Selbstvermessung

"Das kann eben auch zur Sucht werden"

Mazda Adli Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie der Fliedner-Klinik Berlin zum Interview: "Wenn Laien Arzt spielen" in Rahmen unseres Schwerpunktes zur Selbstoptimierung
Mazda Adli, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie der Fliedner-Klinik im Deutschlandradio Studio © Moritz Behrendt / Deutschlandradio
Moderation: Ute Welty · 04.01.2014
Die Kontrolle von Körperfunktionen und -bedürfnissen könne dann hilfreich sein, wenn sie unter ärztlicher Kontrolle geschehe, sagt der Stressforscher Mazda Adli. Sollte die Überwachung des Körpers jedoch zum Lebensinhalt werden, sei das bedenklich.
Ute Welty: Blutdruck gecheckt, Puls gefühlt, Zucker und Cholesterin gemessen. Die Selbstvermessung bietet auch dem medizinischen Laien allerhand Möglichkeiten, über den Zustand des eigenen Körpers auf dem laufenden zu bleiben. Eine Aufgabe, die bislang der Arzt übernommen hat. Ein solcher sitzt jetzt auch vor mir, nämlich Mazda Adli. Guten Morgen!
Mazda Adli: Guten Morgen!
Welty: Wenn ich Sie jetzt genauer vorstelle als den Chefarzt der Fliedner-Klinik und als Stressforscher an der Charité in Berlin, dann kann man schon ahnen, dass wir das Thema ein wenig gegen den Strich bürsten, denn Sie sind Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Da gibt es nicht so arg viele Möglichkeiten der Selbstvermessung, oder?
Adli: Oh ja, wir haben auch im Bereich der psychischen Gesundheit eine ganze Menge zu messen und leiten unsere Patienten auch dahingehend an. Zum Beispiel geht es um die tägliche Registrierung der Stimmung oder aber auch, wie viele Stunden habe ich geschlafen. Wenn Patienten dafür sensibilisiert werden, ist es zum Beispiel eine ganz gute Möglichkeit, um Frühwarnzeichen zu erkennen für eine zum Beispiel neue depressive Episode.
Welty: Wie kann man Stimmung messen?
Adli: Indem man einfach jeden Tag ein Kreuzchen macht bei "neutral", "gedrückt", "sehr gedrückt" oder "gehoben" zum Beispiel.
Welty: Inwieweit verändert die Selbstvermessung das Arzt-Patienten-Verhältnis zum Positiven wie vielleicht auch zum Negativen?
Adli: Ich denke, Selbstvermessung kann dann sehr hilfreich sein, wenn es ärztlich angeleitet ist, wenn es in einem medizinischen Kontext steht und derjenige, der misst, auch ganz genau weiß, um was es geht und was genau gemessen werden soll. Dann kann diese verstärkte Achtsamkeit auf die Körperfunktionen und auch auf das seelische Befinden hilfreich sein.
Welty: Und welche Art von Patient ist für einen Arzt ein Albtraum?
Adli: Selbstvermessung kann natürlich auch ins Extreme gehen, dann ist es nicht mehr hilfreich. Dann zum Beispiel, wenn es überschätzt wird von Patienten. Denn eins muss man sagen, das, was man misst, ist manchmal sehr schwer zu verstehen und auch in das komplexe Zusammenspiel unserer Körperphysiologie nicht immer so einfach einzuordnen für den Laien.
Welty: Haben Sie dafür mal ein Beispiel?
Adli: Schon alleine die Frage der Schlafqualität. Schlaf ist ja etwas, was gerne selber vermessen wird, ob es jetzt um die Schlafdauer geht oder um Schlaftiefe, auch so was kann man ja mittlerweile durch Apps und so weiter messen. Das kann man nicht ohne medizinischen Sachverstand immer so gut einordnen.
Welty: Acht Stunden sind nicht acht Stunden.
Adli: Genau. Jeder kennt das ja von sich. Ich kann, wenn ich nur vier Stunden geschlafen habe oder nur drei Stunden, am nächsten Tag super ausgeschlafen sein, an einem anderen Tag macht mich das mürbe und unkonzentriert – da gibt es so viele Faktoren, seelische zum Beispiel, die da mit einspielen, dass das nicht immer nur eine ganz klare Wenn-Dann-Reaktion ist.
Welty: Wie geht man als Arzt mit dem Patienten um, der vor einem sitzt und einem das Gefühl vermittelt, er weiß eh alles besser, weil er hat ja schon alles gemessen?
