Senija Lübke und der Bosnien-Krieg

Der Krieg in mir

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Senija Lübke © Elin Rosteck
Von Elin Rosteck · 12.07.2015
An Schlaf ist nicht zu denken: Jede Nacht holt Senija Lübke die Vergangenheit ein. Lübke stammt aus Bosnien, flüchtete vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat. Sie steht für 2,2 Millionen Menschen, die zwischen 1992 und 1995 vor dem Krieg flüchteten.
Last-Minute-Action im Kinderzimmer. Melissa, elf und Larissa, zehn Jahre alt kramen im Regal. In einer Stunde ist Abfahrt nach Bosnien. Ihre Mutter steht im Flur auf dem weißen Teppich und wühlt sich durch den Haufen Taschen und Plastiktüten. Muss alles noch ins Auto.
"Larissa? Das kannst du mir alles geben, das ist unser Essen, das kommt nach hinten, ok ...."
Zu viert fahren wir heute nach Bosnien - Senija, Melissa und Larissa Lübke nehmen mich mit. Wir sind alle aufgeregt und Senija geht es ...
"Super! Aber nicht geschlafen! Von Freude ... Adrenalin geht hoch, geht richtig hoch! Aber bin trotzdem fit jetzt ..."
Vor ihrem Haus in Iserlohn-Letmathe steht ein blauer Golf, der Kofferraum ist schon ziemlich voll.
"Unsere Koffer, für mich und Kinder, dann habe ich Geschenke für meine ganze Familie: Wir haben in Familie drei kleine Kinder gekriegt; dann haben wir Kindersachen Spielzeug, Klamotten, hier habe ich für unterwegs unser Essen, dann: warte Larissa, Mama macht das ..."
Seenija hat mir erzählt, dass sie nur ein T-Shirt und eine Hose besaß, als sie vor 15 Jahren in Iserlohn ankam. Ihre Anreise damals war eine Fahrt ins Ungewisse; eine Flucht vor dem Krieg in ihrer Heimat.
"Klappe zu - super, passt!"
Den Kopf mit anderen Dingen voll
Ich will gerne jetzt schon mehr wissen, aber Senija hat den Kopf mit anderen Dingen voll. Zum Beispiel den Rest Wäsche aus dem Keller hochholen; und die letzten Absprachen mit ihrem Mann.
"Senna? Hier lag noch ein Schlüssel ..."
Uli Lübke muss sich die kommenden Wochen allein um die Werkstatt kümmern; er repariert Autos und Oldtimer.
Letzte Instruktionen an Uli: "Das musst du mitnehmen nach Hasan, Tropfen ... hier hast Du Lottoschein, kannst Du spielen ..."
Die beiden haben sich in dem Balkan-Restaurant kennengelernt, in dem Senija die ersten Jahre nach der Flucht gearbeitet hat.
"Die war Gast - am Tisch war er nett - dann hat er angefangen zu charmen und hier und das und ..."
"Mama wollte ihn erstmal nicht als Freund haben, dann ist er ist ihr drei Jahre lang hinterher gelaufen; Mama hat ihn immer ignoriert und denn nach drei Jahren dann sind die zusammen gekommen, dann haben sie uns bekommen und dann haben sie geheiratet ..."
"Senija, wirklich, das ist der einzige Mensch in meine Leben, der mich wieder zum Lachen, zum weiter motiviert hat zum Leben, ehrlich. Einzige Mann in meinem Leben, das hat mich wirklich geholfen wieder vom Boden in den Himmel zum Gehen ... super."
"Tschüss, Papa!"
Der Abschied fällt schwer. Uli Lübke wischt sich verstohlen die Augen. Er ist 66, aufgewachsen im zerstörten Nachkriegsdeutschland und lebt jetzt seit elf Jahren mit einer Frau zusammen, die selbst im Krieg war.
