Selbsthilfebuch von Natalie Knapp

Weichgespültes Wohlfühlbuch

Zierkirschen blühen am späten Abend in der Heerstraße in Bonn.
"Die zarte Kirschblüte entfaltet ihr bezauberndes Wesen, während ihr kommendes Schicksal noch völlig unbestimmt ist", schreibt Natalie Knapp © picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd
Von Holger Heimann · 25.07.2015
Die Philosophin Natalie Knapp hat mit dem Buch "Der unendliche Augenblick" einen kitschverliebten Selbsthilferatgeber geschrieben. Sie rät ihren Lesern Sätze aufzusagen, die wie ein Mantra klingen, zum Beispiel: "Ich erkenne an, dass dieser Sturm mein Leben verwüstet hat." Für die meisten ihrer Tipps gilt: Wenn die Luft entweicht, bleibt nicht viel übrig.
Kaum kommen unsere Wohlstandsexistenzen auch nur ein bisschen ins Kippeln, bricht für viele die ganze Welt zusammen. In unseren Breiten ist es vielfach in Vergessenheit geraten, dass Krisen zum Leben gehören. Es ist unüblich geworden, Zeiten der Unsicherheit mit einer gewissen Gelassenheit zu begegnen, ihnen vielleicht sogar Gutes abzugewinnen. Dabei sagte schon Winston Churchill: "Verschwende nie eine Krise. Sie gibt uns die Gelegenheit, Großes zu tun."
Ein Buch mit dem schönen Titel „Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind" macht Hoffnung, dass hier anders auf das geblickt wird, was uns zustößt, das Unvorhergesehene, Ungewollte. Zu Beginn jedenfalls schreibt die Philosophin Natalie Knapp:
"Übergänge sind Lebensphasen, in denen wir verunsichert sind und uns instabil fühlen, aber zuweilen auch ungeahnte Kräfte entwickeln. Denn genau diese Zeiten gehören zu den kostbarsten Ereignisräumen des Lebens, weil sie ein schöpferisches Potenzial bergen, das sich nur in diesen begrenzten Zwischenräumen aktivieren lässt."
Wer mutmaßt, dass eigene existenzielle Erfahrungen das Nachdenken der Autorin angestoßen haben, der täuscht sich. Nichts davon findet sich jedenfalls auch nur angedeutet. Knapp hat zuvor zwei Bücher geschrieben: "Kompass neues Denken" und "Der Quantensprung des Denkens", in denen sie bereits dafür plädierte, Ungewissheiten auszuhalten und sich für alternative Denkwege zu öffnen. Ihr Literaturagent habe sie zu dem aktuellen Buch ermutigt, dem dritten in der Reihe also.
Dagegen ist nichts einzuwenden. Und doch fehlt den Betrachtungen etwas – man könnte es elementares Gewicht nennen. Womöglich wäre dieses Defizit kleiner ausgefallen, wenn sich hinter den Zeilen eine eigene Notwendigkeit erkennen ließe.
Kitschige Parallelen zu Kirschblüten
Ein Kerngedanke des Buches ist, dass wir von der Natur lernen können – und zwar von räumlichen und zeitlichen Übergängen. Natalie Knapp beschreibt Übergangszonen zwischen Wald und Wiese, von der Biologie Ökoton genannt, die ihren Bewohnern besondere Möglichkeiten bieten. Und sie erzählt vom uns allen bekannten Wechsel der Jahreszeiten:
"Die zarte Kirschblüte entfaltet ihr bezauberndes Wesen, während ihr kommendes Schicksal noch völlig unbestimmt ist. Sie wirkt nicht erst dann schön, wenn sie sich in eine Kirsche verwandelt hat. Sollte sie vor der Bestäubung in einer kalten Nacht erfrieren und keine essbare Frucht hervorbringen, wird sie ebenso vollkommen gewesen sein und ihre Sache gut gemacht haben. Das mag ein wenig ernüchternd klingen, ist aber für die Bewältigung unserer eigenen Lebensübergänge von großer Bedeutung. Denn dabei geht es uns ähnlich wie dieser Kirschblüte: Wir kennen unsere Zukunft nicht und wissen daher auch nicht, ob sie eines Tages eine Ernte einbringen wird, die uns oder andere zufriedenstellt."
