Selda Bagcan beim Pop-Kultur-Festival Berlin

Kritische Stimme des türkischen Liedes

Ein Stapel Programme beim "Pop-Kultur"-Festival in Berlin-Neukölln
Das "Pop-Kultur"-Festival in Berlin-Neukölln: Selbstbewusster Anspruch © Festival Pop-Kultur / Ronald Owsnitzki
Selda Bagcan im Gespräch mit Dirk Schneider · 01.09.2016
20 Jahre lang war ihre Musik in der Türkei verboten und wegen ihrer Lieder saß sie fünf Monate im Gefängnis. Am Donnerstag tritt Selda Bagcan beim Pop-Kultur-Festival in Berlin auf. Ein ganz besonderes Konzert für sie, sagt sie im Interview.
Deutschlandradio Kultur: Selda, Sie sind eine politische Künstlerin. Sie durften lange Zeit in der Türkei nicht im Radio gespielt werden, Sie haben für Ihre Lieder im Gefängnis gesessen. Ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Sie heute hier sitzen und uns ein Interview geben?
Selda Bagcan: Ja, das ist für mich normal. In den Jahren zwischen 1972 und 1992 gab es nur einen Sender im Fernsehen und auch das Radio war an den Staat gebunden. Zwanzig Jahre lang war meine Musik verboten. 1992 sind dann die privaten Sender entstanden, die nicht mehr unter dem Monopol des Staates standen. Ich kann also sagen, dass meine Musik seit 24 Jahren frei ist und es keine Verbote mehr gibt.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie auch nicht damit gerechnet, dass Sie nach dem vereitelten Putschversuch Schwierigkeiten bei der Reise oder bei Auftritten haben könnten?
Selda Bagcan: Nein, ich bin auch gegen diesen Putsch gewesen. Eine Gruppe innerhalb des Militärs hat das organisiert, wir hatten alle keine Ahnung davon, wir haben das alle nicht unterstützt. Deshalb denke ich, dass das auch nichts mit mir persönlich zu tun hat. Ich möchte zudem sagen: Diese Leute, die diesen Putsch organisiert haben, haben uns vor der ganzen Weltöffentlichkeit blamiert. Das wirkt nun wie ein Land der Dritten Welt, in dem wieder ein Putsch stattfindet.

Derzeit wenig politische Kontrolle der Musik

Deutschlandradio Kultur: Sie leiten eine Musikproduktionsfirma in Istanbul, Sie haben sehr viel mit Musik auch geschäftlich zu tun – wie frei ist die Musik derzeit in der Türkei?
Selda Bagcan: Die Musik ist eigentlich ziemlich frei. Natürlich gibt es immer noch die Kontrolle, aber die beschränkt sich hauptsächlich auf kurdische politische Musik. Sonst kann man sagen, dass sie eigentlich relativ frei ist.
Deutschlandradio Kultur: Rechnen Sie auch damit, dass das so bleibt?
Selda Bagcan: Ja, ich denke das wird so bleiben. Man wird nicht wieder zurückkehren können – genauso, wie Flüsse auch nicht rückwärts fließen können, wird man auch nicht wieder an diesen Punkt zurückgehen können.
Deutschlandradio Kultur: Ihre Musik war 20 Jahre lang in der Türkei im Radio verboten, insofern kann man vielleicht wirklich sagen, dass Musik nicht zum Verstummen zu bringen ist. Sie werden jetzt beim Pop-Kultur-Festival in Berlin mit der jungen israelischen Band "Boom Pam" auftreten – wie kommt es zu dieser Zusammenarbeit?
Selda Bagcan: Im Jahr 2014 haben mich "Boom Pam" in Istanbul getroffen und angesprochen, sie haben gesagt, dass sie gerne mit mir zusammenarbeiten würden. Ich habe dem zugestimmt und seitdem arbeiten wir zusammen – auch auf internationalen Festivals. Da spielen wir meine Lieder, so wie sie auf den Schallplatten zu hören sind. Ich mag die Musik von ihnen auch sehr und arbeite gerne mit ihnen zusammen. Das Ganze ist durch deren Initiative überhaupt erst zustande gekommen.

