Selbstporträt

Das Leben besteht aus unendlich vielen Pixeln

22.11.2013
In dem radikalen „Autoportrait“ des französischen Fotografen und Schriftstellers Edouard Levé erscheint das Leben als unendliche Summe voneinander isolierter Elemente, in denen Stoff für Romane steckt. Es ist ein Selbstporträt, wie man es noch nie las.
Anlässlich Edouard Levés radikalem Selbstporträt, das auch in der deutschen Ausgabe den französischen Titel „Autoportrait“ trägt, müssen wir auch über das Verlangen nach autobiographischer Literatur sprechen – ein Verlangen, das sowohl auf Seiten der Autoren als auch der Leser besteht. Ursache ist das unvermeidliche Gefühl der Unwirklichkeit, das uns nicht nur im Bereich politischer Inszenierung (aber dort besonders) beschleicht. Tagtäglich und überall stoßen wir auf Bilder, Illusionen, Konstruktionen. Aber wo bleibt das Wirkliche?
Die Literatur reagiert einerseits darauf, andererseits verhandelt sie das Problem überhaupt erst, weil eben auch Autoren das Gefühl der Unwirklichkeit haben. Seit einigen Jahren gibt es zunehmend Bücher, in denen Autor und Erzähler identisch sind, Bücher, in denen also eigentlich nicht mehr „erzählt“ (im Sinne von „erfunden“) wird. Edouard Levés Text hat absolut nichts Erzählerisches, insofern ist er (obwohl er so viel kürzer ist!) um Längen radikaler als zum Beispiel Karl Ove Knausgårds autobiographisches Riesenprojekt „Min kamp“ (Mein Kampf), das nicht nur lange reflexive, sondern eben auch lange narrative Passagen enthält.
"Ich habe Plattfüße"
Levès Selbstporträt besteht aus meist gänzlich voneinander isolierten Sätzen, die also mit dem vorausgehenden und dem danach folgenden nichts zu tun haben. Es zeigt, dass sein Leben wie ein digitales Bild aus Pixeln besteht, das nur deswegen einigermaßen klar und erkennbar ist, weil es unendlich viele sind. Je weniger Pixel oder Elemente – oder auf das Leben eines Menschen bezogen: Erfahrungen, Charaktereigenschaften, Ticks etc. – desto verschwommener wird das Leben.
Aber was interessiert uns das Leben eines mir Unbekannten, das überdies nur aus Einzelheiten besteht? Zum Beispiel: „Ich habe meinem Bruder nicht gesagt, dass ich ihn liebe“, „Ich habe Plattfüße“, „Singende Sägen deprimieren mich mehr als Akkordeons, aber weniger als Clowns“. Aber die Frage wird obsolet, weil wir uns unversehens in einer Art Dialog mit dem Autor wiederfinden. Der Leser fragt sich: Wie ist es mit mir? Bin ich genauso? Wenn nicht, warum? Mal möchten wir zustimmen, mal scharf widersprechen. Seine Aussage „Ich ziehe ständig Vergleiche“ überträgt sich also unmittelbar auf den Leser.
Der Text ist nur knapp 110 Seiten lang und doch uferlos. Obwohl der Autor ja praktisch nichts erzählt, enthält jeder Satz potentiell eine ganze Geschichte, manchmal einen ganzen Roman. Wenn auf jeder Seite schätzungsweise 15 Sätze stehen, halten wir also einen unvorstellbaren Wälzer von 1650 Romanen in der Hand, die freilich jeder Leser im eigenen Kopf produzieren muss. Ein Leben ist die Summe endloser Möglichkeiten. Oder wie Levé es sagt: „Mein Leben genau zu beschreiben würde mich mehr Zeit kosten, als es zu leben.“
Besprochen von Peter Urban-Halle

Edouard Levé: „Autoportrait“
Matthes & Seitz, Berlin 2013
112 Seiten, 17,90 Euro