Das klingt weniger ernüchternd, eher kitschig. Zumal die Analogie zwischen der Natur der Pflanzen und jener der Menschen mehr Fragen aufgibt als sie beantwortet: Lässt sich die immer wiederkehrende Blüte- und Reifezeit eines Kirschbaums wirklich sinnvoll mit Phasen im Leben eines Menschen vergleichen, die vielfach gerade nicht vorhersagbar sind? Der Grundgedanke, dass wir gut daran täten, Wandel und Ambivalenz als Grundprinzipien des Lebens anzuerkennen, wird durch die Metapher nicht erhellt, sondern eher verniedlicht.
Natalie Knapp: Der unendliche Augenblick (Buchcover)
Natalie Knapp: Der unendliche Augenblick (Buchcover)© Rowohlt
Immerhin räumt Knapp ein, dass die Momente, in denen alte Gewissheiten und Standards plötzlich nicht mehr gelten, häufig mit Angst verbunden sind. Der Extrembergsteiger Reinhold Messer hat bekannt, dass Angst für ihn überlebensnotwendig war. Nützlich ist sie auch für den, der nicht den Mount Everest bezwingen will – weil die Angst wach macht und unsere Sinne schärft, schreibt Knapp schön und treffend, um dann aber gleich mit einer für den Tonfall des Buchs typischen Ermahnung fortzufahren:
"Nur wenn wir das Unvermeidliche annehmen, können wir uns neu öffnen und einer noch unbekannten Zukunft die Hand reichen. Und was uns heute als Katastrophe erscheint, können wir in einigen Tagen oder Jahren als glückliche Fügung betrachten, als entscheidenden Wendepunkt unseres Lebens."
Im Buch kommen immer wieder Menschen zu Wort, denen es gelungen ist, schweren Schicksalsschlägen zu trotzen. Knapp erzählt zum Beispiel von einer Künstlerin, die ihre Familie bei einem Unfall verloren hat und die für sich unter Schmerzen einen neuen Anfang entdeckt. Oder von dem Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, der unheilbar erkrankt, während seiner kurzen verbleibenden Lebenszeit zu einer zuvor nie gekannten Produktivität fand. Akzeptiert hat er seine Krankheit nie. Für Natalie Knapp liegt der Schlüssel dennoch in der Gabe, das Leben so zu nehmen, wie es ist.
Tipps, die nicht ins Leben passen
Vor fünf Jahren hat die Autorin Ursula von Arx ein Buch veröffentlicht, für das sie mit 20 Menschen, bekannten und unbekannten, Gespräche über die Wechselfälle des Lebens, über Glück und Unglück geführt hat. Keine dieser Begegnungen lässt sich auf eine Botschaft reduzieren, gerade deshalb sind sie alle enorm lesenswert. Der Autorin lag es fern, irgendwelche Ratschläge zu geben. Denn solche Tipps haben allesamt den Fehler, dass sich das Leben ihnen nicht anpassen mag. Nicht nur das hat sie Natalie Knapp voraus.
Deren Buch klingt an manchen Stellen wie ein wohlfeiles Mantra:
"Ich erkenne an, dass dieser Sturm mein Leben verwüstet hat, ich akzeptiere, dass ich entlassen wurde, ich erkenne an, dass diese Liebe gescheitert ist, ich hätte es mir anders gewünscht; aber ja, meine Jugend ist endgültig vorbei und lässt sich durch keine Operation wiederherstellen."
Natalie Knapp hat, obwohl sie von tragischen Verlusten, schwerer Krankheit und Sterben erzählt, ein weichgespültes Wohlfühlbuch geschrieben. Es gibt manch aufgeblasenen Satz darin. Wenn die Luft entweicht, bleibt nicht viel übrig.

Natalie Knapp: Der unendliche Augenblick
Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind
Rowohlt Verlag
320 Seiten, 19,95 Euro

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