Sehnsucht nach Sicherheit

Nicht ohne meine Angst

Dutzende Flaschen Pfefferspray stehen bei einem Waffenhändler in Frankfurt am Main im Regal. Gerade beim Pfefferspray verzeichnet der Fachhandel in jüngster Zeit eine massive Umsatzsteigerung.
Beim Pfefferspray verzeichnet der Fachhandel eine massive Umsatzsteigerung. © picture alliance / Boris Roessler
Von Johannes Nichelmann · 30.05.2016
Viele Deutsche sorgen sich um ihre Sicherheit und rüsten auf: mit Pfeffersprays für die Handtasche oder der Alarmanlage fürs Eigenheim. Was passiert da mit einer Gesellschaft, die doch so stolz auf ihre Offenheit ist?
Mann: "Wird immer krimineller! Bei uns wurde nie geklaut. Jetzt: Kellereinbrüche, Fahrräder raus. Wagen raus, solche Kinderwagen. Ne."
Steigende Einbruchszahlen. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten machen sich Sorgen.
Judith Rakers in der ARD-Tagesschau: "Auf der Balkanroute haben die früheren jugoslawischen Teilrepubliken immer mehr Probleme... "
Die Flüchtlingskrise – Bilder von hunderttausenden herannahenden Menschen aus Krisengebieten geben so manchem den Eindruck: Deutschland wird überrannt. Dann: die Kölner Silvesternacht.
WDR-Reporter: "Was wir immer noch nicht so verstehen: Es waren doch jede Menge Polizisten in der Silvesternacht am Hauptbahnhof in Köln. Die müssen doch..."
Frau: "In den Medien hört man eben halt viel, dass die Mädchen, die jungen Mädchen begrapscht werden und so."
Frau 2: "Ich weiß nicht, wo das hinführt! Ich denke mal, dass irgendwann ist ja mal das Fass leer hier bei uns."
Mann 2: "Wir können ja leider nicht alle aufnehmen. So traurig wie es ist. Man muss dann halt leider auch sagen: Europa ist jetzt leider auch voll."
Frau 2: "Das ist meine Sorge, dass sie vielleicht auch meine Rente irgendwann beschneiden oder so."
Die Verunsicherung wird instrumentalisiert. Rechtspopulisten gewinnen bei Landtagswahlen deutlich an Stimmen.
Björn Höcke, AfD: "Liebe Freunde, ich bin in Sorge! Dass auf unserem Dom der Halbmond zu sehen sein wird. Und ich frage euch: wollt Ihr das?"
Publikum: "Nein!"
Die Hälfte der Deutschen gibt an, dass ihnen Sicherheit wichtiger ist als Freiheit. Verändert uns die Sehnsucht nach Sicherheit? Woher kommen die Ängste vieler Menschen und was kann dagegen unternommen werden?
Thomas de Maizière: "Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern."

Reiche Elite hinter dem schwarzen Zaun

Schöner könnte es, glaub ich, kaum sein. Ich sitze direkt an der Havel in Potsdam. Zu meiner Linken die Glienicker Brücke, zu meiner Rechten das Schloss Babelsberg. Und hinter mir: Arcadia. Deutschlands erste Gated Community. 45 Wohnungen und sieben Villen auf 2,8 Hektar. Neubauten und herrschaftliche Häuser hinter einem schwarzen Zaun, den man stellenweise leicht überspringen könnte.
Was vermutlich Alarm auslösen würde. An den Zaunstreben befinden sich Sensoren. An den Laternen hängen Überwachungskameras. Über zehn Jahre hat es gedauert, bis alle Anwesen auf dem exklusiven Gelände verkauft wurden. Dann ging es aber ganz schnell. Die Vermarkter sprachen davon, dass hier die "transatlantischen Eliten des deutschsprachigen Raums" wohnen können. In dieser wundervollen Natur. Hinter diesem Zaun, hinter den Kameras und hinter dem Wachdienst.
Die Leute die hier wohnen, sind auf jeden Fall ziemlich reich. Einige haben sich für das Leben mit Wachmann entschieden, weil sie Angst haben, dass bei ihnen eingebrochen wird. Das zumindest hab ich in Fernsehberichten gesehen und in Zeitungsartikeln gelesen. Inzwischen sind Reporter hier ungebetene Gäste.
Wer will sich laufend dafür rechtfertigen, dass er wohnt, wie er wohnt. Aber andererseits ist das natürlich ein wahnsinnig spannendes Phänomen. Warum schließen sich Leute in Deutschland, in Potsdam, so ein? Was für eine Angst steckt dahinter?
Die Zahl der Einbrüche in Deutschland nimmt deutlich zu. Im Schnitt alle drei Minuten findet irgendwo ein Einbruch statt. In den letzten sechs Jahren ist die Schadenssumme der Versicherer um über 50 Prozent gestiegen. Gated Communitys sind in Deutschland dennoch ein ziemlich seltenes Phänomen.
Aber Arcadia wirkt wie eine Metapher für das, was gerade hierzulande passiert. Die Aufrüstung gegen Bedrohungen. Seien sie nun real oder nur gefühlt.