"Ich geh da vernünftig mit um. Wir kommen ja manchmal, wenn ich bei ihr Zuhause bin, an gewissen Punkten vorbei ... ich spreche da nicht drüber, sondern ich erwarte, wenn sie spricht, ist das ok, ansonsten lassen wir das, wir haben jetzt die Zukunft, wir gucken nach vorne, wir können auch unsere Kinder nicht mit in Traurigkeit ziehen. Und das ist einfach unsere Prämisse, nach vorne gucken."
Sie mag es nicht, Spuren zu hinterlassen
Lübke ist weg, Senija wirft noch eben den Staubsauger an. Sie mag es nicht, Spuren zu hinterlassen und Leuten zur Last zu fallen. Es muss alles picobello sein, so hat sie es von ihren Eltern in Bosnien gelernt. So hat sie es immer auch in Deutschland gemacht.
Viertel nach zwölf, wir sind unterwegs. Senija ist angespannt; umklammert das Lenkrad. Sie hat in diesem Jahr den Umzug der Werkstatt in neue Räume organisiert; hat ihre älteste Tochter das erste Jahr am Gymnasium eng begleitet und gerade noch ihre jüngste aus der Grundschulzeit verabschiedet. Nebenbei kocht sie für die Kunden ihres Mannes und geht jeden Vormittag in einer Apotheke arbeiten. Sie ist urlaubsreif. Jetzt liegen 1600 Kilometer Fahrt vor ihr. Sie will Meter machen; Fragen kann ich später, sagt sie. Die Kinder kennen das schon; sie kichern auf der Rückbank still vor sich hin.
Erst hinter Regensburg breitet sich ein Lächeln auf Senijas Gesicht aus; ihre Freude ist ansteckend.
"Schön langsam, genießen Fahrt, nicht gucken Stunde ... guck mal, wunderschön, Himmel ... traumhaft - aber ich möchte nicht so lang warten, ich will zu Oma! ... da machst du wie Mama: Juhuu ..."
"Nach dem Krieg, wo ich kam hier, hab ich gedacht, nur kurz und dann ich bin wieder bei Familie. Ich war nie getrennt von meine Familie. Und wirklich, diese Zeit fehlt mir. Irgendetwas habe ich verloren, durch diese Zeit hier. Zusammen quatschen, zusammen genießen, zusammen essen. Das fehlt mir - ich glaub, sie meint damit die Nähe der Familie - ja, das fehlt mir, wirklich. Einmal im Jahr muss ich das wieder erleben."
Sie lächelt; ich kann fragen. So langsam gehen die Gedanken zurück; ins Jahr 1995. Ins Jahr von Srebenica und ins Jahr des Friedensvertrags von Dayton.
"Nach dem Krieg fehlt alles. Ist alles zu, nichts zum Essen, gar nichts. Ende. Alles, was hast Du gepflanzt, in Wald gesucht, das kannst Du essen, sonst hast du nichts. Von Kroatien Grenze zu, von Serbien und wir in der Mitte, da kommt nirgendwo, gar nichts. und in fünf Jahre, alles was hat Leute gehabt, Reserve ... Fünf Jahre ist zu viel, ist alles ist weg. Deswegen alle hat gesucht irgendwie zum Rausgehen, is egal, welche Land. Verstehe ich jetzt diese ... Flüchtlinge und so. Keiner geht nicht gerne von Zuhause – das habe ich alles gehabt. Einfach Tüte nimmst Du und paar Sachen und alles verlassen. Geht keiner nicht gerne. Dann fängst Du irgendwo wieder von vorne. Das ist nicht gut. Ist einfach muss."
Die Flucht war gefährlich
Senija gibt noch mal Gas. Die Flucht war gefährlich; es gab Landminen und hier und da noch Schießereien in den Bergen; obwohl der Bosnienkrieg damals offiziell längst vorbei war. 25 Tage lang geht es quer durch den Wald; von Banovici in der Bosnischen Föderation über die Grüne Grenze der Republik Srpska und ohne Visum weiter nach Kroatien, ständig in großer Gefahr.
"Das schlimmste die Übernachtungen im Wald. Jede Geräusche, kannst du nicht schlafen, einfach sitzen und guckst du wie Fuchs ... wer kommt, was kommt. Jede Kleinigkeit Geräusche bist Du schon aufgeregt, was denn jetzt los, was kommt."
