Sexualität

"Es geht um die erotische Berührung"

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Die Website "Nessita" bietet Kunden im Pflegeheim sinnliche Berührungen. © dpa / picture alliance / Daniel Reinhardt
Moderation: Matthias Hanselmann · 04.08.2014
Gabriele Paulsen hat ein Start Up der ungewöhnlichen Art gegründet: Ihre Agentur hilft vorzugsweise alten Menschen in Pflegeheimen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Denn: Sexualität sei so wichtig wie Essen und Trinken, sagt Paulsen.
Matthias Hanselmann: Erotische Dienstleistungen für immobile Menschen, das bietet Gabriele Paulsen an. Dafür hat sie im Internet die Seite nessita.de eingerichtet, die seit Mitte Juni online ist. Frau Paulsen ist gelernte Krankenschwester und Qualitätsmanagerin im Gesundheitsbereich. Worum es bei diesen erotischen Dienstleistungen geht, das wird sie uns jetzt genauer erzählen. Gabriele Paulsen ist für uns in einem Studio in Hamburg, hallo!
Gabriele Paulsen: Schönen guten Tag, Herr Hanselmann!
Hanselmann: Zunächst: An wen wendet sich Ihre Homepage, welche immobilen Menschen sind denn gemeint?
Paulsen: Das ist eine sehr gute Frage, weil, immobil ist ja ein sehr weitläufiger Begriff. Für mich ist dabei wichtig in dem Zusammenhang, dass es für Pflegeheimbewohner künftig die Möglichkeit geben wird, sich erotische Dienstleistungen einzukaufen.
Hanselmann: Nur für Pflegeheimbewohner?
Paulsen: Nein, ich denke schon darüber nach, dass man das Angebot später erweitern kann, aber wir wollen ja erst mal ein bisschen tiefstapeln!
Hanselmann: Was ist es denn jeweils genau, was diese Menschen immobil macht?
Paulsen: Ich denke, Immobilität bedeutet einfach, größtenteils nicht mehr selbstbestimmt leben zu können, für meine Begriffe jedenfalls. Das heißt, ich kann gerade im Punkt Sexualität nicht mehr selbstbestimmt leben, weil ich reglementiert werde zum Beispiel von den örtlichen Gegebenheiten. Das kann meine Wohnung sein, das kann die Einrichtung sein, da gibt es viele Einschränkungen, sage ich mal.
Hanselmann: Welche Rolle spielt denn dabei, dass Sex ein Tabu ist, dass es zum Beispiel keine Partner gibt eventuell oder auch Scham?
Paulsen: Eine ganz große Rolle natürlich. Und so bin ich persönlich ja auch erst auf das Thema aufmerksam geworden. Das Pflegepersonal kam auf mich zu im Rahmen meiner Beratung, als es um die Dokumentation von den Problemen in den unterschiedlichsten Pflegebereichen ging. Da kam es natürlich auch auf so Themen wie, sich als Mann oder Frau fühlen oder auch Sexualität leben. Und welche Möglichkeiten geben wir den Menschen, die hier bei uns leben, oder welche haben sie überhaupt, was können wir für diese Menschen tun?
"Oral- und Sexualverkehr schließen wir vorerst aus"
Hanselmann: Nun denkt man ja bei dem Begriff erotische Dienstleistungen gleich an sexuelle Dienstleistungen und natürlich, naheliegend, auch an Prostitution. Welche Dienstleistungen bieten Sie an?
Paulsen: Auch hier sind wir sozusagen ... Oder nein, wir haben uns gefunden. Das war anfangs tatsächlich die Frage. Wir sind jetzt dazu gekommen, um wirklich den älteren Menschen diesbezüglich auch gar nicht unter den Druck zu setzen, unter welchen auch immer, dass wir Oral- und Sexualverkehr ausschließen vorerst, dass es ausschließlich um die erotische Berührung geht.
Hanselmann: Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?
Paulsen: Es soll so aussehen, dass die Dienstleisterin oder auch der Dienstleister – das Angebot richtet sich nämlich an beide Geschlechter –, dass die ins Pflegeheim kommt, die Mitarbeiter sind informiert, auch mit den Einrichtungsleitungen wurde vorher gesprochen, dass es im Rahmen von sogenannten Pflegevisiten erörtert wurde, das Problem auch klar definiert ist, was auch einschließt, sind eventuell bestimmte Krankheitsbilder zu beachten, bestimmte Einschränkungen zu beachten. Und dann geht die Dienstleisterin in das Zimmer, baut eine persönliche Beziehung zu dem Bewohner auf und macht es sich dann für die ein oder andere Stunde mit dem Bewohner bequem, sage ich mal, streichelt ihn, kommt ihm nahe. Und gibt ihm diese Berührung, diese zärtliche Nähe, die Pflege nicht leisten kann und auch nicht will, das ist auch nicht deren Aufgabe.
"Niemandes Grenzen sollen überschritten werden"
Hanselmann: Wer bestimmt dann den Punkt, an dem eine Grenze überschritten werden kann?
Paulsen: Das ist eine gute Frage, aber ich glaube, das wissen dann alle Beteiligten, sprich: sowohl der Bewohner als auch die Dienstleisterin. Da soll niemandes Grenze überschritten werden, das ist nicht das Ziel. Und das wird auch im Rahmen unseres Qualifizierungskonzepts ganz deutlich so geübt und besprochen. Ein Nein ist ein Nein.