Waffenhändler haben gute Konjunktur

In Berlin-Spandau betreibt die Familie Triebel seit über hundert Jahren ein Geschäft für Waffen. Vor allem Sportschützen und Jäger kommen hierher. Seit einigen Monaten aber auch immer mehr Menschen, die vermutlich sonst nie den Gang in ein Waffengeschäft gewagt hätten.
Katja Triebel: "Ja, seit Oktober wurde vermehrt nach Pfefferspray gefragt und auch nach Schreckschusswaffen. Da zu Silvester Schreckschusswaffen zusätzlich auch noch zum Böllern benutzt werden waren wir in der ersten Januarwoche völlig ausverkauft. Wir hatten glaube ich noch fünf Stück hier. Und nach Köln stieg die Nachfrage nochmal rasant an. Und die Industrie konnte halt einfach bis jetzt, bis vor ein paar Wochen, die Nachfrage nicht bedienen. Also wir hatten leere Verkaufsvitrinen, wir hatten über zwei Monate ganz viel aufgeregte Kundschaft im Geschäft die unbedingt Verteidigungsmittel haben wollten. Die haben wir beraten und haben selten was verkauft, weil die meisten Sachen, die sie wollten, wie zum Beispiel ein Elektroschockgerät oder auch so ein Alarmgeber, so eine Alarmsirene, die sind nicht zu kriegen. Es gibt keinen Nachschub."
Hat sich das gelöst inzwischen?
Katja Triebel: "Bei Pfefferspray und den Schreckschusswaffen hat es sich gelöst. Bei den Gaspatronen auch. Aber Elektroschocker ist seit einem halben Jahr keiner neuer reingekommen."
Wer eine Gaspistole mit sich führen möchte, muss einen kleinen Waffenschein besitzen. Der Antrag wird nach einer Überprüfung der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit unbefristet gewährt. Eine sogenannte Sachkunde- oder Bedürfnisprüfung gibt es nicht. Landesweit melden die Ämter immer mehr Anträge. In Sachsen-Anhalt stieg die Zahl der kleinen Waffenscheine in den letzten zwei Jahren um knapp 900. Im Raum Zwickau wurden 2014 nur 15 dieser Dokumente ausgestellt. Ein Jahr später sind es 139. In Dresden hat sich die Nachfrage im Vergleich zum Vorjahr verfünffacht. In Köln wurden in den Tagen nach Silvester 300 Anträge gestellt. Waffenhändlerin Katja Triebel führt derzeit viele Gespräche mit ihren Kundinnen und Kunden. Sie sind fest überzeugt, dass ihr Umfeld gefährlicher geworden ist. Durch eigene Erfahrungen oder durch Hörensagen.
Katja Triebel: "Also ich hab eigentlich nicht gehört, dass man am helllichten Tag zu dritt bedrängt wird und einem sämtlicher Schmuck abgezogen wird. Ich hab auch nicht gehört, dass vorher 80-jährige Frauen vergewaltigt werden oder auch kleine Kinder im Schwimmbad angemacht werden. Und ich hab auch nicht gehört, dass Einbrecher, wenn man sich bemerkbar macht oder eventuell so ein Jäger- oder Sportschütze der eine Waffe hat und sagt: Gehen Sie, ich schieße, dass die nicht abhauen. Also das Werteverhältnis, wie viel Gewalt setze ich, wie viel riskiere ich auch mein eigenes Leben als Täter oder auch eine Gefängnisstrafe ist unterschiedlich geworden. Und das sehen die Leute und deswegen möchte sie sich stärker schützen als früher. Ob diese Angst berechtigt ist oder nicht, kann ich nicht entscheiden. Ich hol sie da ab, wo sie sind. Sie haben Angst."

