Seltene Krankheiten

Die Waisen der Medizin

Aerztliche Kunst, solides Handwerk und ein hohes Mass an High-Tech wirken zusammen.
Trotz High-Tech bleiben Menschen mit seltenen Erkrankungen oft ohne Hilfe © picture alliance / Klaus Rose
Von Stephanie Kowalewski · 16.10.2014
Prader-Willi-Syndrom, Pick-Krankheit oder Morbus Hirschsprung sind nur einige Namen von schätzungsweise 6000 seltenen Erkrankungen. Die meisten verlaufen chronisch und sind nicht heilbar. Nur für wenige Hundert gibt es überhaupt eine Therapie.
Leise und ganz zärtlich weckt Michael Fornfeist seine Tochter. Lili wacht auf in einem typischen Mädchenzimmer, viel Rosa, viele Kuscheltiere. Ihr Bett steht am Fenster, so kann sie in den großen Garten schauen, den sie so liebt. Lili hat lange braune Haare und rot lakierte Fingernägel, wie es 14-jährige Mädchen eben gerne haben. Doch Lili kann sie sich nicht selbst lakieren. Sie kann auch nicht selbst essen, kaum noch sprechen und laufen. Lili hat Niemann Pick Typ C. Eine Erkrankung, die so selten ist, dass sie nur einer von 150.000 Menschen hat.
Michael Fornfeist: "Bei Niemann Pick, das ist eine Stoffwechsel-Speicherkrankheit, da lagert sich Cholesterin in den Zellen ab, weil es nicht in den Zellen richtig weiterbefördert werden kann. Und dadurch sterben halt im Gehirn Zellen ab. Und vor allen Dingen ist das Kleinhirn betroffen. Deswegen haben diese Kinder auch ganz schnell Sprachproblme. Und da kommen dann aber noch zehn andere Symptome mindestens dazu und deswegen werden die auch nur sehr schwer diagnostiziert."
Seine Tochter Lili ist eine von schätzungsweise vier Millionen Menschen in Deutschland, die an einer Seltenen Erkrankungen leiden.
Forscher verschiedener Fächer arbeiten zusammen, um Diagnosen zu stellen
Klockgether: "Ja, das ist ein Paradox. Wir reden von Seltenen Krankheiten und tatsächlich sind aber viele Menschen davon betroffen."
Sagt Thomas Klockgether, Leiter der Abteilung Neurologie am Universitätsklinikum Bonn, die auch Teil des dortigen Zentrums für Seltene Erkrankungen ist. In solchen Zentren arbeiten Ärzte und Forscher verschiedener Fachrichtungen eng zusammen, um Diagnosen zu stellen und Betroffenen - als eine Art Lotse - den Weg zu Experten und Therapien zu zeigen.
Die Medizinstudenten Juliane und Carola arbeiten am 13.02.2014 im Referenzzentrum für seltene Erkrankungen der Uniklinik in Frankfurt am Main (Hessen) an Patientenakten.
Viele Menschen in Deutschland leiden an einer Krankheit, mit der sie fast alleine sind, oder die noch gar nicht bekannt ist. In einem Frankfurter Referenzzentrum sollen Studenten lösen, woran Fachärzte scheitern.© picture alliance / dpa
"Da gibt es eine ganz klare aber auch bisschen willkürliche Definition: jede Krankheit gilt als selten, wenn die Häufigkeit weniger als 50 auf 100.000 Einwohner ist. Wenn man das umrechnet auf eine Stadt wie Bonn, wir haben etwa 300.000 Einwohner, wäre das jede Krankheit von der durchschnittlich weniger als 150 Menschen betroffen sind."
"Seltene Erkrankung bedeutet Kampf ohne Ende"
Die meisten dieser Erkrankungen treten aber wesentlich seltener auf. Manche gelten sogar als Ultraseltene Erkrankung, wie die, von der Brigitte Heuwold betroffen ist.
Heuwold: "Ich habe eine der seltensten Muskelerkrankungen, die es gibt. Die gibt es nur in zwei Familien in ganz Europa. Und die heißt Myofibrilläre Myopathie nach Filamin C."