In Momenten wie diesen kann sie fast darüber lachen, aber die Erinnerung kommt nachts über sie. Ein Vetter von ihr und ein Nachbar aus dem Dorf sind damals mit auf der Flucht, bis nach Zagreb. Da trennen sich ihre Wege und Senija gelangt irgendwie zu ihrer Tante nach Iserlohn.
"Dann musst du arbeiten, irgendwas zum Arbeiten finden, aber ohne Sprache geht gar nichts. Zur Schule kannst du nicht, da brauchst du Geld, dann brauchst du Unterstützung. Einfach ja, dann durch die eine Stelle, zweite Stelle, dann habe ich Gerätschen gekauft, dann habe ich aufgenommen auf der Straße; bisschen aus Fernseher, dann habe ich gelernt so ein bisschen - einfach paar Wörter lernen, dass ich kann kommunizieren und so."
Tankpause irgendwo in Slowenien, die Sonne geht gerade unter.
"Bei Oma sitzt Du im Wohnzimmer, in der Küche praktisch - und dann die steht vor die Fenster schon so - traumhaft ..."
Ihre Vorfreude macht mir Gänsehaut. Senija ist die jüngste von vier Geschwistern und bei Kriegsende die einzige, die noch keine eigene Familie gegründet hat.
"Ich war 20, mein Traum für Schule, zum studiert konnte ich nicht mehr, im Krieg das ist alles verplatzt, ich war irgendwie enttäuscht, deswegen habe ich gesagt, alle hat hier Kinder zu Hause, ich gehe jetzt durch die Welt, ich schicke Euch Geld, damit wir alle überleben. So habe ich gemacht. Die ersten zehn Jahre jeden Cent habe ich nach Hause geschickt, jeden Cent."
Die Kinder haben eine fette Spinne an der Zapfsäule entdeckt. Eigentlich sprechen die drei bosnisch miteinander, aber sie sind höflich. Solange die Reporterin dabei ist, bleiben sie bei Deutsch. Senija hat lange gebraucht, um es zu lernen. Deshalb ist sie anfangs auch so froh, dass sie bei ihrer Arbeitssuche in Letmathe in ein Balkan-Restaurant stolpert.
"Das ist Landsleute, das ist Kroate, habe ich gedacht, das ist Landsleute, hilft Dir."
14 Stunden, sechs Tage die Woche
Sie kann als Putzfrau sofort anfangen und arbeitet sich zur Chefin de cuisine nach oben. Doch schön war es nicht. 14 Stunden, sechs Tage die Woche arbeiten für gerade mal 900 Euro Lohn, um den sie oft genug noch streiten musste, erzählt sie weiter, als wir wieder im Auto sitzen und durch Kroatien rollen.
"War ich richtig stinksauer ... ich muss arbeiten, weil die Leute wissen, woher ich komme und dass ich muss machen, ich muss tun ... die hat ausgenutzt, alle unbezahlte Leute hat genommen in Restaurant, keine Deutsche, nur aus Bosnien, aus Kriegsland und die Leute hat einfach auf diese Rücken von diese Leute ihr Geld verdient."
Zehntausend Euro schuldet ihr der Mann noch, erzählt sie, als wir wieder auf eine Grenze zurollen; Geld, das ihre Mutter und Geschwister gut hätten brauchen können.
"Ich hab viel verloren in Bosnien und hier von vorne angefangen. Soll ich mich jetzt wieder ärgern? Hab ich wieder gedacht, geh´ ich wieder von vorne, Krieg möchte ich nicht mehr erleben, ob da hier oder irgendwo. Jeder kriegen seine Gerechtigkeit, irgendwann. Das ist einfach so."
Um zwei Uhr nachts passieren wir die Grenze nach Bosnien, Senija dreht das Radio auf und strahlt mit dem Vollmond draußen um die Wette. Disko-Stimmung mit bosnischen Volksweisen.
"Hurra! Ja, wir sind zuhause!"