Auftritt vor vielen Landsleuten in Berlin

Deutschlandradio Kultur: Gibt es neue Musik von Ihnen? Sie spielen mit "Boom Pam" Ihr Repertoire – gibt es auch neue Lieder?
Selda Bagcan: Es wird auch noch neue Musik geben, aber fürs Erste spielen wir die Lieder, die bereits bestehen.
Deutschlandradio Kultur: Auf dem Weg hierher begegnete ich einem Taxifahrer, der mir gesagt hat, ich solle Ihnen ausrichten, dass er 61 Jahre alt ist und Sie immer noch liebt – also viele Grüße von ihm. Sie werden jetzt in Berlin-Neukölln auftreten, da werden sehr viele Menschen dabei sein, die Ihre Texte verstehen – ist es trotzdem etwas Besonderes für Sie vor Deutsch-Türken aufzutreten?
Selda Bagcan: Normalerweise ist es tatsächlich so, dass es auf meinen Konzerten im Ausland keine Türken gibt. Wir sind zum Beispiel in Polen aufgetreten, wir waren in Barcelona, in England auf dem "Womad Festival", das ziemlich weit entfernt von London stattfand, deshalb gab es da eben auch nicht so viele Türken.
Hier in Berlin ist das nochmal etwas ganz Anderes. Hier leben 100.000-150.000 Türken in Kreuzberg wird es stattfinden. Das ist wirklich etwas Anderes, gerade weil das Publikum auch meine Worte versteht und mitsingen kann, bin ich davon überzeugt, dass es ein wundervolles Konzert wird. Allerdings möchte ich auch sagen, dass viele Türken in Berlin von dem Konzert leider nichts mitbekommen haben.

Erst nach 30 Jahren kam der internationale Durchbruch

Deutschlandradio Kultur: Das werden wir hoffentlich ändern mit diesem Interview. Sie sind berühmt geworden, als Sie anatolische Musik mit der E-Gitarre begleitet haben – wie sind Sie damals auf die Idee gekommen, genau dies zu machen?
Selda Bagcan: Ich habe schon 1976, also in den siebziger Jahren, angefangen diese Musik zu machen, allerdings hat es dann nochmal dreißig Jahre gedauert, bis die Welt mich und meine Musik entdeckt hat. Vier Lieder von mir sind auch international ein Hit geworden, sie sind auf einer Schallplatte in England erschienen und viele ausländische Musiker haben daraufhin diese Lieder gecovert. Das waren: "Ince Ince", "Yaz Gazeteci", "Mehmet Emmi" und "Yaylalar".
Deutschlandradio Kultur: Wie hat Ihnen denn diese Form der Aneignung anderer Musiker durch Ihre Musik gefallen? Haben Sie sich dadurch geschmeichelt gefühlt, haben Sie sich verstanden gefühlt?
Selda Bagcan: Natürlich gefällt mir das, das zeigt mir auch, dass man meine Musik ernst nimmt. Auf der ganzen Welt haben DJs meine Lieder geremixt und ihre eigene Kreativität noch mit hineingebracht. Sie haben Clips dazu gedreht, die man alle auf Youtube sehen kann. Auch durch die sozialen Medien ist es nun so, dass man meine Musik weltweit anhören kann. Natürlich bin ich darüber sehr glücklich, welchem Musiker oder welchem Künstler würde das nicht gefallen? Der müsste schon ein Psychopath sein.

