Sehnsucht nach dem Land ohne Lügen

Von Volker Trauth · 28.02.2013
Für die Theaterfassung seines Bestsellers hat der Schriftsteller Eugen Ruge den Text stark verknappt. Dennoch entsteht für den Zuschauer der Eindruck von Länge, wenngleich die Schauspieler am Deutschen Theater Berlin auf erlesen hohem Niveau agieren.
In seiner Bühnenfassung, die er im Auftrag des Deutschen Theaters geschrieben hat, bleibt Eugen Ruge relativ eng am Roman. Er sucht nicht nach dem einschneidenden konzeptionellen Neuansatz, nicht nach einer radikalen Um- und Neubewertung von Figuren und Situationen, sondern nach Verknappung und Übertragung in die Formensprache des Theaters.

Er hat das Grundgerüst des Personenzettels beibehalten, nur in den Ergänzungsrollen mehrere Figuren zu einer zusammengefügt. Die Schar der Gratulanten zum 90. Geburtstag des Altkommunisten Wilhelm reduziert sich beispielsweise auf den Parteisekretär.

Bewahrt hat Ruge den Bruchstückcharakter des Romans, der sich in den vielen Zeitsprüngen von 1952 bis 2001 ausdrückt. Verstärkt hat er die Technik des Perspektivwechsels: wenn er im Roman Wilhelms Auszeichnungsfeier aus zwei wechselnden Figurenperspektiven erzählt, so sind es in der Bühnenfassung gleich sechs verschiedene Blickwinkel.

Deutlicher als im Roman arbeitet der Autor die wiederkehrenden Grundmotive heraus, die sich über Generationen und Zeiten hinweg erneuern: das Verlöschen der Illusionen, die Sehnsucht nach dem "Land ohne Lügen". Die Auseinandersetzung zwischen Reformern und Dogmatikern.

Stephan Kimmig hat als Regisseur nach einer vielfarbigen und vielgestaltigen theatralischen Erzählweise gesucht. Er lässt dokumentarische O-Töne von wichtigen Zeitereignissen wie der Erstürmung der Prager Botschaft der Bundesrepublik durch ausreisewillige DDR-Bürger oder die Verlautbarungen nach dem Ende der UdSSR einspielen. Lieder aus dem mexikanischen Exil wie das des Pablo Negrete oder aus der Sowjetunion wie das vom Zicklein oder das von der Großmutter und dem Wodka werden gesungen, rauschende Feste mit Akkordeon und Gitarre heben an und eine Weihnachtsfeier – die letzte - endet im Katzenjammer des unversöhnlichen Streits zwischen dem Historiker Kurt und dessen nach dem Westen abgehauenen Sohnes Alexander.

Da wird ein weiterer Grundzug der Inszenierung deutlich: die zunehmende Feindschaft zwischen den Figuren und Generationen, die mit unaufhaltsamem Sog zum endgültigen Zerplatzen der Familienbande führt.

Bei allem Bemühen um Vielgestaltigkeit: Irgendwann entsteht der Eindruck von Länge – sicherlich durch die Technik des Perspektivwechsels, durch die vielfach Gesagtes in endlosen Wiederholungen aufgewärmt wird und der Zuschauer nicht selten den Eindruck gewinnt, alles schon einmal erfahren zu haben.

Schauspielerisch steht der Abend auf einem erlesen hohen Niveau. Als Beispiel sei Christian Grashoffs Altkommunist Wilhelm genannt. Da ist eine Theaterfigur mit tragikomischen Dimensionen zu besichtigen, eine Figur, die aus sich scheinbar widersprechenden gestalterischen Versatzstücken gebaut ist: Mit geballter Faust und mit Triumph in der Stimme kostet er die Ankündigung seiner Rückkehr in die DDR aus, mit inbrünstigem Stolz und mit Siegeszuversicht kündigt er an, ein neues Deutschland aufbauen zu wollen. Weil er aber fast im gleichen Atemzug borniert dogmatisch menschenverachtende Parteibeschlüsse und –urteile verteidigt, ahnt der Zuschauer, was da für ein Deutschland gemeint ist.

Große Momente, wenn er sich die Zweifel ausredet und sich zischelnd die erste Zeile aus dem Lied "Die Partei hat immer Recht" eintrichtert oder wenn er im "heiligen Zorn" die Quelle des Verrats bei den "tschows" in Moskau auszumachen glaubt. Neben ihm bleiben die anrührende stille Komik von Margit Bendokat als Kurts Schwiegermutter Nadeshda oder die giftige Arroganz der zur Institutsdirektorin aufgestiegenen Altkommunistin Charlotte (Gabriele Heinz) in Erinnerung.
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