Seit 9/11 nicht alles "radikal anders"

Michael Butter im Gespräch mit Susanne Führer · 01.09.2011
Der Amerikanist Michael Butter ist einer der Herausgeber von "9/11 – kein Tag, der die Welt veränderte". Es sei wichtig, der These von der Zäsur entgegenzutreten, meint er. Bereits vorher habe es den Kampf der Kulturen und westliche Vorurteile gegen den Islam gegeben.
Susanne Führer: In zehn Tagen jähren sich die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA zum zehnten Mal. 9/11 habe die Welt verändert, heißt es häufig, das Selbstvertrauen der USA erschüttert, zu Kriegen in Afghanistan und Irak geführt, das Verhältnis von westlicher und muslimischer Welt radikal verändert, und so weiter, und so weiter.

Drei junge Wissenschaftler – Michael Butter, Birte Christ und Patrick Keller – habe nun ein Buch herausgegeben, das den provokanten Titel trägt: "9/11 – kein Tag, der die Welt veränderte". Einer der Herausgeber ist uns nun zugeschaltet. Guten Tag, Herr Butter!

Michael Butter: Guten Tag, Frau Führer!

Führer: Tja, 9/11, kein Tag, der die Welt veränderte – das sagen Sie mal einer Afghanin, dass die Anschläge die Welt nicht verändert haben.

Butter: Afghanistan ist natürlich durch die Anschläge des 11. September und den Krieg gegen die Taliban, die Besetzung Afghanistans, die daraus entstanden sind, radikal verändert worden. Gleiches gilt für den Irak. Gleiches gilt aber auch für Menschen auf der ganzen Welt, deren Leben durch 9/11 radikal umgekrempelt wurde. Unser Titel bezieht sich aber zum einen vor allem auf die USA und ist zum anderen natürlich bewusst provokant gewählt. Wir würden niemals sagen: Es hat sich nichts geändert durch den 11. September. Sondern wir wollten ein wenig anschreiben gegen die These, dass alles auf einmal radikal anders geworden ist durch die Anschläge des 11. September 2001.

Unsere Gegenthese ist, dass der 11. September 2011 eher wie eine Zäsur, also wie ein Katalysator funktioniert hat. Entwicklungen, die schon vorher angelaufen waren und die wir aber nicht so mitgekriegt haben, sind dadurch beschleunigt worden, und sie sind vor allem sichtbar geworden. Vieles ...

Führer: Aber Herr Butter, bleiben wir noch mal ein bisschen bei den Veränderungen: Afghanistan, Irak hatten wir – das Leben für die Muslime in Europa hat sich möglicherweise doch auch sehr verändert, oder?

Butter: Das hat sich sehr verändert ...

Führer: Auch wenn jetzt hier keine Kriegshandlung stattgefunden hat, aber das Misstrauen, das ihnen entgegenschlägt, so, wie wir inzwischen den Islam wahrnehmen als eine Religion des Hasses, der Gewalt – das hat doch viel verändert.

Butter: Ich denke, das ist verstärkt worden dadurch. Ich denke aber nicht, dass das völlig aus dem Nichts gekommen ist, sondern das konnte ja gerade nur solche Dimensionen annehmen, weil es eben ein gewisses Misstrauen schon vorher gab, weil eben schon während der 1990er-Jahre amerikanische Politologen wie Huntington den Kampf der Kulturen oder der Zivilisationen ausgerufen hatten und den Islam zum neuen Gegner des Westens erklärt hatten.

Und der 11. September hat dann diese Theorien auf der Oberfläche bestätigt und hat deshalb dazu geführt, dass sich diese Gefühle intensiviert haben. Aber Vorurteile gegen Muslime gab es leider Gottes sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten schon lange vor dem 11. September 2001.

Führer: Na ja, Vorurteile, aber die Frage ist doch, wie stark sie unser Denken beherrscht haben. Nehmen wir mal den Anschlag von Oslo und die Erschießungen auf Utöya – alle, glaube ich, alle haben zunächst gedacht, es handelt sich um einen islamistischen Anschlag, und viele waren froh, dass es dann nicht der Fall war. Das heißt doch, wenn wir alle in diesen Kategorien denken, dann hat sich doch viel geändert, oder?

Butter: Wir würden ja auch überhaupt nicht sagen, dass sich nichts geändert hat. Also, der Titel ist natürlich insofern wirklich eine Provokation, und er ist auch eine Pointe. Es hat sich einiges geändert, aber was sich eben geändert hat, ist, dass sich die Intensität verändert hat, dass sich die Sichtbarkeit verändert hat. Aber was wir heute erleben, hat nicht allein mit dem 11. September zu tun, sondern wurde einfach durch den 11. September nur so intensiviert, dass wir eben heute, wenn wir von einem Anschlag in Oslo hören, sofort an islamistische Terroristen denken.

Führer: Na ja, intensiviert ist ja was anderes. Wie gesagt, vorher hätte ich das möglicherweise nicht getan. Dann hätte ich mich nur gefragt: Gott, wer war denn dieser Wahnsinnige? Das macht doch einen Unterschied, oder?

