Seltsam heiterer Chronist des Schreckens

Rezensiert von Jan Fleischhauer · 09.01.2011
Insgesamt 15 Notizbücher hat Ernst Jünger zwischen Dezember 1914 und August 1918 vollgeschrieben. Anders als die literarischen Werke, die er immer wieder überarbeitete, sind die Tagebücher noch ganz rohes Erleben.
19 ist ein Alter, in dem man sich das Leben um die Ohren blasen lässt, in dem man wilde Pläne schmiedet, träumt und feiert und mit einem Mädchen Händchen hält. Ernst Jünger ist gerade 19 geworden, als er sich von der Schulbank zu den Soldaten meldet. Deutschland liegt seit zwei Monaten im Krieg mit Frankreich, England und Russland, Jünger wartet das Einverständnis des Vaters ab, dann lässt er sich beim Füselier-Regiment 73 einschreiben. Am 27. Dezember 1914 steht er an der Westfront, fünf Tage später erlebt er den ersten Granatbeschuss.

"Plötzlich krachte es ziemlich in unserer Nähe. Dann pfiff es dreimal über uns hinweg. Alles lachte und niemand lief, aber jeder senkte den Kopf. Wenige Augenblicke später wurden die ersten Getroffenen auf Zeltbahnen herangetragen. Der erste, den ich sah, war blutüberströmt und rief ein heiseres ersticktes 'zu Hilfe, zu Hilfe'. Dem Zweiten hing das Bein lose vom Schenkel. Einige große Blutlachen röteten die Straße und am Pfeiler klebte Hirn."

So beginnt der Einsatz des Fähnrichs Jünger in der Blutmaschine des Ersten Weltkriegs, so beginnen auch die Kriegstagebücher, in denen er das Erlebte festhält. Insgesamt 15 Notizbücher hat Jünger zwischen Dezember 1914 und August 1918 vollgeschrieben, im Rückgriff auf diese Aufzeichnungen hat er später seine Kriegsbücher verfasst, allen voran das berühmte "In Stahlgewittern". Anders als die literarischen Werke, die er immer wieder überarbeitete, sind die Tagebücher noch ganz rohes Erleben, hastig hingeworfene Notizen zwischen Kampfpausen, sind Momentaufnahmen aus dem Mahlstrom des Krieges, in dem am Ende zehn Millionen Menschen untergegangen sein werden.

Man weiß nicht, was man bewundernswerter oder, je nach Temperament, auch schauerlicher finden soll: die Beobachtungsgabe des jungen Frontkämpfers oder die Kaltblütigkeit, schon nach der nächsten Schrapnellbeschießung eine erste Schadenbilanz im zerstörten Unterstand zu ziehen. Immer hat Jünger eine seiner kleinen braungebundenen Kladden zur Hand, um die Zerstörungskraft feindlicher Einschläge zu dokumentieren. Er scheint dabei völlig ungerührt, ein seltsam heiterer Chronist des Schreckens, der auch noch die Zeit findet, zwischen zwei Waffengängen seinem Hobby, der Jagd nach Käfern nachzugehen.

Jünger wäre ein glänzender Reporter geworden, keine Frage. Er besitzt den schonungslosen Blick auf seine Umwelt, der den guten Reporter vom schlechten unterscheidet. Statt zu werten, beschreibt er, was vorfällt – wo andere sich abwenden würden, sieht er genau hin. Am 28. April 1917 heißt es nach einem Granateinschlag:

"Dem einen war der Kopf oben am Hals abgeschlagen, auf dem Rumpf saß der Hals wie ein großer, blutiger Schwamm. Der zweite hatte einen abgeschlagenen Arm, aus dem der zersplitterte Knochen ragte und eine große Brustwunde. Das ist das Gesicht des Krieges. Es ist ein unheimlicher Anblick, dieses Bergen der Toten im dunklen, wüsten Keller. Auf dem Gesicht der zwei Toten, die noch einen Kopf hatten, hatte sich das feine gelbe Ziegelmehl niedergesetzt und bewirkte, dass die Köpfe fast wie Wachsmasken aussahen."

Es ist diese Selbstverpflichtung zur absoluten Sachlichkeit, die Jüngers Kriegserlebnisse von Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" unterscheidet, dem anderen großen Zeugnis des Stellungskrieges. Remarque gehört bis heute zur Lektüre jedes Leistungskurses Deutsch. Jünger taugt nicht als Schullektüre, dazu wirkt er zu kalt. Dieser Autor will Bericht liefern, auch über die Faszination und Ästhetik des Schreckens, keine Anklage, das macht ihn bis heute verdächtig. Dabei kann man Jünger nicht vorwerfen, den Krieg zu verherrlichen, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Das Pathos der Generäle, die dem Massentod einen Sinn unterlegen wollen, ist ihm gänzlich fremd. Nur ausnahmsweise gestattet er sich das, was er "Wachstubenphilosophie" nennt.

"Was soll dieses Morden und immer wieder morden? Vorm Krieg dachte ich wie mancher: Zerschlagt das alte Gebäude, das neue wird auf jeden Fall besser. Aber nun - es scheint mir, daß alle Kultur und alles Große langsam vom Krieg erstickt wird. Der Krieg hat in mir doch die Sehnsucht nach den Segnungen des Friedens geweckt."

Jünger ist nicht aus nationaler Begeisterung in den Krieg gezogen, sondern aus Abenteuerlust, wie er in seinem Tagebuch bekennt. Das Militär erschien ihm als der einfachste Weg, der Schule zu entkommen. In den vier Frontjahren wird er sieben Mal verwundet, an seiner Uniform trägt er die höchsten Orden, die das preußische Militär zu vergeben hat. Doch das Fazit am Tag des Waffenstillstands ist so lakonisch wie alle Notizen seines Kriegstagebuches:

"Zum Hurraschreien liegt kein Grund vor. Ich bin auch nie sonderlich dazu aufgelegt gewesen."

Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914-1918. Herausgegeben von Helmuth Kiesel
Klett-Cotta, Stuttgart 2010
Buchcover "Kriegstagebuch 1914-1918" von Ernst Jünger
Buchcover: "Kriegstagebuch 1914-1918" von Ernst Jünger© Klett-Cotta