war gar nicht positiv. Sie hat gar nicht so viel Nettes über ihre Eltern erzählt. Und das habe ich erst im Nachhinein verstanden, weil sie nie richtig um ihre Eltern trauern konnte und sie sich einfach sozusagen wenigstens ihre sehr strenge Mutter in Erinnerung rief, dann nicht so sehr trauerte darüber, dass sie mit 17 schon mutterseelenallein auf der Welt war."
Folgenreiches Schweigen der Mutter
Marguerites Mutter schwieg sich jahrelang über ihre Familiengeschichte aus, verdrängte ihr Trauma. Doch die Vergangenheit kehrte zurück – an ganz anderer Stelle: Ihre Tochter, die Medizin studiert hatte, wurde zum Ende ihrer Ausbildung plötzlich schwermütig und antriebslos. Die 28-Jährige kam nicht mehr aus dem Bett und schlug sich mit Selbstmordgedanken herum. Marguerite suchte psychologische Hilfe. Nach jahrelanger Therapie kam sie zu einer wichtigen Erkenntnis:
"Da meine Mutter nie getrauert hat, war es dann an mir, diese Schwere, diese Last zu übernehmen und wirklich auch daran zu erkranken."
Marguerite Marcus arbeitet heute selbst als Therapeutin, als Familientherapeutin. Sie ist überzeugt, dass sie stellvertretend für ihre Mutter gelitten hat. Als Tochter habe sie das familiäre Trauma "geerbt":
"Eine nicht verarbeitete Traurigkeit äußert sich eben oft in einer Depression, und ich habe da wirklich mit zu kämpfen gehabt."
Viele Shoah-Überlebende wollen KZ-Gräuel, Folter und Verfolgung verdrängen - die Erinnerungen sind einfach zu belastend. Der prominente Berliner Filmproduzent Artur Brauner hat ebenfalls - sieben Jahrzehnte lang - über die NS-Zeit geschwiegen.
Der mittlerweile 96-Jährige ließ zwar zwei Dutzend Filme über die Shoah drehen. Aber seinen Kindern hat er bis heute verheimlicht, wie er selbst einst in polnischen Wäldern frieren und hungern musste:
"Ich will nicht, dass sie aufwachsen und irgendein Minderwertigkeitsgefühl bekommen. Deshalb wissen unsere Kinder nicht, sie erfahren aber über andere. Und dann kommen sie auf mich zu: Warum hast Du uns nicht erzählt? Warum hast Du das nicht gesagt. Sage ich: Kinder, was gibt das her? Wollt ihr wissen, dass wir jede Minute mit dem Tod konfrontiert wurden? Also: Lebt Euer Leben! Das ist meine Maxime."
Nur Heldengeschichten hat Brauner seinen Kindern erzählt. Etwa wie er, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, einem SS-Mann entkommen konnte: Der jüdische Flüchtling, damals Anfang 20, hatte seinen Kopf dem Uniformierten in den Bauch gerammt - der Nazi flog daraufhin in ein Gewässer.
Brauner kannte diese Kampf-Technik aus seiner Jugendzeit - aus einem Gary-Cooper-Western:
"Ich hatte kein Pferd, musste meine Beine benutzen. Aber er konnte nichts mehr machen. Bis er heraus kam, war ich schon längst vorbei. Meine Kenntnisse - vom Western, von Gary Cooper übernommen - haben mir das Leben gerettet, ja."
Sogar Enkelkinder werden belastet
Ablenken, Verdrängen und Schweigen. Die Sprachlosigkeit der Überlebenden belastet nicht nur die eigenen Kinder, sondern mitunter auch die Enkelkinder. So wie Sharon, eine 36-jährige Berlinerin. Die kleine, dunkelhaarige Frau - sie möchte ihren tatsächlichen Namen nicht nennen - stieß eines Tages auf eine unfassbare Geschichte: Der Vater ihrer Mutter konnte in den 30er-Jahren - als Kind - aus Osteuropa mit einem Schiff Richtung Palästina entkommen. Doch unterwegs wurde das Boot von den Deutschen aufgebracht, zusammen mit einem zweiten Flüchtlings-Schiff.
"Irgendwie wurde ausgehandelt, dass nicht beide Schiffe versenkt werden, sondern nur eines davon. Und die Kinder des einen Schiffes sind damit Zeuge geworden, wie das andere Schiff versenkt wurde und die Menschen dort ertranken. Also das hat wohl die ganze Nacht gedauert, bis das Schiff tatsächlich versunken war und da niemand mehr um sein Leben gekämpft hat."
Sharon vermutet, dass auch ihre Mutter nie die ganze Wahrheit gehört hat über die Flucht ihres Großvaters. Die Enkelin fragt sich, ob ihre Mutter nicht auch - so wie Marguerite Marcus - von einem Trauma belastet ist oder blockiert:
"Ich erlebe meine Mutter als sehr kalt. Und als sehr…. unemotional."