Das Protein Filamin C sorgt dafür, dass - vereinfacht ausgedrückt – der Muskel richtig arbeiten und man sich bewegen kann. In den Muskeln der 63-Jährigen fehlt das Filamin C. Die Folge ist eine unheilbare, langsam fortschreitende Muskelschwäche.
Heuwold: "Ich kann mittlerweile keine Treppenstufe mehr gehen, ich kann meine Haare nicht mehr fönen, ich muss Nachts von meinem Mann gedreht werden, ich kann nicht aus der Wanne. Mein Mann liftet mich aus der Wanne. Und ich hab einen Rolli in der Küche, ich hab einen Rolli im Auto, ja, was hab ich denn noch Uli? Ja, den besten Mann, den es gibt."
Verliebt und auch dankbar schauen sich die beiden an, fassen sich kurz bei den Händen. Seit 13 Jahren kümmert sich ihr Mann Ulrich mehr und mehr um seine Frau. Er ist es auch, der sich mit Ärzten, Krankenkassen, Versorgungsämtern und sonstigen Behörden anlegt.
Gemeinsam verpassen sie kein Treffen der Selbsthilfegruppe für Muskelerkrankte in Ratingen bei Düsseldorf.
Ulrich Heuwold: "Seltene Erkrankung bedeutet also wirklich Kampf ohne Ende. Und das ist das, was manchmal mürbe macht. Und das macht auch Sinn für eine Selbsthilfegruppe. Wenn jemand mürbe ist, dann findet irgendwo einer wieder einen Weg. Und ich muss ihnen ehrlich sagen: ich kenne keine fröhlichere, ehrlichere, nettere Gruppe als diese hier."
"Nix Falsches sagen."
Im Englischen heißen diese Krankheiten "orphan diseases" – was soviel bedeutet wie Waisenkrankheiten. Und tatsächlich werden die Betroffenen eher stiefmütterlich behandelt: Von der Forschung, von der Pharmaindustrie, von Ärzten und Politikern, den Krankenkassen und auch von unserer leistungsortientierten Gesellschaft.
Um das zu ändern hat der Rat der Europäischen Union seine Mitgliedsstaaten verpflichtet, einen nationalen Aktionsplan zu erarbeiten und die Bildung anerkannter Fachzentren zu fördern. In Deutschland gibt es einen solchen Plan seit August 2013, sagt Miriam Schlangen, nicht ohne stolz. Sie leitet die Geschäftsstelle des dazu gegründeten "Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen", kurz NAMSE.
Schlangen: "Das Besondere ist, das dieses Bündnis wirklich aus allen wesentlichen Playern im deutschen Gesundheitssystem besteht. In diesem Aktionsplan sind insgesamt 52 Maßnahmenvorschläge entstanden. Und das wichtige ist, glaube ich, dass die wirklich im Konsens entwickelt worden sind. Man geht davon aus, dass es bis zu 8000 Seltene Erkrankungen gibt. Sie kriegen auf diese Weise ein zu Hause. Ganz sicher."
"Alle haben das gleiche Problem"
Fast alle Seltenen Erkrankungen verlaufen chronisch, die wenigsten sind heilbar und nur für wenige Hundert gibt es überhaupt eine Therapie. Fast 80 Prozent dieser Krankheiten sind genetisch bedingt und in den allermeisten Fällen sind mehrere Organe gleichzeitig betroffen. Es gibt Kinder, die wie im Zeitraffer altern und bereits in der Pubertät wie Greise aussehen. Es gibt eine kaum erforschte chronische Schlaflosigkeit, bei der die Patienten im Schnitt nach 13 Monaten ins Koma fallen und sterben. Andere müssen jeden Sonnenstrahl meiden, da sie ein tausendfach erhöhtes Hautkrebsrisiko haben.
Betroffene Kinder gehen nur im Dunkeln auf den Spielplatz und in einer Art Ganzkörperanzug zur Schule. Viele Seltene Erkrankungen führen zu Kleinwuchs, bei anderen wachsen einzelne Körperteile überdimensional. Und obwohl die Krankheiten sehr verschieden sind, leiden die meisten Betroffen doch an den selben Dingen, sagt der Neurologe Thomas Klockgether:
Klockgether: "Alle haben das gleiche Problem, dass die Diagnose ihrer Krankheit häufig sehr verzögert gestellt wird, weil eben die Krankheit nicht so bekannt ist. Und dass es dann sehr schwer ist, Ärzte zu finden, die sie dann auch kompetent beraten und behandeln können."