Der Jubel kann die Nachrichten auf dem anderen Sender nicht übertönen: Es geht um Srebenica; das Massaker, die Folgen; alles das hat auch Senija damals mitbekommen ...
Nicht über das Radio, sondern durch die Flüchtlinge, die zu Dutzenden plötzlich im Wald auftauchten; verhuschte, zu Tode erschreckte Gestalten, erzählt sie; hungrig, zerlumpt. Aber, darüber will sie um nichts in der Welt jetzt sprechen. Jetzt will sie nur ihre Mutter in den Arm nehmen, den Krieg außen vor lassen, die Gegenwart feiern.
Schlafende Dörfer
Wir brausen durch schlafende Dörfer; Minarette und Kirchtürme stehen vis-a-vis sich gegenüber; riesige Heuhaufen und halb fertig gebaute Häuser säumen links und rechts die Straßen. Ein Land im Aufbau. Dann geht es einen letzten Hügel empor und es gibt kein Halten mehr.
Omas Haus kommt in Sichtweite. Sie wohnt ganz oben mit dem besten Ausblick über das Tal ... und die Straße. Der Vorhang ist offen. Die Kinder springen ihrer Oma in die Arme, sehe ich im Rückspiegel; Senija muss das Auto noch wenden, damit es in die enge Auffahrt passt.
"Was habe ich Dir gesagt, Gardine ist auf, sitzt auf Couch ganze Nacht, sitzen und warten."
Die Mutter steht auf der Außentreppe, die Arme weit offen. Die frühe Sonne strahlt ihr ins Gesicht, aber das ist nichts gegen das innere Leuchten, mit dem sie ihre Tochter empfängt. Endlich wieder zusammen. Nana hat viel Angst gehabt um ihre Jüngste.
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Ländliche Idylle© Elin Rosteck
Selbst ich als Besuch kriege einen herzlichen Schmatzer links und rechts, versinke kurz in diesen Armen und fühle mich unendlich geborgen. Diese Mutter zu verlassen nach dem Krieg, das muss schwer gewesen sein. Es ist mittlerweile sechs Uhr; wir waren 18 Stunden unterwegs. Zeit, zu schlafen. Senija zeigt mir mein Reich, die ganze mittlere Etage. Hat sie für Gäste ausgebaut. Sie selbst schläft oben bei ihrer Mutter.
"Ich bin nur hier, wenn Uli da. Und wir liegen jetzt auf der Couch, habe gesagt erst mal Stille, da können wir uns hinlegen und dann kannst mir ein paar Sachen erzählen. Muss ein bisschen Ruhe. Habe ich harte Job gehabt, ganze Nacht und gestern ganze Tag lacht. Brauche Ruhe jetzt! Schön ausschlafen, so neun, zehn Uhr."
Sie schließt die Tür. Frühstück um zehn, sagt sie beim Rausgehen. Jetzt ist es sieben ... Von wegen Ausschlafen!
Als ich dreieinhalb Stunden später über die Außentreppe und den Außenflur hundemüde ins Wohnzimmer wanke, da warten schon alle auf mich. Keine der Frauen hat geschlafen! Die Kinder haben Haus und Hof in Besitz genommen und ihre beste Freundin unten im Dorf besucht; Senija und ihre Mutter nonstop Neuigkeiten ausgetauscht. Jetzt gibt es Senijas Lieblingsessen aus dem Backofen; Riiza Z mit Häkchen drauf; Reis mit Hühnchen. Wir sitzen auf winzigen Hockern um den Wohnzimmertisch herum.
Die Oma lächelt selig und guckt zu. Sie hat sonnengegerbte Haut und Hände wie Schaufeln. Sie trägt eine weite Pluderhose und ein nach hinten gebundenes Kopftuch über ihren grauen Haaren. Sie hat ihr Leben auf dem Feld verbracht und damit, ihre Kinder und Enkel aufzuziehen. An den Wänden ringsum hängen die Fotos; eines davon zeigt Senija mit Kochmütze in dem Iserlohner Balkan-Restaurant. Der Krieg war schrecklich für Oma.