Pfefferspray als eine Art Bedarfsmedikament

Philipp Sterzer: "Es verleiht einem schon Sicherheit in der Form, dass man das Gefühl bekommt, im Notfall sich wehren zu können. Man kann das vielleicht vergleichen mit einem Menschen, der an einer Angststörung leidet."
… sagt Philipp Sterzer, Professor an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Ein Pfefferspray in der Handtasche könne wie ein Bedarfsmedikament wirken. Ein Mittel für den Notfall. Oder ein Mittel, um die Angst vor der Angst zu bekämpfen:
"Es kann sicher auch was Gutes sein. Es ist die Frage, ob das sozusagen die beste Maßnahme ist, um tatsächlich ursächlich etwas gegen die Ängste zu tun. Ich würde das eher als eine oberflächliche Form der, wenn man jetzt von Behandlung spricht oder der Therapie sehen, denn es ändert ja letzten Endes nichts daran, dass wir diese Angst haben. Dass wir grundsätzlich uns bedroht fühlen."
Marietta Slomka im ZDF: "Man wird möglichweise am Ende dieses Abends sagen, dass das auch eine Art 11. September für Paris ist."
Europa verändert sich. Der islamistische Terror – so nah war er noch nie. Im November 2015 sterben in Paris 130 Menschen. Fast 400 werden verletzt. Ein paar Wochen später werden 35 Menschen bei Anschlägen in Brüssel getötet.
ARD-Reporter: "Ständig steigt die Zahl der Toten und Schwerverletzten. Eine Überwachsungskamera hat dieses Bild gemacht. Es soll mögliche Verdächtige zeigen."
Ängste entstehen durch Unsicherheit. Aus Furcht, dass etwas Unvorhergesehenes und Schlimmes passieren könnte. Da ist dieses diffuse Gefühl: Auch mir könnte ein Unglück geschehen. In den sozialen Netzwerken kursieren Horrorgeschichten von marodierenden Flüchtlingsbanden. Dazu die massiv steigenden Zahlen von Wohnungseinbrüchen. Die Spirale dreht sich weiter und weiter. Probleme fließen ineinander. Die Politik findet bislang kaum Antworten.
Talja Blokland: "Ja und es ist auch nicht so, wenn es morgen die Flüchtlingskrise nicht mehr gibt, dass die Angst dann nicht mehr da ist."
Talja Blokland ist Stadtsoziologin an der Humboldt-Universität Berlin:
"Diese existentielle Angst mit der Flexibilisierung der Welt, ob das jetzt Arbeitsmarkt ist oder aber auch Perspektive für Kinder und so weiter. Und damit umzugehen, diese Angst sucht sich einen Weg."
Angst ist nicht gleich Angst. Die Ursachen für Unsicherheiten sind vielfältig. Für die gebürtige Niederländerin liegt ein Grund in der Neoliberalisierung. Existenzängste machen sich breit. Menschen in Ostdeutschland beispielsweise wurden nach der Wende durch Arbeitslosigkeit und einem Leben an der Armutsgrenze abgewertet. Ihre Haltung zu Flüchtlingen hat nicht die gleichen Beweggründe wie bei rechtsextremen Gruppierungen, die den Staat ablehnen und sich ein Deutschland ohne Einwanderung wünschen. Aber auch diese Leute rüsten sich auf, die Zahl der rechten Gewalt stieg in den letzten Monaten massiv an. In der Debatte würde all dies aber vermischt werden, sagt Talja Blokland:
"Man kann pauschal nicht sagen, Menschen haben Angst vor dem Fremden oder Menschen haben Angst vor irgendwas und das äußert sich in Angst vor Fremden und diese Angst führt dann zu bestimmten Wahlentscheidungen oder feindlichen Praktiken gegen Flüchtlinge oder wie auch immer. Ich glaub, das sind unterschiedliche Themen. Ich hab mal Forschung gemacht in einem sehr von Kriminalität bedrohten Gebiet in Amerika. Da hatten die Anwohner keine Angst in ihrem eigenen Quartier. Die wussten ganz genau, wer was macht. Die konnten jeden einschätzen und die wussten deshalb auch, wie sie sich verhalten sollten. Die wussten ganz genau, wem man aus dem Weg gehen sollte und so weiter. Die hatten Angst, wenn sie ihre Viertel verlassen haben. Dann haben sie gesagt: Nein, ich gehe nicht gern in das Quartier oder das Quartier. Denn, wenn ich dort hingehe, kann mir alles passieren. Ich glaub das ist es halt, wenn viele Änderungen in Städte oder Transformationen im Leben passieren. Dieses Vertrauen und nicht Vertrauen ist okay. Man muss nicht mit jedem befreundet sein und man muss auch nicht jedem vertrauen. Aber was uns unsicher macht, was uns Angst macht ist, wenn wir es nicht mehr wissen."