Laut einer EU-Untersuchung dauert es durchschnittlich sieben Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt wird. Manche warten Jahrzehnte darauf, einige erfahren nie, woran sie leiden. Die meisten haben eine Odyssee durch Arztpraxen und Kliniken hinter sich, bis sie endlich einen Namen für ihre Beschwerden bekommen. So war das auch bei Lili.
Schuleingangsuntersuchung war ein Schock
Die heute 14-Jährige war ein aufgewecktes Kleinkind. Mit einem Jahr konnte sie laufen, mit Drei fuhr sie alleine Fahrrad. Dann, im Alter von 3,5 Jahren fiel sie öfter hin, bekam einen tapsigen Gang und stotterte plötzlich. Die besorgten Eltern dachten, das läge am Umzug und dass sich das mit der richtigen Förderung schon wieder einrenken würde. Lili ging zu einer Logopädin, später kam noch Ergotherapie hinzu. Experten nannten das jetzt „Entwicklungsverzögerung", nichts Dramtisches also.
Sabine Fornfeist: "Ja, und dann kam die Schuleingangsuntersuchung."
Und die war ein Schock, sagt Sabine Fornfeist, während sie ihrer Tochter am Tisch in der Wohnküche winzige Stückchen Brot in den Mund schiebt.
Sabine Fornfeist: "Die Lehrerin hat tatsächlich zu uns gesagt. Lili ist eventuell an der Grenze zur geistigen Behinderung. Und wir saßen da und waren wie erschlagen. Und die Erzieherinnen auch: Was Lili? Die ist nicht mal lernbehindert. Also wir waren empört und sauer. Wir konnten das überhaupt nicht fassen."
So sorgten die Eltern dafür, dass ihre Tochter auf eine Schule für Kinder mit körperlichen Entwicklungsschwierigkeiten kam. Doch schon im ersten Schuljahr mussten sie erkennen:
Sabine Fornfeist: "Ja, sie ist geistig behindert. Was sie vorher nicht war. Und da gingen bei uns die Alarmglocken an. Wir dachten, dieser Prozeß muss aufhören. Also dass sie körperlich nicht mehr mithalten konnte, war ja eine Sache, aber dass man das Gefühl hatte, sie verliert ihren Geist auch und die Rolläden gehen runter und sie hat in die Hose gemacht. Und das war für die Schule auch ein Alarmzeichen, dass viele Gespräche stattgefunden haben: stimmt was bei ihnen zu Hause nicht, gibt es Probleme in der Familie, belastet sie irgendwas. Wir dachten, füttern wir ihr irgend etwas Falsches, hat sie eine Allergie, hat sie irgendwann einmal Sauerstoffmangel gehabt, ohne dass wir was bemerkt hätten. Wir haben in jede Richtung geforscht. Und waren einfach total verzweifelt."
Es ist unübersehbar, dass Lili alle Fähigkeiten, die sie einmal besaß, Stück für Stück verliert. Sie wechselt auf eine Schule für geistige Entwicklung. Pure Verzweiflung. In diesem Stadium kann sich die Familie noch nicht mal an eine Selbsthilfegruppe wenden. Dafür bräuchten sie eine Diagnose, und die haben sie noch immer nicht. Dabei sind die Selbsthilfegruppen gerade für Menschen, die an einer Seltenen Erkrankung leiden, so wichtig, sagt Dieter Puls. Er organisiert die monatlichen Treffen für Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen in Ratingen.
Puls: "Denn bei Seltenen Erkrankungen muss man kämpfen. Die Krankenkassen wehren sich in der Regel, weil die Sachbearbeiter dort nicht die Kenntnisse haben. Ärzten muss man meistens ein Blättchen mitgeben, wo überhaupt die Krankheit beschrieben ist. Die haben keine Ahnung. Können die auch gar nicht, weil die das in ihrer Ausbildung auch gar nicht lernen. Da ist man wirklich auf die Hilfe und die Kenntnisse und die Ratschläge der anderen angewiesen. Der eine hilft dem anderen und das ist irgendwie unbezahlbar."