"Sie hatte Angst um Kinder! Männer zum Militär, andere Kinder, Enkelkinder, Schwägerin, alle kamen hier; Oma ist wie ein Bienchen, alles besorgt, dass alle kriegen was zu essen; und hatte auch Angst um mir, wo ich gehen nach Deutschland alleine durch die Welt; auch ein Punkt, wo hat richtig gelitten; was passiert die lange Weg ... aber kann jetzt lachen, hat alles gut geklappt lacht."
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See bei Banovici in Bosnien und Herzegowina© Elin Rosteck
Ich schaue mich um. Die Einrichtung ist einfach, aber geschmackvoll und vor allem: neu. Die Kunststoffenster, die Vorhänge, die holzfarbige Küchenzeile, alles von Senijas Geld gekauft. Die ganze Familie hat geholfen, hier Stein auf Stein neu zu setzen. Der Blick aus dem Fenster zeigt nicht nur ein liebliches Tal, sondern auch einen großen Hügel; die Kampflinie. Dort lagen sich die Gegner gegenüber. Muslimische Bosniaken und katholische Kroaten gegen orthodoxe Serben, so hörten wir damals in Deutschland im Radio. Aber die Wirklichkeit war viel komplizierter, sagt Senija, und wer gegen wen, in jedem Dorf ein bisschen anders. Morgen werden wir dorthin gehen; heute will sie in die Stadt.
Wir sind in Banovici, Downtown sozusagen, eine Viertelstunde Autofahrt entfernt von Omas Haus. Am zentralen Platz steht ein mächtiges Hochhaus; Plattenbauweise, drumherum etwas heruntergekommene Mehrfamilienhäuser. An vielen Ecken platzt der Putz ab; Reste von Granatsplittern, erzählt Senija, die nie beseitigt wurden.
"Alles provisorisch gemacht, siehst Du das, Fassade, nach dem Krieg. Da oben guck mal, das ist alles kaputt gewesen, hier, dahinten. Diese ist ganz schlimm, diese Haus ..."
Wir überqueren die Straße und schlendern an einer Gedenkstätte vorbei. Für die Gefallenen aus der Brigade 119 aus Banovici. Eine langgestreckte, helle Granitplatte. Die Namen sind in Goldlettern eingraviert. Auch Senijas Familie hat viele Tote zu beklagen.
"Diesen Krieg versteht keiner, glaub mir, keiner, nach so viele Jahren. Das ist auf einmal angefangen, überall, auf einmal. Und versteht keiner immer noch nicht, nach 20 Jahren, welche Grund ist diese Krieg gewesen. Das ist wie im Traum passiert."
Sie schüttelt den Kopf; hier leben alle zusammen ...
"Orthodox mit katholisch verheiratet, katholisch mit Muslimen, Muslime mit orthodoxen, das meine ich. Die Kinder sind halb-halb, genau wie meine; ich bin Muslimin, meine Kinder sind halb muslim, halb katholisch. 80 Prozent, wir gucken nicht auf diese Religion; alle leben zusammen, ja, heiraten, Kinder kriegen und das war auf einmal wie mit Händeklatsch Krieg und mit Händeklatsch das ist alles vorbei. Das ist wie Traum, dass hier das passiert dieser Religionskrieg. Das versteht keiner bis jetzt nicht."
Sie schimpft auf die Politik, während wir zurückschlendern; auf Karadzic, auf Mladic, die großen Serben-Führer aus der Zeit, deren Prozesse vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag noch immer nicht abgeschlossen sind. Dann setzen wir uns in ein Café am zentralen Platz. Hier hält Senija heute Hof.
Alle wollen die Cousine, die Schwester, die Freundin wieder sehen. Auch Denis schaut bei uns vorbei, ein gutaussehender, junger Mann von 28 Jahren; gelernter Kuchenbäcker mit Meisterbrief. Aber auch er hat Zeit mitten am Tag.