Milliarden für den Einbruchsschutz

Der Staat hat die Sicherheit seiner Bürger privatisiert. Die Menschen sind jetzt größtenteils selbst für ihren Schutz verantwortlich. Das Institut für Demoskopie Allensbach hat zu Beginn des Jahres eine Umfrage zu den Ängsten der Deutschen gemacht. 58 Prozent der Befragten gaben demnach an, sich unsicherer zu fühlen als noch vor 20 oder 30 Jahren. Eine Schätzung geht davon aus, dass im Jahr 2015 insgesamt 1,5 Milliarden Euro allein in den Einbruchsschutz investiert wurden.
"Staatlich kann man wenig tun, um diese Verunsicherung, ich rede lieber von Verunsicherung als von Angst, diese Verunsicherung, die zusammenhängt mit Globalisierung und Deindustrialisierung, dass es keine Industrie mehr gibt, dass die Welt globaler wird, schneller wird, dass Medien eine andere Rolle spielen, dass Arbeitsplätze nicht mehr sicher sind, dass man sich Sorgen machen muss um die Rente. Das sind große gesellschaftlich-ökonomische, politik-ökonomische Prozesse, wo eigentlich eine politische Führung auf ein bestimmtes Moment in vier Jahren ganz wenig machen kann."
Weiter erzählt Talja Blokland von der These ihrer französischen Kollegin Sophie Body-Gendrot, die sich mit den Ursachen der Angst vor Migranten in Frankreich beschäftigt hat. Sophie Body-Gendrot schreibt im Jahr 2003:
"Die Zeiten sind vorbei, in denen der Staat eine Rückversicherung für die Bevölkerung und einen Puffer gegen Risiken darstellte. Soziale Präventionsmaßnahmen, die bei den Ursachen von Kriminalität ansetzen und vor 20 Jahren implementiert wurden, geraten in Vergessenheit. Der Sicherheitsdiskurs, der auf Ängsten aufbaut und die Nervosität wegen gesellschaftsinterner Risiken schürt, ist stattdessen selbst zur Regierungstechnik geworden."
Talja Blokland: "Es gefällt den Politikern, dass Leute Angst haben vor so etwas Kleinem wie den Migranten, da sie sich dann nämlich mit der wirklichen Ursache von Angst auch nicht auseinandersetzen müssen. Das wird noch extremer, wenn das auch so an Quartiere verbunden wird. Es ist schön, wenn Leute, das ist ihre These, es ist schön, dass da so eine war in Marseille in Frankreich, wo Quartiere sind, wo das Schlimme verortet wird. Da sind die schlimmen Migranten, das sind die Kriminellen, vor denen haben wir Angst. Damit ist das in dem Quartier, kann man da Quartiersmanagement in dem Quartier machen. Man kann zeigen, dass man da viel macht. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit hoch, also die Leute wollen vielleicht nicht oder was auch immer. Politiker können dann auch immer vermitteln: Wir machen es doch! Wir gehen doch in diese Quartiere rein und machen Sozialprojekte und guck mal, wir arbeiten an Eurer Angst. Die eigentliche Angst, die viel existentiellere Angst, was ist meinem Job? Was, wenn ich morgen meine Miete nicht mehr zahlen kann. Was, wenn meine Kinder keinen guten Ausbildungsplatz finden. Diese Angst müssen Sie dann gar nicht ansprechen. Sie können das verlagern auf die Angst in dem Quartier."