Sharon sagt, sie selbst sei da ganz anders:
"Ich weine eigentlich bei jeder Gelegenheit (lacht). Was mir manchmal innerlich zum Problem wird, weil ich als Psychologin arbeite und es eigentlich nicht besonders gut aussieht, wenn mir meine Gesprächsteilnehmer ihre Geschichte und ich dann für sie weine. Diese Frage, warum ich eigentlich permanent weine (schmunzelt) also sobald eine emotional berührende Geschichte erzählt wird, die hängt schon vielleicht damit zusammen, dass viele Tränen nicht geweint worden sind in meiner Familie. Auch wenn das eine vielleicht schon esoterisch anmutende Erklärung ist."
Ähnliche Erfahrung mit "transgenerationaler Übertragung"
"Ich habe mich manchmal gefühlt, als sei ich gefangen. Das sind so ganz merkwürdige psychische Zustände, in die man manchmal geraten kann."
Petra Schneiderheinze hat ähnliche Erfahrungen gemacht mit der sogenannten "transgenerationalen Übertragung von Traumata. Schneiderheinzes Vater saß einst im KZ, als Kommunist. Zwar überlebte er, doch steckte er seine Familie mit seinem Leiden an:
"Vielleicht ein Beispiel: Ich habe manchmal aus dem Fenster geguckt und habe gedacht, da sind Gitter davor. Das war natürlich Quatsch, da waren keine Gitter und ich hätte rausgekonnt, jederzeit, die Tür war offen. Und trotzdem war ein Gefühl da, dass es so sei."
Schneiderheinze, 62 Jahre alt und ebenfalls Therapeutin, leitet den Berliner Gesprächskreis One by One. Hier treffen sich die Nachkommen von NS-Opfern - und auch von NS-Tätern. Beide Gruppen wollen ihre jeweils verdrängte Familiengeschichte offenlegen.
"Angst hat man! Angst hat man! Das ist glaube ich das Entscheidende. Angst, was werden die anderen sagen? Es ist Angst."
Die intimen Gespräche zwischen den Generationen bauten Furcht und Schuldgefühle ab, betont Schneiderheinze, die Mitglieder lernten sich zu öffnen. So gingen viele von ihnen zu Diskussionen in Schulen, setzten Stolpersteine und unterstützten Holocaust-Gedenkveranstaltungen:
"Eine andere Freundin hat sich super, also ganz intensiv, engagiert in der Flüchtlingsarbeit. Und so gibt es immer wieder Dinge, die hinaus wirken. Ja, weitergetragen werden."
Die Mutter bemuttert
Tränen, Diskussionen und Psychotherapie: Der Weg, um den Schatten der Shoah zu entkommen, ist schwer. Die Berliner Familientherapeutin Marguerite Marcus konnte sich zwar von ihrer Depression heilen lassen. Dennoch beschäftigt sie sich immer noch mit ihrer bedürftigen Mutter, die einst - mit 17 Jahren - aus Deutschland flüchten musste:
"Als 55-jährige Frau telefoniere ich jeden Tag mit meiner Mutter. Das Problem, was bei mir jetzt psychodynamisch war, ist, dass ich die Rolle meiner Mutter als Mutter nicht angenommen habe, sondern sie bemuttert habe. Ich hatte das Gefühl, ich muss mich um meine Mutter kümmern, damit sie überlebt."
Alltagssorgen auch in der dritten Generation der Holocaust-Überlebenden: So ist Sharon besonders vorsichtig gegenüber fremden Menschen, fremden Deutschen. Die 36-jährige sorgt sich etwa, wenn sie einen neuen Freund kennenlernt, ob dieser, im Falle eines Falles, anders handeln würde als die Deutschen damals, vor 70 Jahren:
"Und für mich hat die Frage schon immer eine Rolle gespielt: Wie würde der sich verhalten, wenn… ja wenn es wieder soweit kommen sollte, dass ich als Jüdin verfolgt oder infrage gestellt werde. Ob das ein Mensch ist, der mich schützen würde. Oder zu mir stehen würde."
Sharon hat ebenfalls eine Psychotherapie absolviert - und ist wie viele andere Betroffene selbst Psychologin geworden. So wollte sie sich über das belastende historische Erbe klar werden. In sogenannten Familien-Aufstellungen, bei denen die Beziehungen zu den Verwandten dargestellt werden, konnte sich Sharon von der jahrzehntealten Last befreien, zumindest teilweise:
"Und in diesen Aufstellungen habe ich mir, ja, wie eine Erlaubnis der Verstorbenen abgeholt, die gesagt haben: Du sollst leben und du sollst glücklich sein."
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