An diesem Abend sitzen rund 20 Menschen zusammen, viele in ihren Rollstühlen, oft sind die Partner dabei. Sie alle leiden an einer der vielen unterschiedlichen Seltenen Erkrankungen, die ihre Muskeln schädigen. Die Ursache ist fast immer ein Gendefekt, eine Heilung gibt es nicht und auch keine wirklich wirksame Medikamente. Sie alle kennen den zähen Kampf um Rezepte für Physiotherapien oder Hilfsmittel wie etwa einen Treppenlift.
Wer keine Diagnose, verbringt jede freie Minute im Internet
Mann und Frau: "Wenn du im Rollstuhl sitzt und nicht mehr gehfähig bist, dann steht dir das zu und dann müssen die dir einen Treppenlift geben."
"Auch wenn die 2500 Euro."
"Das hat mit den 2500 nix zu tun."
"Das ist neu für mich. Norbert ich brauch dich. Das ist Selbsthilfegruppe."
Selbsthilfegruppen sind gebündeltes Wissen. Hier sitzen die Experten für ihre jeweilige Krankheit.
Wer wie Lilis Eltern noch keine Diagnose hat, verbringt nahezu jede freie Minute im Internet, um irgendwo irgendetwas zu finden, was Licht ins Dunkel bringt. Es gibt zwar viele Informationen zu Seltenen Erkrankungen im weltweiten Datennetz, doch die seriösen Seiten zu finden, ist mühsam. Um schneller an gesicherte Informationen zu kommen, entsteht im Rahmen des Nationalen Aktionsplans gerade das "Zentrale Informationsportal Seltene Erkrankungen", kurz ZIPSE genannt, sagt Miriam Schlangen.
Schlangen: "Es ist gedacht als eine zentrale Eingangspforte für alle, die mit dem Thema beschäftigt sind. Und die sollen jetzt nicht mehr einfach über google im Internet wild suchen, sondern die sollen über eine Eintrittspforte geführt werden an eine richtige Stelle, wo sie die wesentlichen Informationen qualitätsgeprüft finden."
Außerdem soll es im Internet bald auch eine interaktive Landkarte geben, in der alle Versorgungseinrichtungen für Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland zu finden sind. Das wäre ein großer Fortschritt für Betroffene wie Lili, denn es brächte sie einer möglichen Diagnose erheblich näher. Lili war in sämtlichen Kliniken der Umgebung, in Frühförderzentren, bei etlichen Neurologen, bei Heilpraktikern und Geistheilern. Sie haben jede Therapie ausprobiert, die sich ihnen bot. Alles ohne eine Erklärung für Lilis fortschreitende Erkrankung zu bekommen. Darüber verstrichen die Jahre.
Sabine Fornfeist: "Das größte Problem war einfach, dass uns die Zeit davon lief. Es ist ein großes dunkles schwarzes Loch, diese Zeit. Und ich weiß gar nicht, wie wir das überlebt haben. Aber ich wußte auch immer, wenn wir eine Diagnose haben, irgendwann mal, egal wie die Diagnose aussieht, werden wir unser Leben sortieren können."
So läuft das fast immer bei Seltenen Erkrankungen. Die Betroffenen irren von Arzt zu Arzt, von Therapie zu Therapie, stoßen auf Unwissenheit und Unverständnis. Nicht selten attestiert man ihnen dann eine psychosomatische Erkrankung, bedauert Thomas Klockgether vom Zentrum für Seltene Erkrankungen in Bonn.
Klockgether: "Was immer wieder passiert, dass ein Arzt bestimmte Symptome nicht richtig zuordnen kann und dann sagt, es ist wahrscheinlich psychisch bedingt, und damit der Patient falsch eingeschätzt und auch falsch behandelt wird."