Was ist eigentlich am Kotti los?

TV-Sprecher: "Am Kottbusser Tor, das die Berliner "Kotti" nennen, wohnen seit den 60er-Jahren viele türkische, kurdische und arabische Familien. Die meisten gut integriert. Die wachsende Kriminalität empfinden sie als bedrohlich. Wie hoch ist die Gefahr hier bestohlen zu werden? Wir machen einen Selbstversuch."
Die ZDF-Reportage vom 10. April 2016. Einer von vielen Beiträgen über die Gewalt am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg.
So zwei, dreimal die Woche bin ich hier in Berlin am Kottbusser Tor und mir ist in all den Jahren noch nie irgendetwas passiert. Egal zu welcher Tages- und Nachtzeit. Hab mich hier nie unsicher gefühlt. Seit einigen Wochen aber gibt es viele Reportagen im Fernsehen, im Radio, im Internet, in Zeitungen, die davon erzählen, dass die Kriminalitätsrate hier wahnsinnig gestiegen ist. Dass es wahnsinnig viele Taschendiebe gibt, dass es auch Gewalt gibt, dass Leute verletzt werden. Und seitdem ich das gesehen hab, in dieser Menge, fühle ich mich hier unheimlich unsicher und achte darauf, dass meine Tasche nah an meinem Körper ist, dass mein Mobiltelefon nicht zu sehen ist. All solche Dinge. Ich hab also scheinbar so eine diffuse Angst jetzt. Dass mir hier irgendwas passieren könnte. Und darüber bin ich selbst wahnsinnig erschrocken.
Katharina: "Ich wohne hier in einer WG am Kottbusser Tor. Wir haben ziemlich viel Platz zusammen, ein großes Wohnzimmer. Da haben wir ein Klavier drin stehen und einen Fernseher und ein Sofa, mehrere Sessel. Einen großen Küchentisch. Es ist eigentlich recht heimelig hier."
Katharina erzählt mir davon, dass sie nicht mehr Gewalt am Kottbusser Tor beobachtet als noch vor acht Jahren. Damals ist sie in diese Wohnung gezogen. Persönlich hat sie sich nie besonders unwohl gefühlt. Außer einmal, als bei ihr eingebrochen wurde:
"Ja, da sind hier irgendwie zwei junge Typen eingebrochen und wir waren auch gerade, also meine Mitbewohnerin und ich, waren auch zu Hause, das war ein Sonntag-Nachmittag, es war sonnig draußen und wir saßen auf dem Balkon und das waren extrem schlecht vorbereitete Jugendliche, die hier eingebrochen sind und uns dann auch begegnet sind hier drin. Meine Mitbewohnerin hat die dann tatsächlich mit ein paar unfreundlichen Worten auch wieder verscheuchen können. Was dazu geführt hatte, dass ich mich tatsächlich für ein paar Wochen unwohl in meiner eigenen Wohnung gefühlt habe, weil ich dachte, die ist sehr viel zugänglicher als ich das so dachte. Aber nach ein paar Wochen hat sich mein Angstempfinden eigentlich auch wieder gelegt."
Ich erzähle Katharina von meinem Unsicherheitsgefühl am Kottbusser Tor, seitdem so viel über diesen angeblich so gefährlichen Ort berichtet wird:
"Ja, macht einen ein bisschen so ein bisschen paranoid oder so ein bisschen wachsamer auf irgendwie so eine unangenehme Art und Weise, dass man irgendwie anfängt Leute zu mustern oder irgendwie vielleicht sogar einen unangenehmen Rassismus an sich selber stärker bemerkt. Also es ist irgendwie... ich glaube, dass diese ganze Debatte ja sicherlich rassistische Tendenzen auf jeden Fall befördert."
Die du auch an dir selbst merkst?
"Die ich leider auch wirklich an mir selber merke, natürlich. Wenn ich Geld abhebe, werde ich plötzlich auf so eine ganz unangenehme Weise wachsamer und denke: Katharina, Kottbusser Tor, du hast jetzt Geld in der Tasche. Jetzt musst du aufpassen, wer dir hier entgegenkommt. Das ist bescheuert. So möchte ich eigentlich auch nicht durch meine eigene Nachbarschaft gehen."