Hanselmann: Ist es schwer, Menschen zu finden, die für Sie arbeiten? Also, als Sexualassistenten, wie Sie sie, glaube ich, nennen?
Paulsen: Ganz genau, Sexualassistenten oder -begleiterinnen. Und überraschenderweise nein, es ist nicht schwierig. Es melden sich gerade seit dem Onlinegang national wirklich viele Menschen bei mir, die das gerne machen möchten.
Hanselmann: Wie kommt Ihre Idee allgemein an in den Seniorenzentren und Behinderteneinrichtungen?
Paulsen: Ganz toll. Ich war heute Morgen, hatte ein ganz aufschlussreiches Gespräch wieder mal mit einer Einrichtungsleitung auch eines kirchlichen Trägers, die sich dem Thema ganz toll öffnen, muss man sagen, und wo wir jetzt die Produktpalette, sage ich mal, noch mal erweitern für Pflegemitarbeiterschulung, Leitungscoaching, wie können wir auch Angehörige ansprechen, wie können wir mit demenziell Erkrankten umgehen, da geht es ja auch um die Geschäftsfähigkeit einzelner Bewohner. Und da sind, glaube ich, ganz tolle Konzepte jetzt in der Erarbeitung.
"Die eine oder andere Pflegekraft fühlt sich mit der Situation überfordert, zu Recht"
Hanselmann: Man fragt sich natürlich sofort, wie sind diese immobilen Menschen bisher damit umgegangen, welche Möglichkeiten hatten sie überhaupt, Sexualität, Erotik zu leben?
Paulsen: Eben keine. Und das führt dann leider häufig dazu, dass dann natürlich es auch zu, ich sage mal, ich nenne es mal vorsichtig: schlechter Laune kommt und dann eventuell die ein oder andere Pflegekraft damit in Kontakt kommt und sich mit diesen Situationen auch wirklich überfordert fühlt, zu Recht.
Hanselmann: Und es ist wohl ein Allgemeinplatz, wenn man sagt, Sexualität hält gesund.
Paulsen: Unbedingt, keine Frage. Ich nehme gerne das Beispiel mit dem Hunger, wir kennen das alle, wenn wir nichts zu Essen kriegen, irgendwas macht das mit uns, dann gibt es schlechte Laune!
Hanselmann: Wie steht es eigentlich mit der finanziellen Seite, wer bezahlt Ihre erotischen Dienstleistungen? Die Krankenkasse?
Paulsen: Ich habe befürchtet, dass Sie das fragen! Ich sage mal vorsichtig: So weit sind wir noch nicht. Im europäischen Ausland ist das schon der Fall, in der Schweiz, in Dänemark, da gibt es allerdings wirklich vorwiegend im Jugendbehindertenbereich, da wurde die Problematik wirklich als solche erkannt und auch so genommen. Bloß im Altenpflegebereich sind wir wirklich noch nicht so weit.
Hanselmann: Sind denn in den Ländern, die Sie genannt haben, sexuelle oder erotische Dienstleistungen für Menschen mit starker Bewegungseinschränkung schon gang und gäbe?
Paulsen: Gang und gäbe, würde ich nicht sagen. Es sind auch da von den Kostenträgern immer Einzelfallentscheidungen. Aber man muss schon sagen, doch, im Jugendbehindertenbereich ... Etabliert, so weit würde ich jetzt auch nicht gehen, aber es ist bekannt, deutlich bekannt, das Problem.
"Ich habe das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben"
Hanselmann: Was meinen Sie, wird es noch lange dauern auch bei uns, bis das Thema, sagen wir, ganz aus der Tabuzone rauskommt?
Paulsen: Ich habe es mir zum Ziel gesetzt. Ich bin da auch wirklich hoch motiviert, weil ich auch sehe: Ich erkenne den Bedarf und da bin ich auch nicht alleine, ich habe wirklich im Moment das Gefühl, ich habe da in so ein Wespennest gestochen, was auch so die Anfragen unterschiedlichster Art und Weise, viele Heime kommen auf mich zu, super, können wir darüber mal sprechen, finden wir da Lösungen, wir würden das auch gerne anbieten, wir würden gerne unseren Bewohnern ein Angebot machen. Ob das dann wahrgenommen wird, ob das dann finanzierbar wird, das muss man im Einzelfall alles besprechen. Und das ist ja auch eine individuelle Geschichte, das kann man ja jetzt keinem irgendwie überstülpen.
Hanselmann: Aber man kann sagen, sehr, sehr lange musste es dauern, bis eine Idee wie die Ihre sich durchsetzt und tatsächlich dann auch im Internet zu erreichen ist. Die Internetseite nessita.de, warum heißt sie so?
Paulsen: Auch eine häufig gestellte Frage. Es musste ein Fantasiename her. Ich habe so sehr gegrübelt über Namen, die meine Leistung darstellen, und ich bin da nicht weitergekommen. Und nessita ist jetzt einfach aus dem Italienischen necessità, das Bedürfnis oder Gebrauchen, oder necessary aus dem Englischen, wir brauchen das.
Hanselmann: Ganz herzlichen Dank und viel Erfolg für nessita.de, Gabriele Paulsen, die Betreiberin dieser Homepage! Danke!
Paulsen: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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