Diese Krankheiten sind so selten, dass viele Ärzte nur einmal oder auch nie in ihrem Berufsleben mit ihnen konfrontiert werden. Wie sollen sie sie dann erkennen? Hinzu kommt, dass sie auch in der Ausbildung der Mediziner Waisen sind. Seltene Erkrankungen kommen im Curriculum schlicht nicht vor. Das muss sich dringend ändern, damit Ärzte bei unklaren Krankheitsbildern überhaupt auf die Idee kommen, dass es eine Seltene Erkrankung sein könnte, damit aus individuellen Störungsbildern überhaupt erst einmal Krankheiten werden. Und dann müssten die niedergelassenen Ärzte ihre Patienten viel schneller als bisher an spezialisierte Zentren überweisen, fordert Markus Nöthen. Er leitet das Institut für Humangenetik an der Bonner Uniklinik, das auch zum Zentrum für Seltene Erkrankungen gehört.
Nöthen: "Wenn wir das Vergleichen mit der Situation, zum Beispiel in den Niederlanden, dort wird ein Großteil der Patienten an den Universitätsklinika gesehen, sie werden in Forschungsprojekte einbezogen. Ohne Forschung werden wir nicht zu einer besseren Diagnostik und auch nicht zu einer besseren Therapie kommen."
Deshalb ist Manfred Metz immer wieder im Bonner Zentrum für Seltene Erkrankungen. Seit vielen Jahren fährt er vom gut 90 Kilomter entfernten Duisburg aus hierher. Als Patient und auch als Anschauungsobjekt für Medizinstudenten. Auch diesmal wird er gleich wieder zu einer Vorlesung eingeladen.
Merz mit Ärztin: "Das ist eine Vorlesung für die Medzinstudenten, ich glaube im ersten klinischen Semester, wo die dann jede Woche einen anderen Patienten vorgestellt bekommen, damit die dann einfach auch das Krankheitsbild live und in Farbe gesehen haben. Und dann können wir ja wieder ausmachen, wann es ihnen am besten passt."
"Ja, kein Problem. Ich bin ja flexibel."
"Und das finden die Studenten immer ganz spannend, viel besser als das, was das Lehrbuch auch hergibt. Und sie sind ja schon ein alter Hase."
"Ja doch. Und es macht immer viel Spaß."
Einige kommen sich vor wie Versuchskaninchen
Der 56-Jährige leidet an der "Familiären adenomatösen Polyposis", kurz FAP genannt. Bei der vererbten Erkrankung kommt es zu einem massenhaften Befall des Dickdarms mit Polypen. Unbehandelt führen die unzähligen Polypen unweigerlich zu Darmkrebs. Um das zu verhindern, wird den Patienten der gesamte Dickdarm entfernt. Manfred Metz war 32 Jahre alt, als sein damaliger Arzt ihm nach einer Dickdarmspiegelung eröffnete:
Metz: "Jau, es ist soweit. Der muss raus. Und er würd die Operation dann mal gerne durchziehen. Und dann hab ich gefragt, wie oft er denn die Operation gemacht hätte. Ja, da sagt er, ich wäre der erste gewesen. Und dann hab ich gesagt, wenn er dann nicht mehr weiter weiß, ob er dann im Handbuch für sowas guckt, ne."
Er kam sich vor wie ein Versuchskaninchen und suchte sich lieber einen Arzt, der Erfahrung mit derartigen Operationen hatte. Das war vor 24 Jahren gar nicht so leicht, sagt Manfred Metz und auch heute stößt er immer wieder auf Mediziner, die keine Ahnung von seiner Seltenen Erkrankung haben. Er stellt dann schon mal ein Informationspaket für sie zusammen. Damit sich das ändert, engagiert er sich in der Selbsthilfe und steht angehenden Medizinern geduldig Frage und Antwort.
Metz: "Aufklären, aufklären. Anders geht es nicht. Da liegt mir eigentlich viel dran, dass das mehr publik wird. Vielleicht weil bei uns zu Hause das totgeschwiegen wurde. Und es ist ja eine tödliche Krankheit im Prinzip. Wenn man sie ignoriert, ist irgendwann Ende. Davon muss es mehr geben, Leute, die offen darüber reden."
Im Bonner Zentrum für Seltene Erkrankungen kümmern sich die Medizinstudenten auch um Fälle, in denen es noch keine Diagnose gibt. Sie werten die medizinischen Unterlagen aus, die die Patienten während ihrer durchschnittlich sieben Jahre dauernden Ärzteodyssee zusammengetragen haben: Blutanalysen, Biopsiebefunde, Röntgenbilder, Arztschreiben, Therapieempfehlungen und verabreichte Medikamente. Unter Anleitung eines Facharztes versuchen sie daraus eine Diagnose zusammenpuzzeln, sagt Thomas Klockgether.