"Das ist bisschen Problem in Bosnia. Alles ist gut, alles ist wunderbar, aber keine Arbeit. Kein Geld. Für keine Frau und so. Immer noch bleibt bei Mama und Papa in Hause und ..."
Euro sind hier Gold wert
Er zuckt die Achseln und hofft auf die kommenden Jahre. Die Wirtschaft aber liegt noch immer am Boden und gerade die jungen Leute finden keinen Job. 70 Prozent Arbeitslose, ohne jegliche staatliche Hilfe. Senija gibt noch einen aus; Kaffee, Wasser, Limonade fließen, die Kinder kriegen Eis und Pizza. Ihre Euro sind hier Gold wert und sie genießt es, in der Wärme zu plaudern und zu lachen.
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Senija Lübke mit ihrem Bruder und ihren Töchtern.© Elin Rosteck
Am nächsten Tag auf dem Hof von Senijas mittleren Bruder. Irgendwo hier zwischen Haus und Hühnerstall müsste er eigentlich stecken; und richtig, er kommt hinter zehn Meter hohen Heubergen hervor.
Cazim, genannt Al Capone ist groß und kräftig gebaut. Er ist Lehrer und - nach Feierabend - Landwirt. Seine Kuh erwartet ein Kälbchen, die Kinder ziehen uns in den Stall. Die ganze Familie lebt von der Kuh, erzählt er; er braucht die Milch: für Käse und Schmand; und das Kälbchen will er verkaufen.
"Die ackern wie verrückt, jede Art musst du kämpfen. So läuft hier, nicht auf dem Couch und DVD gucken - bisschen Nüsse hier und da; gibt´s nicht! Bis heute Abend zehn, elf Uhr, die geht rein!"
Senija dreht sich um und geht. Es regt sie auf, dass ihre Familie so hart arbeiten muss und dass die Reporterin aus Deutschland das gar nicht begreifen will. Sein Lehrergehalt reicht nicht, um Frau und Kinder zu ernähren. Was sie essen, bauen sie im Garten selbst an, wie überall in Bosnien. Das Heu für die Kuh schneiden sie mit der Hand; und wo immer es ein paar bosniakische Mark extra zu verdienen gibt, da steht Al Capone bereit und schweißt und schraubt. Die Töchter haben beide studiert; keine von beiden hat Arbeit. Aber Al Capone führt uns zu seinen Himbeersträuchern. Wir sollen tüchtig ernten und essen. Er lacht.
Dann fahren wir los, auf den Kriegshügel. Al Capone sitzt am Steuer, Senija mit den Kindern hinten.
Senija ist in allen Waffen ausgebildet und war im Krieg Teil des Fahrdienstes, der bei Bombenalarm Frauen und Kinder in die Schutzräume gebracht hat. Und jetzt fahren wir langsam auf den Berg hinauf, von dem die Granaten fielen. Hier das Haus, wo sich die Truppen ausruhen konnten, da die Feldküche. An einer Gedenktafel am Hang steigen wir aus. Es ist für einen Moment gespenstisch still.
"Nach dem Krieg war ich nicht hier - ich drücke diese Sache auf die Seite, ich will vergessen alles. Ich kämpfe seit 20 Jahren mit meiner Schlaflosigkeit und alles, das will ich nicht mehr."
Dennoch gehen wir weiter. Sie will mir das zeigen. Wo Bruder gegen Schwager gekämpft hat, und Neffe gegen Onkel. Allein in Bosnien sind 100.000 Menschen diesem Krieg zum Opfer gefallen.
"Guter Tipp von mir: Achte auf Schlangen!"
Im Wald liegen überall noch Minen
Die Kinder sind fröhlich. Sie kennen die Geschichten aus dem Krieg, aber die können ihnen nichts anhaben. Gut für uns; das hebt die Stimmung. Al Capone klettert eine Böschung hinauf, ich sehe, wie sich etwas in Senija zusammen zieht. Im Wald liegen überall noch Minen. Al Capone winkt uns hinauf und zeigt auf eine ovale Vertiefung im Boden: Eine Schützenstellung.