Butter: Na ja, es macht sicherlich einen Unterschied, und das wollen wir auch überhaupt nicht negieren. Aber es ist ja jetzt nicht so, dass der 11. September 2001 der erste islamistische Terroranschlag war. Es gab ja da durchaus schon vorher welche, zum Beispiel auf das World Trade Center im Februar 1993 – das hat sich nur nicht so in das kollektive Gedächtnis eingebrannt.

Aber dass der islamistische Terrorismus eines der Hauptprobleme der USA wie auch der westlichen Welt insgesamt sein würde, das war den meisten politischen Strategen schon während der 1990er-Jahre klar. Nur eben quasi der Gesamtbevölkerung war das nicht so klar, das ist wirklich erst durch den 11. September ins Bewusstsein gerückt. Da gebe ich ihnen vollkommen recht, aber das ist kein Ergebnis des 11. September.

Führer: Würden deutsche Soldaten in Afghanistan kämpfen ohne den 11. September? Wohl nicht.

Butter: Vermutlich nicht. Aber der 11. September markiert natürlich auch nicht diese Zäsur, dass es zum ersten Mal wieder einen Auslandseinsatz deutscher Soldaten gab, sondern diese Zäsur hatten wir ja quasi in den 1990er-Jahren mit der Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien.

Führer: Die Bedeutung der Anschläge vom 11. September 2001 ist unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit dem Amerikanisten Michael Butter. Herr Butter, dann lassen Sie uns doch mal dazu kommen, wenn Sie sagen, na ja, also, ich finde es so ein bisschen ärgerlich – "kein Tag, der die Welt verändert", sie sagen, ja, der Titel ist extra provokant gewählt, aber gut –, wenn Sie sagen, er hat nichts radikal verändert, aber hat als Katalysator gedient. Wofür genau? Was hat er wirklich, also, was haben die Anschläge verstärkt, beschleunigt?

Butter: Schauen wir uns doch zum Beispiel mal die Wahrnehmung der USA als Weltmacht an. Da kann man sagen: Die Amerikaner haben sich nach dem 11. September ganz anders verhalten, als sie sich vorher verhalten haben. Sie haben einerseits im Alleingang gehandelt, gegen den Willen der Weltgemeinschaft, gegen den Willen der UN, und sie haben gleichzeitig an Macht verloren. Beides ist richtig, aber beides liegt nicht allein am 11. September.

Die USA haben immer – und das wissen wir ja, schon während der 80er-Jahre, auch vorher schon – alleine gehandelt, wenn es ihren Interessen diente, und wenn sie es für nötig befunden haben, schon allein deshalb, weil während des gesamten Kalten Krieges nie eine Mehrheit im Weltsicherheitsrat für solche Aktionen zu finden war, weil natürlich die Vetomächte China und die UdSSR das damals blockiert haben.

Gleiches gilt, das heißt, wir haben hier quasi eher eine Rückkehr zu einem Muster, das vielleicht während der 1990er-Jahre nicht so prominent war, weil die 1990er-Jahre, wie es der Politologe Charles Krauthammer mal genannt hat, eine Art Urlaub von der Geschichte waren. Die Amerikaner waren die einzige Supermacht, die übrig geblieben war nach dem Zerfall des Ostblocks, und mussten deshalb oft gar nicht so handeln, wie sie das während der 80er-Jahre getan hatten und nach dem 11. September wieder getan haben.

Gleiches gilt aber auch für den Machtverlust der USA. Wenn man sagt, der 11. September, der Krieg im Irak und in Afghanistan, die nicht so sonderlich erfolgreich verlaufen sind, haben die Position der USA nachhaltig geschwächt, sowohl absolut in dem Sinne, dass die USA ihre Ziele nicht mehr so gut militärisch durchsetzen können, wie auch relativ gesehen, dass man sehr viel moralisches Ansehen verloren hat. Auch das war eine Entwicklung, die im Grunde vollkommen vorhersehbar war. Und dass diese Ausnahmestellung, dass man so unglaublich mächtig ist, einfach nur die Ausnahme der 1990er-Jahre war, und alle nuancierteren Theorien der internationalen Beziehungen vorhergesagt haben, dass es zu einem Machtverlust der USA kommen wird nach einigen Jahren.

Der 11. September hat hier wirklich perfekt als Katalysator funktioniert – dieser Machtverlust wäre gekommen, er wäre uns aber nicht so deutlich geworden, und er wäre auch nicht so schnell gekommen ohne die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon.