Klockgether: "Das wir da Studierende beschäftigen, war zunächst aus der Not geboren, weil wir kaum finanzielle Unterstützung haben."
Genauer gesagt gar keine! Denn die mühseelige Kleinstarbeit, das Aktenstudium, das Recherchieren in internationalen Datenbanken und bei anderen Ärzten – das alles wird bislang weder von den Krankenkassen noch von den Patienten bezahlt. Das Zentrum für Seltene Erkrankungen in Bonn macht die so wichtige Arbeit kostenlos. Erst seit kurzem wird diese zeitaufwendige Diagnosefindung von einer Stiftung finanziert. Dennoch setzt die Klinik weiterhin Studierende ein, sagt Thomas Klockgether.
Klockgether: "Inzwischen sind wir eigentlich ganz stolz darauf, dass wir die Idee gehabt haben mit den Studierenden. Sie haben genau diesen unvoreingenommenen Blick auf die Krankengeschichte, kommen tatsächlich manchmal auf Ideen, das könnte doch das und das sein, wo wir als so genannte erfahrene Ärzte nicht direkt dran denken."
Durch diesen ungewöhnlichen Weg kann die Klinik für wenig Geld manchen Patienten eine Diagnose nennen und sorgt gleichzeitig dafür, dass zumindest einige Ärzte von morgen schon heute etwas von der ein oder anderen Seltenen Erkrankung gehört haben.
Gezielte Therapien sind nötig
Überhaupt scheinen die Seltenen Krankheiten von allen Beteiligten ein Denken und Handeln jenseits ausgetretener Pfade zu fordern. Sie brauchen Ärzte, die wie Detektive arbeiten, Studien, die auch ohne den sonst üblichen hohen Aufwand sichere Ergebnisse liefern, Krankenkassen, die nach individuellen Lösungen suchen und Ethikkommissionen, die nicht starr an ihren Kriterien festhalten, sagt der Humangenetiker Markus Nöthen.
Nöthen: "Wenn es zum Beispiel um genetische Untersuchungen bei Kindern mit Entwicklungsstörungen geht, bei denen eingentlich solche Forschung nur erlaubt ist, wenn sich ein direkter Nutzen für die Patienten selber ergibt. Das wird dann aber häufig von den Ethikkommissionen nur als ein Nutzen im Sinne einer Therapie gesehen. Und dabei wird vergessen, wie wichtig es ist, wenn man schon die Diagnose stellt. Auch das ist ein Nutzen für die Patienten und die Familien. Alleine das Stellen einer Diagnose, auch wenn man noch keine spezifischen Theapien in der Hand hat, ist extrem wichtig."
Wie Recht er hat, zeigt sich auch an Lilis Geschichte. Als das Mädchen zehn Jahre alt ist, kaum noch laufen kann und bis zu 17 Krampfanfälle an einem Tag hat, stößt ihre Mutter Sabine Fornfeist bei einer ihrer unzählichen Streifzüge durch das Internet auf die Seltene Erkrankung Niemann Pick, die auch als Alzheimer der Kinder bezeichnet wird. Hier scheinen alle Puzzelteile zusammenzupassen. Gut 6,5 Jahre nach den ersten Symptomen legen Lilis Eltern ihre Diagnose einem engagierten Arzt vor, der sie durch einen Gentest bestätigt.
Sabine Fornfeist: "Und ich weiß noch, ich hab Freudentränen vergossen über diese furchtbare Erkrankung. Ich war einfach froh. Wir sind endlich irgendwo angekommen und wir gehören auch jetzt dazu. Wir haben eine Selbsthilfegruppe, wir haben Forscher, wir haben Ärzte, wir haben Therapieansätze und wir müssen nicht mehr jede Therapie mitmachen, die es auf der Welt gibt. Und das bringt Erleichterung. Wir können halt jeden Tag mit Lili genießen und sie einfach nur noch lieben."