Adli: Wie geht man dann mit so jemandem um? Auch da ist es wichtig, auf die Grenzen dieser Selbstvermesserei aufmerksam zu machen. Es gibt Leute, die können quasi gar nicht mehr anders, als den ganzen Tag ihre Schritte zu zählen. Und das Ganze, wenn es auch gerade zunächst mal etwas Spielerisches hat, aber dann, wie es auch durch viele Apps vorgegeben ist, zum Konkurrenzspiel wird zwischen vielen, vielen Mitspielern, die sich diese Daten teilen, dann kann das auch durchaus zu suchtähnlichem Verhalten führen. Wir kennen das auch von einigen Betroffenen, muss man sagen, das wirft das Belohnungssystem an, man kriegt eine interessante Rückmeldung, hat vermeintlich ganz viel Selbstkontrolle über seinen Körper, aber das kann eben auch zur Sucht werden und dann das Leben auch beeinträchtigen, weil man dann an nichts anderes mehr denken kann.
Welty: Wie lässt sich so was behandeln?
Adli: Im Prinzip muss man – im Prinzip durch gute Aufklärung. Indem man demjenigen klar macht, dass der Körper eben sehr, sehr viel komplizierter ist als das Ergebnis von Zahlen und Fakten. Das muss man sich einfach klar machen. Es gibt so viele Faktoren, die eine Rolle spielen, und wenn man die nicht alle in Betracht zieht, dann kann man eigentlich diese Daten nicht richtig auswerten.
"Schlaganfallrisiko ist eben nicht nur durch Blutdruck bestimmt"
Welty: Setzen Sie auch so was wie ein Verhaltenstraining an dann, in solchen Fällen, wenn das quasi schon pathologisch wird?
Adli: Ja, natürlich.
Welty: Nehmen Sie denen die Waage weg?
Adli: Ja, zum Beispiel auch das! Das klassische Beispiel, Sie haben es gerade genannt - die Waage - ist die Magersucht, die letztlich auch Folge von extremem Selbstvermessungsverhalten sein kann. Tägliches Wiegen, manchmal sogar stündliches Wiegen kann quasi das ganze Erleben total einengen auf dieses eine Faktum, auf das Körpergewicht, und das wird dann zum allesentscheidenden Kriterium, und das ist dann ein Problem. Da muss man die Waage wegnehmen, unter anderem.
Welty: Inwieweit wiegen sich Patienten vielleicht auch in trügerischer Sicherheit, indem sie sagen, mein Blutdruck ist in Ordnung, und die anderen Risikofaktoren für den Schlaganfall beispielsweise, die werden dann außer Acht gelassen?
Adli: Genau, das ist natürlich das Risiko dabei, dass man den Körper total simplifiziert wahrnimmt und gar nicht das gesamte Spektrum an Risikofaktoren zum Beispiel in Betracht zieht. Schlaganfallrisiko ist eben nicht nur durch Blutdruck bestimmt. Das spielt zwar auch eine Rolle, aber es gibt eben viele andere Dinge. Und wenn ich die nicht kenne, wenn ich nur noch auf einen Wert fokussiert bin, dann kann es auch gesundheitsgefährdend werden, abgesehen vom Suchtfaktor, den ich gerade schon genannt habe. Und dann haben wir tatsächlich ein Problem, das wir dann auch behandeln müssen.
Welty: Es gibt einige Experten, die sehen den Trend zur Selbstvermessung derart positiv, dass er Krankenhäuser überflüssig macht. Ich wage mal die Prognose, dass Sie sich dieser Meinung nicht anschließen.
Adli: Wenn die Selbstvermessung medizinisch angeleitet ist, dann kann durchaus der eine oder andere Arztbesuch vielleicht vermieden werden, dann sind wir im Bereich der Telemedizin. Vieles kann dann durch den Austausch solcher Daten mit dem Arzt, der dann auf elektronischem Weg erfolgt, kontrolliert werden und erspart vielleicht einen Krankenhausbesuch. Auch im Bereich der Prävention kann man sicherlich durch medizinische Anleitung von Selbstvermessung vieles erreichen. Aber es geht eben um die medizinische Anleitung, es geht um den sachkenntnisgeleiteten Umgang mit den Selbstvermessungsdaten, dann kann es sinnvoll sein. Andernfalls gibt es eben auch Gefahren.
Welty: Die Selbstvermessung, der Patient und der Arzt – dazu Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner-Klinik, hier im Interview der Ortszeit. Ich danke für den Besuch im Studio!
Adli: Sehr gerne!
Welty: Und alle Interviews und Berichte zum Schwerpunkt in der Ortszeit, die finden Sie auch auf deutschlandradiokultur.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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