Selbstoptimierung

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

Moderation: Hanns Ostermann · 24.12.2013
Sich zu verändern, sich zu verbessern, also "Selbstoptimierung", bedeutet für einen Christen: "Ein besserer Mensch zu werden." Das meint der Theologe Friedrich Wilhelm Graf. Das Christentum unterscheide sich damit nicht sehr stark von anderen Religionen, meint der Wissenschaftler.
Hanns Ostermann: Wie werde ich besser, oder wie optimiere ich mein Leben? Bis Anfang Januar ist das unser Schwerpunkt im Deutschlandradio Kultur. Für viele ist diese Selbstoptimierung zu einer neuen Glaubenslehre geworden, vielleicht auch zu einer neuen Religion. Davon geht jedenfalls der Philosoph Peter Sloterdijk aus. Nur – wem dient sie? Profitiert auch die Gesellschaft von dieser Vermessung des Ichs? Darüber spreche ich jetzt mit Friedrich Wilhelm Graf. Er ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität in München. Guten Morgen, Herr Graf!
Friedrich Wilhelm Graf: Einen schönen guten Morgen, Herr Ostermann!
Ostermann: Selbst immer besser zu werden – wie wichtig ist dieser Gedanke in der christlichen Religion?
Graf: Das Christentum unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht stark von anderen Religionen. Das Christentum geht davon aus, dass der Mensch ein selbstbezügliches Wesen ist, dass der Mensch sündhaft ist, dass er scheitert, dass er in Strukturen der Selbstbezüglichkeit. Und deshalb ist neben dieser Sündenthematik innerhalb der christlichen Überlieferung es sehr, sehr wichtig gewesen, darüber nachzudenken, wie denn ein Mensch sozusagen sich ändern kann, welche neue Lebenschancen er ergreifen kann, wie er, trivial gesagt, ein besserer Mensch wird.
Ostermann: Mit welcher Zielsetzung? Also, was steht hinter diesem Anspruch?
Graf: Das Christentum ist eine Religion, die sagt, wir führen dann ein besseres Leben, wenn es uns gelingt, aus unserer Selbstbezüglichkeit herauszukommen, uns für andere Menschen zu öffnen, die Welt sensibler nachdenklich wahrzunehmen. Das Christentum ist eine Religion, die sozusagen den Menschen von seiner präreflexiven Unmittelbarkeit, von der ursprünglichen Selbstbezüglichkeit befreien will. Und das wird als ein Fortschritt hin zu einem besseren Ich verstanden.
Ostermann: Gilt das auch für andere Religionen in etwa gleichem Maße?
Graf: In allen Religionen geht es doch darum, dass der Mensch ein nachdenklicheres Verhältnis zu seinem nun einmal endlichen Leben gewinnt. Dafür bieten Religionen Techniken der Meditation an. Religionen bieten an, dass der Mensch zu sich selbst kommt, indem er über sich nachdenkt. Religionen bieten ganz verrückte Dinge zum Teil auch an: Geißelung, Bestrafung des eigenen Körpers und so weiter.
Ostermann: Diese Quantified-Self-Bewegung scheint möglicherweise ja doch irgendwo christlich zu sein, indem man davon ausgeht: Bin ich mit mir selbst zufrieden, dann bin ich auch offener für andere. Ist da nicht doch etwas dran?
Graf: Da ist was dran. Zunächst muss man sagen, der Mensch geht nicht in Zahlen auf. Aber zugleich kann man sagen, messen, wie man mit sich selbst umgeht, messen, wie es um den eigenen Körper bestellt ist, das ist eine Form der Selbstwahrnehmung, die im gelingenden Fall gerade dazu dient, dass man mit anderen offener umgehen kann. Mehr an Selbstübereinstimmung bedeutet auch die verstärkte Chance, Sensibilität für die Interessen und die Bedürfnisse anderer zu entwickeln. Und in der Weise, würde ich dann sagen, ist das durchaus von christlichen Überlieferungen geprägt.
Ostermann: Peter Sloterdijk behauptet, die Selbstoptimierungsstrategien hätten die religiösen Riten abgelöst. Stimmt das eigentlich aus Ihrer Sicht?