Aber die Diagnose ist ja nur der erste notwendige Schritt. Der Zweite wäre eine gezielte Therapie. Doch auch hier sind die orphan deseases Waisen der Medzin. Krankengymnastik ist oft das einzige, was ihnen angeboten wird, sagt Klaus-Jürgen Preuß, Arzt, Apotheker und Mitherausgeber eines Sammelbandes rund um Arzneimittel für Seltene Erkrankungen.
Preuß: "Für die Seltenen und noch mehr für die Ultra-Seltenen haben wir eigentlich keine wirklich spezifischen Therapeutika, Medikamente oder Behandlungskonzepte. Häufig können wir bei orphen Erkrankungen nur sagen: best available care, was zu deutsch heißt, wir machen das, was wir tun können, aber richtg zielgerichtet ist das, was wir tun, eigentlich nicht. Hier ist im Prinzip ein unbearbeitetes Feld, weil es sich um kleine Patientenzahlen handelt und das war natürlich auch für die entwickelnde Industrie nicht besonders lukrativ hier einzusteigen."
Um das zu ändern hat die Europäische Union ein Sonderprogramm für die sogenannten Orphan Drugs kreiert, dass die Pharmakonzerne auf die Fährte der Seltenen Erkrankungen setzten sollte.
Preuß: "Wenn ein Hersteller eine Zulassung für ein entsprechend wirksames Medikament bekommt, dann hat er für zehn Jahre absoluten Wettbewerbsschutz innerhalb der EU. Das heißt es wird kein anderes Wirkprinzip in der gleichen Indikation zugelassen. Für zehn Jahre hat der Hersteller absoluten Schutz vor Konkurrenz und damit quasi eine monopolartige Situation, was ja schon einen starken Anreiz für die Firmen darstellt."
Doch die Privilegien halten auch andere, vergleichbare Therapien systematisch vom Markt fern. Vielen Kritikern geht das zu weit, doch der Pharmaexperte Klaus-Jürgen Preuß findet die Maßnahmen richtig, denn:
Preuß: "Ohne diese Incentives und dieser Regulierung würde es nicht zur Entwicklung von entsprechenden Medikamenten kommen."
Und tatsächlich steigen europaweit die Zulassungsanträge auf Orphan Drugs. Aktuell sind rund 65 Medikamente für Seltene Erkrankungen in der EU zugelassen. Auch Lili profitiert davon.
Sabine Fornfeist: "Lili, jetzt kommt die Medizin."
Lili bekommt zwei Medikamente gegen ihre Krampfanfälle und ein Mittel gegen ihre Grunderkrankung, also gegen Niemann Pick, sagt ihr Vater Michael Fornfeist.
Michael Fornfeist: "Das ist eine Kapsel mit Pulver drin und die lösen wir in Wasser auf. Und die kriegt sie dann in die Magensonde. Aber es ist kein Medikament, was wirklich die Symptome ganz stoppt oder sogar die Krankheit heilt, sondern das verhindert einfach nur, dass in den Zellen noch mehr Cholesterin abgelagert wird und noch mehr Zellen im Gehirn absterben."
Was angesichts der dramatischen Entwicklung der Krankheit ja auch schon ein gewisser Erfolg ist. Außerdem laufen in den USA gerade Studien zu zwei Medikamenten, die eventuell besser wirken könnten, als das Mittel, dass Lili derzeit bekommt. Heilung versprechen auch sie nicht. Normalerweise wird die Wirksamkeit neuer Arzneimittel vor der Zulassung an hunderten oder gar tausenden Patienten getestet. Die gibt es bei den Seltenen Erkrankungen aber oft gar nicht. Deshalb müssen auch die Kriterien für Studien den besonderen Gegebenheiten angepasst werden. Und das werden sie, ganz allmählich, sagt der Pharmaexperte Klaus-Jürgen Preuß.
Preuß: "Es gibt zum Beispiel einzelne Zulassungen bei der europäischen Behörde, wo 30, 40 Patienten genügt haben, um eine Zulassung erteilt zu bekommen."
Solche Arzneimittel für Seltene Erkrankungen sind meist extrem teuer – auch dank der Privilegien, ohne die es sie vielleicht gar nicht gäbe.
