Sehe mich "als einen schreibenden Dilettanten"

Richard Ford im Gespräch mit Joachim Scholl · 08.10.2012
Die Art, wie sein aktueller Roman "Kanada" entstand, lag quer zu seiner üblichen Arbeitsweise, verrät der amerikanische Schriftsteller Richard Ford. Bereits 1989 habe er mit der rückblickend erzählten Geschichte des 16-jährigen Dell begonnen, die Seiten dann aber für Jahre beiseite gelegt.
Joachim Scholl: "Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben, dann von den Morden, die sich später ereigneten. Der Raubüberfall ist wichtiger, denn er war eine entscheidende Weichenstellung in meinem Leben. Wenn von ihm nicht als Erstes erzählt wird, ergibt der Rest keinen Sinn." So beginnt der neue Roman von Richard Ford – der Amerikaner ist Jahrgang 1944, Pulitzer-Preisträger, Autor von sieben Romanen, mehreren Kurzgeschichtensammlungen und "Kanada", das ist der schlichte Titel des neuesten Buches. Willkommen im "Radiofeuilleton", Richard Ford. Welcome, Richard Ford!

Richard Ford: I am very happy to be welcome and happy to be here! (Ich bin froh, willkommen zu sein, und froh, hier zu sein!)

Scholl: Die ersten Zeilen Ihres Romans, die schlagen schon ein wie Granaten: Raubüberfall, Mord, besser kann man keinen Leser, glaube ich, in ein Buch reißen. Glückwunsch für diesen Anfang, Mister Ford. Wie lange haben Sie für diese ersten Sätze gebraucht?

Ford: Es hat mir ja gefallen, in der Öffentlichkeit weiszumachen, das seien die ersten Worte geschrieben, die ich für diesen Roman verfasst hätte. Aber meine Frau hat, als sie das hörte, gesagt, dass es einen Monat gedauert hat, ehe ich diese Sätze zu Papier brachte.

Scholl: Ich habe Sie auch nach der Dauer gefragt, weil Sie diesen Roman nämlich auch schon seit Jahrzehnten mit sich herumtragen, wie man hört. Warum hat "Kanada" diese Zeit anscheinend gebraucht?

Ford: Ich weiß nicht, ob das Buch wirklich diese Zeit gebraucht hat. Tatsache ist, dass die Art, in der es entstand, vollkommen quer zu allem normalen Schreiben lag, das ich sonst pflege. Ich habe das Buch 1989 angefangen mit einigen Seiten, sie dann in die Schublade gelegt. Aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, habe ich dann das liegen lassen, habe diese oder jene Notizen genommen, aber eben nicht weitergeschrieben. Ich sehe mich ja eigentlich eher als einen schreibenden Dilettanten, nicht so sehr als Profischriftsteller. Die Art, wie ein Buch zu verfassen ist, ist bei mir nicht nach starren Regeln festgelegt. Der eine Roman, den man schreibt, lehrt dich fast nichts zum nächsten Roman.

Scholl: Sie haben in dieser Zeit, als "Kanada" ja in Ihrem Schreibtischfach lag, eine weltliterarische Figur geschaffen mit Frank Bascombe, einen uramerikanischen Typus. Mehrfach taucht er in Ihren Romanen auf, im "Sportreporter", dann als Immobilienmakler im "Unabhängigkeitstag" und "Die Lage des Landes". Die Helden Ihrer anderen Bücher sind von ähnlicher Gestalt und Statur, oft traurige Mittelschicht, melancholische Anwälte, von Schuld zerfressene Ehebrecher – jetzt aber ein 16-Jähriger, Dell heißt er, der als älterer Mann von 66 sein Leben in der Retrospektive erzählt. Sie waren, Richard Ford, als Sie das Buch schrieben, zufällig genau so alt. Wie schwer war es für Sie denn, in diesen Teenager zu schlüpfen?