Unsicherheitsgefühl ist nachvollziehbar

Den Zahlen nach hat es eine Steigerung der Gewalt am Kottbusser Tor gegeben. Die Medien werden über diesen und über andere Fälle weiter berichten, so lange, wie es Anlässe dazu gibt. Für Oliver Malchow, den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei sind die Ängste der Deutschen vor Gewalt und Kriminalität nichts Neues:
"Überrascht hat mich die große Heftigkeit zu Anfang des Jahres. Aber wir als Polizei sind ja letztendlich an den Bürgerinnen und Bürgern dran. Wir wissen ja, wie das Szenario, wie die Gefühlswelt bei den Bürgerinnen und Bürgern ist. Das haben wir bei jedem Einsatz, wo wir das feststellen. Insofern überrascht es mich nicht, dass es ein Unsicherheitsgefühl gibt. Das ist nachvollziehbar und es gibt es schon länger. Es ist nur ignoriert worden."
Vor kurzem gibt CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach im Magazin "Der Spiegel" zu, dass es womöglich ein Fehler gewesen sei, seit Beginn des Jahrtausends ausschließlich die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus in den politischen Mittelpunkt gestellt zu haben.
Oliver Malchow: "Also das Thema innere Sicherheit war ja in den letzten Jahren nie Wahlkampfthema. Es war auch bei Umfragen nie eines der bedeutenden Themen. Also wir haben Dinge, die eigentlich wir mittlerweile als selbstverständlich erachten nicht mehr im Fokus unserer Betrachtung. Und damit auch das Thema innere Sicherheit, weil wir da auf einem hohen Standard weltweit leben, nicht so im Fokus gewesen und damit auch nicht wahlentscheidend gewesen. Tatsache ist aber so, dass die Bürgerinnen und Bürger schon durch Unordnung sich unsicher fühlen. Es gab nicht die richtige Unterstützung für dieses Thema."
Dafür aber massive Kürzungen. Seit dem Jahr 2000, sagt Oliver Malchow, seien 16.000 Stellen gestrichen worden. 20 Millionen Überstunden seien angefallen. Dies entspreche der Leistung von knapp 9.000 Beamten. Seit der Silvesternacht und seitdem die AfD im März bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt massive Gewinne verzeichnen konnte ist alles anders.
Oliver Malchow: "Auf einmal ist das total umgedreht worden in Personalverstätigung und das Aufwachsen von Polizeistellen. Die Frage ist nur, wann kommen die. Wenn wir heute die Auswahlverfahren machen, dauert das ein Jahr bis zur Einstellung, plus drei Jahre Studium oder Ausbildung, sind wir bei vier Jahren."
Judith Rakers, ARD: "Mehrere tausend Schutzsuchende überrannten heute regelrecht Grenzposten nach Slowenien. Dessen Regierung bat die EU deshalb um zusätzliche Polizeikräfte."
Mann 1: "Ja, was macht mir Angst? Die kommen, sahnen ab und alle schleichen sich ein. Und dann werden die Bombenanschläge gemacht. Explodiert alles, ne."
Tragen wir Journalisten eine Mitschuld am Angst-Gefühl der Deutschen?
Frau 1: "In den Medien hört man eben halt viel, dass die Mädchen, die jungen Mädchen begrapscht werden und so."
Anne Will: "Haben die Recht und wir schaffen es doch nicht?"
Angela Merkel: "Wir schaffen das. Da bin ich ganz fest davon überzeugt und wir müssen uns nur immer wieder fragen, was heißt das?"
Friederike Herrmann: "Was ich nicht glaube, ist, dass der Journalismus die Ängste erzeugt. Das ist ein veraltetes Modell, da sind wir lange von weg."
Friederike Herrmann ist Professorin für Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt:
"Es ist die Gesellschaft als Ganzes, wo solche Ängste entstehen und der Journalismus kann das vielleicht verstärken, indem er bestimmte Aspekte hervorhebt. Das ist eigentlich auch "state of the art" in der Wirkungsforschung, dass man eher davon ausgeht, nicht dass der Journalismus direkt eine Wirkung hat, die Medien direkt eine Wirkung haben auf die Leute, sondern, dass eher indirekt dadurch Themen hervorgehoben werden, über welche Themen viel berichtet wird, schon bestehende Ängste bei bestimmten Leuten verstärkt werden."