Preuß: "Wir haben da einzelne Therapien im Stoffwechselbereich, die bis zu einer Million im Jahr betragen können. Das heißt, man kann auch mit Orphan Drugs und erfolgreicher Forschung auf diesem Sektor durchaus respektabel Geld verdienen."
Krankenkassen zahlen nur den üblichen Pauschalbetrag
Was man von den Zentren für Seltene Erkrankungen nicht sagen kann. Stellen sich hier Patienten ambulant vor, zahlen die Krankenkassen nur den üblichen Pauschalbetrag. Der deckt aber meist nicht die Kosten für die erheblich aufwändigeren Untersuchungen. Das ist nicht neu. In einem vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Forschungsbericht aus dem Jahre 2009 wird bereits festgehalten, dass die Komplexität und Heterogenität der Seltenen Erkrankungen in den ambulanten Vergütungssystemen wohl nicht adäquart abgebildet werden. Geschehen ist nichts. Als völlig unzureichend bezeichnet der Humangenetiker Markus Nöthen die Bezahlung der Gespräche mit den Patienten.
Nöthen: "Die genetischen Erkrankungen sind komplizierte Erkrankungen. Die Vererbung muss den Patienten und Familien sehr genau erläutert werden, zum Beispiel nach Wiederholungsrisiken in der Familie. Und die Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie müssen entsprechend dargestellt werden. Das geht nicht in fünf Minuten. Dazu bedarf es eines Gesprächs von einer bis anderthalb Stunden. Das wird von den Krankenkassen überhaupt nicht entsprechend vergütet. Und das ist eigentlich eine Situation, die nicht haltbar ist.
Dabei ist es ein erklärtes Ziel des Nationalen Aktionsplans, bundesweit genau solche Zentren zu fördern und die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen.
Klockgether: "Aber leider gibt es in dem gesamten Aktionsplan genau dazu keine belastbaren Aussagen."
Kritisiert der Bonner Neurologe Thomas Klockgether. Miriam Schlangen vom Nationalen Aktionsbündnis NAMSE hält dagegen, dass die Umsetzungsphase des Aktionsplans ja erst in diesem Jahr begonnen habe. Außerdem stehe ja auch noch eine Art Akkreditierung der Zentren an, sagt sie, die künftig nach einheitlichen und objektiven Kriterien arbeiten sollen. Das tun sie derzeit nicht. Wie denn auch, entgegnet Thomas Klockgether:
Klockgether: "Bisher sind die Kriterien noch nicht festgelegt und die Akkreditierungsverfahren haben noch nicht begonnen."
"Das ist diese Henne-Ei-Problematik"
Werden sie aber bald, versichert Miariam Schlangen. Ein erster Praxistest stehe kurz bevor.
Schlangen: "Das ist diese Henne-Ei-Problematik. Was ist zuerst? Erst die Qualität nachweisen oder ist es erst das Geld. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir auf einem guten Weg sind."
Doch die Umsetzung des guten Willens in greifbare Politik gehe eben nicht von heute auf morgen, sagt sie. Miriam Schlangen ist aber sicher, dass am Ende eine bessere Versorgung der Patienten mit Seltenen Erkrankungen dabei raus kommen wird. Doch bis dahin werden wohl noch einige Jahre vergehen, räumt sie ein. Deshalb müssen Betroffenen wie Lili und ihre Eltern auch weiterhin chronisch tapfer sein.
Michael Fornfeist: "Die Perspektive für die Krankheit war immer: ohne das Medikament ab Ausbruch haben die Kinder noch zehn Jahre."
An diesem Punkt ist Lili jetzt.
Michael Fornfeist: "Aber da wir ja jetzt das Medikament haben und vielleicht auch noch auf ein besseres Medikament hoffen können, hoffen wir natürlich auf noch mehr Lebensjahre. Mit möglichst viel Lebensqualität."
Dann lässt Michael Fornfeist Lilis Lieblingslied laufen. Es ist die Vogelhochzeit von Helge Schneider, dem ziemlich schrägen Unterhaltungskünstler aus dem Ruhrgebiet. Lili fühlt sich ganz offensichtlich bestens unterhalten. Das sonst fast stumme Mädchen wiegt sich auf ihrem Stuhl hin und her und lacht.
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