Selbstverpflichtung zur Aussöhnung

Von Bernd Ulrich · 05.08.2010
Über zwölf Millionen Menschen mussten als Folge des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat in den einst östlichen Provinzen des untergegangenen Reiches verlassen. 1950 wurde in ihrem Namen die Charta der Heimatvertriebenen unterzeichnet. Als wichtiges Dokument der Versöhnungsbereitschaft begleitet sie die Arbeit des Bundes der Vertriebenen bis heute.
"Unsere Heimatverbundenheit ist kein Nationalismus. Diese Charta vertritt eine konstruktive Rechtsgesinnung, die, über alle Konflikte der Vergangenheit hinausgreifend, von der Vision eines geeinten Europas freier und gleichberechtigter Völker diktiert ist."

Mit diesen Worten würdigte der Sozialdemokrat und damalige Präsident des Bundes der Vertriebenen, Wenzel Jaksch, den 15. Jahrestag der Unterzeichnung und Verkündung der "Charta der Heimatvertriebenen".
Ein erstaunliches Dokument, das im Namen von über zwölf Millionen Vertriebenen und Zwangsumgesiedelten aus den einst östlichen Provinzen des untergegangenen Deutschen Reiches am 5. August 1950 in Stuttgart unterzeichnet wurde. Er schrieb auf der einen Seite die Selbstverpflichtung zur Aussöhnung, zum Wiederaufbau Deutschlands und Europas fest, auf der anderen Seite forderte die Charta den gerechten Ausgleich der durch den Krieg entstandenen Lasten sowie das, wie es hieß, "von Gott geschenkte Grundrecht der Menschheit", nämlich das "Recht auf die Heimat".

Von Anfang an gab es Kritik an der Charta, in der die Integration der Heimatvertriebenen in Westdeutschland nur eine stiefmütterliche Rolle spielte. Vor allem jedoch ihr erster Artikel sorgte immer wieder für Unmut:

Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches insbesondere das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.

Nach den Morden und Vertreibungen in deutschem Namen, die 1939 mit dem Überfall auf Polen begonnen hatten, wurde insbesondere die Geste des Verzichts auf "Rache und Vergeltung" als groteske Missachtung des Verursacherprinzips interpretiert. Dies und die Tatsache, dass viele der Erstunterzeichner der Charta engagierte Nationalsozialisten gewesen sind, provozierte scharfe Kritik. Die Charta stelle, so etwa der Frankfurter Professor und einstige Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, Micha Brumlik,

eine im Geist von Selbstmitleid und Geschichtsklitterung getragene, ständestaatliche, völkisch-politische Gründungsurkunde dar, in der nichts weniger als die Absicht beglaubigt wird, die Politik der jungen Bundesrepublik in Geiselhaft zu nehmen.

Das mochte überzogen sein. Doch tatsächlich konnten die Charta und ihre um Ausgleich bemühte Sprache zunächst so gut wie nichts an den Forderungen ändern, die verlorenen "Ostgebiete" wiederzugewinnen, natürlich in den Grenzen von 1937.

Zu den wenigen Zeitgenossen, die früh auf die Vergeblichkeit dieses Anspruchs hingewiesen haben, gehörte der Historiker und Schriftsteller Golo Mann. Am 24. April 1964 schrieb er beispielsweise in einem Brief an den einstigen, bis 1960 als "Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte" amtierenden Theodor Oberländer:
Das Recht der deutschen Heimatvertriebenen scheitert an der auf Grund von furchtbaren Ereignissen und Taten so gewordenen historischen Realität. Ich kann mich auch nicht dazu entschließen, es gut zu finden, wenn Vertreter Deutschlands nach 1945 laut und zu ihren Gunsten das nationale Selbstbestimmungsrecht verkündeten. Wir hätten das vorher tun sollen, als wir mächtig waren, und wie wir diese Macht in Osteuropa gebrauchten, ist Ihnen bekannt.

Unter den Vertriebenen selbst hingegen setzten sich in der Mehrheit schon früh eher pragmatische Einstellungen durch. So sahen 1972 bereits 56 Prozent von ihnen die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze als grundlegende Voraussetzung für halbwegs normale Beziehungen zu Polen an.

An dieser Entwicklung trug gewiss auch die Charta der Heimatvertriebenen ihren Anteil, zumal mittlerweile die lange propagierte Überzeugung, die Vertreibungsverbrechen an den Deutschen seien singulär, aufgegeben worden ist. Deshalb ist Wenzel Jaksch zuzustimmen, wenn er 1965 ausführte:

"Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen darf in der Nachkriegsgeschichte ihren Platz beanspruchen als ein Akt der moralischen Wiedergeburt unseres Volkes. Sie muss als die Aussage tief verwundeter Menschen gewürdigt werden, in denen die Erlebnisse wahrer Schreckensjahre nachzitterten."

"Schreckensjahre", die sich für manche gerade in der ersten Zeit nach der Flucht im Westen fortsetzten. Denn die viel gerühmte Integration der Flüchtlinge entpuppte sich für allzu viele als Mythos. Daran vermochte auch die Charta nichts zu ändern.
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