Die Geister, die Merkel rief

Alle Verlage und Sender haben seit dem Herbst 2015 täglich und ausführlich die Flüchtlings-Debatte abgebildet. In Talk-Shows, Magazinen, Titelgeschichten, Interviews, Reportagen und Dokumentationen. Dabei sei, sagt Friederike Herrmann, vor allem eine Erzählung entstanden. Ein Narrativ, das fortan im Raume stand und um das herum alle Geschichten erzählt worden seien:
"'Merkel hat die Flüchtlinge gerufen, indem sie sagte: Wir schaffen das.' Damit war sie sozusagen als Sündenbock identifiziert. Was insofern schon etwas haarsträubend ist, als wir in einer Demokratie leben, wo glücklicherweise eine Person gar nicht die Macht hat, das so zu machen. Zum anderen ging verloren in dieser Erzählung das es zu dem Zeitpunkt alternativlos war, was Merkel gemacht hat. Es haben auch einige Politiker gesagt, aber die drangen auch wieder nicht durch. Haben gesagt, jeder Politiker, jeder Bundeskanzler an ihrer Stelle hätte ganz genauso entschieden. Es ging nicht anders, Europa wäre explodiert, wenn das nicht passiert wäre. Im Narrativ war es aber ganz anders."
Merkel als Zauberlehrling. Sie rief die Geister. Wurde sie nicht mehr los. Dann kam der Hexenmeister, mit einem Machtwort.
Friederike Herrmann: "Und in diese Situation ist meines Erachtens Seehofer reingegangen und hat genau diese Zuschreibung unterstützt an Merkel und sozusagen von ihr gefordert jetzt die Geister, die sie rief, auch wieder wegzuschicken. Dahinter ging verloren, dass das Problem ein globales ist, das nicht in Deutschland zu lösen ist. Nicht mal in Europa. Klar, Merkel hat auf die europäische Lösung gesetzt. Aber natürlich ist es ein viel umfangreicheres Problem und es gerieten völlig die Flüchtlinge selber aus dem Blick. Dass da Menschen sind. Es war ja wirklich, wenn man sagt, wir machen die Grenzen dicht, man fragte sich, ja, wo sollen sie denn bleiben? Sollen sie alle im Mittelmeer ertrinken? Sollen sie alle in Syrien sich zu Tode schießen lassen? Das wurde nicht mehr thematisiert zu diesem Zeitpunkt, weil es im Narrativ nicht vorkam."
Der Streit zwischen Bundeskanzlerin und CSU-Chef stand im Vordergrund. Dazu Bilder von Menschen in schlammigen Zeltstätten, Aufnahmen von erstickten Menschen in Schlepper-Fahrzeugen, Flüchtlingstracks entlang der Autobahnen. Chaos am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz "Lageso". Bilder, die eine Willkommenskultur überstrahlt haben und Angst auslösten.
Friederike Herrmann: "Man hat nicht reflektiert, wie durch dieses ständige Wiederkehren des Themas tatsächlich ein Gefühl der Überforderung entsteht. Das ist bei einem Thema wie Flüchtlinge vielleicht brisanter als bei anderen Themen, weil der größte Teil der Bevölkerung keine eigene Erfahrung mit den Flüchtlingen hatte. Also wenn Sie eigene Erfahrungen haben, nehmen wir mal an in der Lokalberichterstattung macht die Zeitung irgendwas und Sie sagen, nein, meinen eigenen Erfahrungen entspricht das nicht. Was