"Direkt an Schießlinie stehst du gerade. Hast du mulmige Gefühl? Kannst dir vorstellen?
Alle sechs Meter so eine Vertiefung. Senija ist blass und schweißgebadet.
"Grausam. Das ist schon wie Pfeffer in Körper. Das steht: Vorsicht Mine! Wenn die ganze Wald, wenn die kommt durch, dann stellen sie Minen; dann kommt keiner nicht mehr rein ... und die steht immer noch."
Vermintes Gebiet - ein gelbes Flatterband im Wald warnt noch vor der Gefahr - Sie wendet sich ab; sie ist 25 Tage lang durch solch verminte Wälder geflüchtet.
"So, können wir jetzt zurück gehen?"
Wir gehen zurück, immer schön auf dem breiten Waldweg, die Kinder wieder vorne weg.
"Wenn sie sagt, 'Kinder geht da weg', dann merkt man sofort, dass sie Angst hat. Wenn sie schläft, dann schläft sie nur ein bisschen, sie hat nie Vollschlaf. Also, das sitzt wirklich tief in ihr. Sie kann zwar wieder lachen und alles mögliche, aber trotzdem, das kann man nicht einfach so vergessen, auch nach so vielen Jahren."
Wie vielen Menschen mag es noch so gehen auf dieser Welt? Überlege ich auf der Rückfahrt. In Europa sitzen uns die Folgen des Zweiten Weltkrieges noch in den Knochen und aktuell wüten immer noch 30 Kriege in der Welt. Dazu unzählige Scharmützel und Auseinandersetzungen, die Menschen töten und ihnen die Lebensgrundlage rauben. Wie gehen wir am besten damit um? Al Capone fährt uns an ausgebrannten Ruinen vorbei, aber auch durch neu aufgebaute, blühende Dörfer. Senija macht es richtig, finde ich.
Wir haben Halt gemacht an einem wunderschönen See. Das Wasser glitzert türkisfarben, die Kinder plantschen. Und Senija sitzt am Ufer und hält ihr Gesicht in die Sonne; sie hat ein Rezept gegen den Krieg.
"Kannst Du nie vergessen, das steht irgendwo im Kopf, im Herzen, innere Organe gibt´s irgendwelche Flecke, aber mit dieser Liebe für die anderen und so, trotzdem Leute schieben auf die Seite, das war einfach geschehen. So ist das."
Sie dreht den Kopf und schaut ihren Kindern beim Toben zu.
"Meine Mann hat mir richtig geholfen, dass ich komme wieder hoch. Ich habe gelitten, aber wie! Richtig, diese 20 Jahre waren für mich richtig schwer. Im Krieg, nach dem Krieg, dann wo ich kam nach Deutschland, ohne Sprache ohne helfen; da habe ich selber gekämpft, gemacht, getan, habe mir Mühe gegeben. Dann kamen meine Kinder, mein liebe Mann - da bin ich wirklich hier und in Deutschland wie eine Prinzessin lacht. Das finde ich auch gut! Mindestens jetzt habe ich Ruhe in meine Leben und Liebe. Toll. Ich fühle mir wirklich wohl."
Morgen wird sie ihrem Bruder im Garten helfen. Und für die Mutter Gemüse einkochen. Und Heu machen. Und sie wird gemeinsam mit ihrer Familie um Tische herum sitzen und lachen und damit - jeden Tage ein bisschen - den Krieg in sich verjagen.
Elin Rosteck: "Senija habe ich in der Autowerkstatt ihres Mannes kennengelernt, am Rande einer Recherche. Sie ist mir sofort aufgefallen. Eine Frau im Funktionsmodus; eine, die im Hintergrund die Fäden zieht; eine, die voller Traurigkeit steckt. Ich hörte, dass sie aus Bosnien stammt und im Krieg war und dass sie nachts nicht schlafen kann. Seit zwanzig Jahren! Wie kriegt man das hin, wollte ich wissen; und sie sagte: komm mit nach Bosnien, dann erzähle ich Dir alles."
Elin Rosteck
Elin Rosteck © privat
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