Eine Frau mit E-Gitarre, das kannte man damals in der Türkei nicht

Deutschlandradio Kultur: Ich möchte Sie trotzdem noch einmal nach Ihrer Jugend fragen. Sie haben als junge Frau in der Türkei die Musik revolutioniert – das auch noch als Frau, Sie haben zur E-Gitarre gegriffen und damit zu einer Musik gespielt, die normalerweise nicht mit einer E-Gitarre begleitet wurde. Mich hat das ein bisschen an Bob Dylan erinnert und an seinen legendären Auftritt mit der E-Gitarre beim "Newport Folk Festival" – der hat ja einen Sturm der Entrüstung nach sich gezogen. Und sie als Frau – hat das damals nicht einen sehr großen Mut erfordert?
Selda Bagcan: Die Leute waren natürlich sehr verwundert. Ich habe Gitarre gespielt und gesungen, das gab es damals überhaupt nicht. Keine Frau hat zu dieser Zeit alleine auf der Bühne gestanden und gesungen, deshalb hat man mich häufig auch mit John Baez verglichen, aber mein Talent sprach für sich, die Leute konnten einfach nichts mehr dagegen sagen, meine Lieder wurden zu Hits.
Die Gitarre, die ich spielte, hatte zwölf Saiten – das ist noch schwieriger, als eine andere Gitarre zu spielen. Zwanzig Jahre lang habe ich das gemacht, von 1972 bis 1992 stand ich alleine auf der Bühne. Seit 1992 spiele ich eigentlich nur noch mit einem Orchester zusammen, das ist angenehmer. Auf dieser zwölfsaitigen Gitarre einen Akkord hinzukriegen – da wird man fast verrückt.

"Über den Militärputsch schreibe ich nicht"

Deutschlandradio Kultur: Sind Sie auch eine Ikone der Frauenbewegung in der Türkei oder vor allem eine musikalische Ikone?
Selda Bagcan: Ich bin eine Ikone im Bereich der Musik. Ich habe leider nicht so viel Zeit mich auch sozial zu engagieren, ich unterstütze die Bemühungen anderer sehr, aber ich kann leider nicht selbst daran teilnehmen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, dass es auch neue Lieder von Ihnen gibt oder geben wird – worüber singen Sie heute?
Selda Bagcan: Also, eines kann ich schon sagen: Über den Militärputsch schreibe ich nicht. Wir hassen die Putschisten, als ganzes Volk hassen wir sie, ich werde nicht darüber schreiben oder singen. Es gibt verschiedene Sachen, an denen ich gerade arbeite.
Zum Beispiel an einem Lied, das der in Berlin lebende Ferhat Güneyli komponiert hat. In Athen haben wir dazu auch einen Video-Clip gedreht. In dem Lied vertonen wir ein Gedicht von Yusuf Hayaloğlu, welches dieser nach dem Tod des Musikers Ahmet Kaya geschrieben hatte – das ist eines meiner neueren Projekte.

Gruppenzwang, keine Zensur

Eine andere Arbeit, die gerade ansteht, ist eine CD, die gerade zusammengestellt wird. Darauf werden 50 Lieder des bekannten Musikers Zülfü Livaneli vertont, ich habe mir das Lied "Ceylan türküzü" ausgesucht, das wird mein Beitrag auf dieser CD sein.
Deutschlandradio Kultur: Sie klingen sehr entspannt, was die Lage der Musiker in der Türkei angeht. Ich möchte Ihnen dahingehend noch eine Frage stellen – die Sängerin Sila hat ein Auftrittsverbot in vielen großen türkischen Städten bekommen, weil sie bei einer Großkundgebung von Erdogan nicht auftreten wollte – ist das eine neue Qualität der Zensur von Musik oder wäre das auch vor dem vereitelten Militärputsch denkbar gewesen?
Selda Bagcan: Das, was mit Sila passiert ist, ist keine Zensur. Das ist Gruppenzwang, auf Türkisch sagen wir wörtlich "Zwang des Viertels". Sie wurde kein Opfer einer Zensur, sondern sie hat etwas gemacht, das gegen die Meinung der Mehrheit war, deshalb ist das mit ihr passiert.
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