weiß ich, es wird über einen Skandal am Gymnasium berichtet, aber die Leute haben zum Beispiel die Erfahrung, dass ihre Kinder da gerne hingehen und auch was lernen, dann hat das nicht so starke Auswirkungen, als wenn Sie über ein Thema berichten, von dem die Leute keine eigenen Erfahrungen haben. Dann kann so ein Narrativ, was sozusagen etwas transportiert wie: Da kommen immer, immer mehr und die wollen auch noch alle nach Deutschland und das hört ja überhaupt nicht auf, kann dann sehr schnell bei den Leuten tatsächlich das Gefühl erzeugen: das ist zu viel. Was zu viel ist, ist vielleicht nur die Berichterstattung. Auch die angebliche Angst der Bevölkerung ist ja vielleicht schon was durch die Medien Herbeigeredetes? Vielleicht sind die gar nicht so ängstlich? Vielleicht leben die relativ ruhig und halten die Welt für einen ordentlichen Ort?"
Die Ängste sind da. Es ist schwer ihnen mit Argumenten zu begegnen. Psychologe Philipp Sterzer von der Berliner Charité:
"Aufklärung darüber, wie unsere eigenen Ängste eigentlich entstehen. Ich denke, dass ist ein wichtiger Punkt, denn es ist eine ganz normale oder natürliche Reaktion, dass man vor Unbekanntem, vor Fremdem zunächst einmal Angst hat. Was uns unbekannt ist, ist zunächst einmal schwer einzuschätzen, stellt in irgendeiner Form eine Bedrohung dar und es gibt in dieser Hinsicht auch starke, man nennte es kognitive Verzerrungen, d.h. dass wir zum Beispiel Vertreter einer bestimmten Gruppe das erste Mal sehen und da das sozusagen der einzige Vertreter dieser Gruppe ist, extrapolieren wir sehr stark von diesem einen Vertreter auf die gesamte Gruppe. Das muss sich nicht unbedingt jetzt auf andere Ethnien oder andere Nationalitäten beziehen, sondern Sie kennen das vielleicht selbst, wenn Sie Autofahrer sind und da fährt Ihnen ein Fahrradfahrer quer über die Fahrbahn und Sie regen sich darüber auf: Diese Fahrradfahrer! Ja, vielleicht verhalten sich 99 Prozent der Fahrradfahrer völlig adäquat im Straßenverkehr. Aber der eine führt dann dazu, dass Sie sozusagen generalisieren auf die ganze Gruppe."
Zurück in Potsdam, vor den Toren der "Gated Community" Arcadia. Der schwarze Mercedes eines älteren Ehepaares fährt hinein, ein Wachmann grüßt freundlich.
Ein Schild hier am Haupttor verrät dass momentan hier eine Eigentumswohnung frei ist. Mit Seeblick, erstes Obergeschoss, 213 Quadratmeter. Die Lage auf jeden Fall ist sehr, sehr gut. Und die Sicherheit, die ist auch gewährleistet.
Aber wer will schon so leben, denke ich mir. Abgesehen davon, dass das Wohnen hier für die meisten unerschwinglich ist. Und bei der Bekämpfung unserer Ängste werden Zäune, Pfefferspray und Gaspistole wohl nicht helfen.
Talja Blokland: "Es ist so ähnlich wie mit Fitnessgeräten. Wir kaufen schon ganz lange schon irgendwelche Fitnessgeräte aber ich glaube, im Durchschnitt sind wir noch immer nicht schlanker oder fitter geworden."
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