Führer: Gut, aber selbst, wenn wir jetzt mal nur in den USA bleiben, Herr Butter – ich zitiere mal Bernd Greiner, der hat auch ein Buch über 9/11 geschrieben: "9/11 – der Tag, die Angst, die Folgen". Der schreibt im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, ich zitiere mal eine kurze Passage: "9/11 steht für eine Zeitenwende, auch wenn die im Gefolge der Anschläge erlassenen Gesetze zahlreiche Vorläufer hatten und eine über Jahrzehnte geführte Diskussion fortschrieben" – also, das ist ja ihr Tenor hauptsächlich –, "so ist die seither in Europa wie in den USA zu beobachtende Entwicklung ungleich wuchtiger. Vor allen Dingen zeichnet sie sich durch eine größere Nachhaltigkeit aus". Damit meint er, dass kein Land eben die im Zuge, infolge der Anschläge erlassenen Sicherheitsgesetze bisher auch nur ein Jota zurückgenommen hat, sondern im Gegenteil, die eigentlich immer weiter ausgebaut werden. Das ist doch ein gewichtiges Argument, oder?

Butter: Das ist ein gewichtiges Argument, aber so wie ich dieses Zitat verstehe, ist das genau das Argument, das wir auch in unserem Buch machen, bis eben auf den einleitenden Halbsatz mit der Zeitenwende, sondern er sagt ja – was Herr Greiner sagt, ist ja gerade genau: Es gab diese Entwicklungen schon vorher, und sie sind nur durch den 11. September – wie war die Formulierung? – ungleich wuchtiger geworden. Das ist genau die Katalysatorthese, die wir eben auch in unserem Buch vorstellen. Das ist genau das, was wir argumentieren. Das heißt also, Herr Greiner und wir sind da bis auf die Wortwahl, was die Zäsur angeht, eigentlich gar nicht auseinander.

Führer: Na, ich bin mir nicht so sicher. Die USA setzen ja zum Beispiel bis heute Terroristen mit Kriegsgegnern gleich. Das ist ja neu, und das hat sich gehalten. Das heißt also, gezielte Tötung zum Beispiel von Terroristen durch Spezialeinheiten sind erlaubt, die USA haben die Folter erlaubt, Guantanamo ist immer noch nicht geschlossen, das Heimatschutzministerium arbeitet weiter.

Butter: Na, ich glaube, da muss man ein bisschen differenzieren, und zwar erstens, was ist da wirklich passiert, und zweitens, ist das wirklich so neu? Die USA haben im Endeffekt offiziell die Folter nicht erlaubt. Es gab diese Überlegungen, es ist aber letztendlich nicht passiert. Es gibt nach wie vor das Folterverbot – auch wenn es natürlich in der Praxis immer wieder ausgehöhlt worden ist.

Nur, das ist es auch schon vorher. Also, Waterboarding finden sie auch schon während des Vietnamkrieges. Es entsteht gerade bei einer Kollegin in Bonn eine Doktorarbeit zur Geschichte des Waterboarding in der amerikanischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Das heißt, das ist auch nichts Neues! Es ist einfach nur so, dass uns diese Dinge auch nicht so bewusst geworden sind, und dass sie natürlich auch nicht so prononciert und in dieser Dimension aufgetreten sind vor dem 11. September.

Führer: Herr Butter, aber die interessante Frage ist doch vielleicht auch, wenn jetzt alle meinen, die Welt habe sich verändert, hat sie das nicht dann auch? Sozusagen ein kollektiver Wahn, um es mal jetzt so zu nennen, schafft ja auch seine eigene Wirklichkeit.

Butter: Das ist ein ganz gewichtiges Argument, da haben Sie natürlich vollkommen recht, wenn sie auf diese Mentalitätsdimension abheben. Nur, ich glaube, auch hier ist es so, dass die These von der Zäsur, dass es wichtig ist, der These von der Zäsur gerade eben, weil die Mentalitäten ihre Realität schaffen, ist es wichtig, der These von der Zäsur entgegenzutreten. Denn ich denke, die Kontinuitäten zu betonen, macht uns bewusster dafür, was für längerfristige historische Ereignisse den 11. September beeinflusst haben, und dass Geschichte quasi eben sich meistens nicht von heute auf morgen ändert. Wir mögen das denken, aber gerade weil es so gefährlich ist, wenn wir das denken, wollen wir mit unserem Buch einen Beitrag dazu leisten, die Diskussion vielleicht etwas nuancierter zu machen.

Führer: Und warum ist es gefährlich?

Butter: Ich denke, dass das Denken in Zäsuren durchaus gefährlich ist, weil man dann eben dazu neigt, größere historische Komplexe auszuklammern. Es ist ja nicht umsonst so, dass die Idee, das 9/11 eine radikale Zäsur darstellt, letztendlich auch von der Regierung Bush aktiv propagiert wurde, um eben gewisse innen- und außenpolitische Ziele zu legitimieren. Und in dem Sinne, wo man dann eben darauf beharrt, dass das 9/11 eben keine radikale Zäsur ist, kann man eben quasi auch diese Argumentation besser aushebeln, als wenn man den Gedanken, dass das eine Zäsur ist, unkritisch stützt.

Führer: Sagt der Amerikanist Michael Butter, er ist einer der Herausgeber des Buchs "9/11 – kein Tag, der die Welt veränderte". Ich danke fürs Gespräch, Herr Butter!

Butter: Ich danke Ihnen, Frau Führer!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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