Graf: Das stimmt ja nicht! Wir sehen doch gerade Weihnachten, wie viele Menschen sich an religiöse Riten halten, wie sehr traditionelle christliche Zeitordnungen in der Gesellschaft präsent sind. Natürlich gibt es eine neue Industrie des Kreisens um sich selbst. Das erlebt man im Sport, das erlebt man im Medizinbereich, aber zugleich ist es auch so, dass wir immer wieder die Präsenz alter religiöser Kulte in unserer Gesellschaft erleben.
Ostermann: Andererseits glauben viele nicht mehr an ein Leben nach dem Tod. Andere lehnen den Glauben grundsätzlich ab. Ist das Dogma dieser Selbstoptimierung, über die wir reden, die Konsequenz daraus?
Graf: Na ja, ich würde nicht gern vom Dogma der Selbstoptimierung reden. Das unterstellt nämlich, dass es so etwas wie ein einheitliches Programm der Selbstoptimierung gebe. Menschen versuchen sich auf ganz unterschiedliche Weise selbst zu optimieren. Die einen betreiben harten Sport, die anderen setzen auf Askese, wieder andere auf inszenierte Nachdenklichkeit. Also, es gibt nicht so etwas wie die Selbstoptimierung, sondern es gibt ganz unterschiedliche Wege der Selbstoptimierung.
Ostermann: Wie beobachten Sie diese Selbstoptimierung? Worauf ist sie ein Reflex?
Graf: Sie ist sicherlich ein Reflex darauf, dass der Mensch unter modernen Bedingungen sehr viel mehr an Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung hat. Man kann seinen eigenen Lebensentwurf leben. Und viele Menschen fühlen sozusagen sich unter Druck gesetzt, auch mehr aus sich zu machen als sie tatsächlich gewesen sind.
Ostermann: Das ist doch eigentlich möglicherweise auch eine gefährliche Tendenz, oder nicht?
Graf: Es ist in der Weise gefährlich, wenn sozusagen permanenter Leistungsdruck auch in Hinblick auf die eigene Moralität, in Hinblick auf das eigene Aussehen gemacht wird. Also, wenn Sie beispielsweise an die boomende Kultur der Körperformatierung denken, also der Weg ins Body-Building-Studio und so weiter, dann gibt es zweifelsohne da zwanghafte Entwicklungen. Aber man muss immer auch betonen, niemand ist wirklich gezwungen, sich all dem anzuschließen. Man darf sich auch verweigern.
Ostermann: Aber die Technik unterstützt das Ganze. Und damit wird die Technik, wenn man so will – oder umgekehrt, der Mensch wird zu einer Art von Sklave der Technik.
Graf: Na ja, Technik ist immer ein Mittel, das sich verselbständigen kann. Darüber ist schon in den Technikdiskursen des 20. Jahrhunderts, Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv diskutiert worden. Technik ist nicht als solche gut oder als solche schlecht. Es hängt entscheidend davon ab, wie man mit ihr umgeht.
Ostermann: Mach das Beste aus deinem Leben! Die Botschaft ist ja, das haben Sie auch gesagt, sehr auf sich selbst bezogen. Passt die überhaupt jetzt noch zur christlichen Weihnachtsbotschaft?
Graf: Die christliche Weihnachtsbotschaft ist nicht ganz so eindeutig, wie oft suggeriert wird. Im Kern geht es Weihnachten zunächst darum, eine ganz andere Vorstellung von Gott zu entwickeln, als sie traditionell kommuniziert wird. Nicht der allmächtige Herrschergott, sondern ein Gott, der menschenfreundlich ist, der selbst menschliche Gestalt annimmt. Aber es ist dann zweifelsohne Weihnachten auch ein Fest, in dem es sozusagen um ein angemessenes Selbstverständnis des Menschen geht, um Sensibilität für die eigene Endlichkeit, um Sensibilität für die eigene Selbstbezüglichkeit und die damit verbundenen Grenzen des eigenen Ichs.
Ostermann: Und um so etwas wie „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Graf: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ heißt im Klartext ja, die Fähigkeit zu entwickeln, wirklich mit anderen offen und wahrnehmungssensibel umzugehen, sie nicht immer am Bilde zu messen, das man von ihnen eigentlich haben will, sondern sie so anzunehmen, wie sie wirklich sind. Das sind so Elemente der Weihnachtsbotschaft, die ja ganz wichtig sind.
Ostermann: Sagt Friedrich Wilhelm Graf. Er ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität in München. Ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche ein schönes Weihnachtsfest!
Graf: Danke sehr!
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