Ford: Also fast jeder, der älter als 16 ist, war doch wohl irgendwann auch 16 – wie sollte das auch anders möglich sein? Ich selbst war auch 16, das ist für mich kein abgetrennter Teil meiner Geschichte. Also ist es eigentlich auch nicht so schwer, sich hineinzuversetzen. Das fiel mir umso leichter, als es wirklich eine Zeit war, in die ich mich hineinversetzen wollte, die mich interessierte, jenes Lebensalter, in dem der Mensch eben die Schalen der Kindheit abwirft und sich in einem dramatischen Wandel zum Erwachsenen hinbewegt. Ich glaube, jeder könnte das, ich glaube, auch Sie könnten in sehr lebhaften Farben von dieser so dramatischen Umbruchszeit erzählen.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Richard Ford, dem amerikanischen Schriftsteller über seinen soeben auf Deutsch erschienenen Roman "Kanada". Die Handlung – darüber dürfen wir nicht so ganz viel verraten, Richard Ford, es soll ja spannend bleiben für alle Leser – ist, zunächst geht es ja auch um den Helden Dell und seine Schwester, wie sie erleben, wie ihre Eltern zu dilettantischen Bankräubern werden. Später verschlägt es Dell nach der Verhaftung der Eltern nach Kanada, wo er dann in noch schlimmere Verhältnisse schlittert – am Anfang heißt es aber ja, der Raubüberfall ist eigentlich wichtiger, als dann wirklich Morde, die später auch passieren. Warum eigentlich? Weil ohne diesen Raubüberfall alles anders gekommen wäre in Dells Leben?

Ford: Nun, ich glaube, der Überfall musste deswegen als Erstes erzählt werden, weil ohne ihn alles Andere keinen Sinn ergeben hätte. Der Grund für diesen Raubüberfall, der da am Anfang steht, und der Grund, weshalb er am Anfang steht, ist: Seine Eltern haben diesen Überfall begangen, die aber deswegen ihn nicht weniger liebten. Obwohl sie damit das Leben der Kinder und ihr eigenes zerstört haben, haben sie doch in ihrer Liebe zu den Kindern nicht nachgelassen. Die herkömmliche Meinung wäre ja, dass Eltern, die ein Verbrechen begehen und dann ins Gefängnis geworfen werden, es deswegen tun, weil sie ihre Kinder nicht genug lieben. Die meisten Romane dagegen schreiben gegen solche landläufigen Vorurteile an. Ich sage, man kann den Roman nicht verstehen, sofern man nicht begreift, dass die Eltern ihre Kinder nicht deswegen weniger lieben, weil sie das Verbrechen begehen.

Scholl: Ereignisse, die das ganze Leben verändern, sehen manchmal nicht danach aus, heißt es in der Mitte des Buches, und es gibt viele solcher Sätze, und es sind oft melancholisch-philosophische Sätze, so im Sinne, dass das Leben eigentlich keinen Sinn hat an sich, es sei denn, man gibt ihm einen. Das Leben wird einem leer geschenkt, steht an einer anderen Stelle, und man hat fast den Eindruck, als ob Richard Ford zu einem Existenzialisten geworden ist. Ist das so?

Ford: Ich glaube nicht, dass ich mich in irgendetwas verwandelt habe, was ich nicht vorher schon war. Das heißt, als Schreiber versuche ich, herauszufinden, was es bedeutet, lebendig auf der Erde zu leben, das ist auch die Rolle der Kunst, die Rolle von allen Wissenschaften, die es mit dem Menschen zu tun haben. Wenn Sie das Existenzialist nennen wollen – ich würde diesen Ausdruck nicht verwenden, weil ich nicht weiß, wofür er steht. Wenn Sie aber sagen, es geht darum zu begreifen, was es heißt, als Mensch auf der Erde zu existieren, dann kann ich dem zustimmen.

Scholl: Entschuldigen Sie, Mister Ford, wenn ich jetzt ziemlich abrupt das Thema wechsle, aber in diesen Tagen, wo Amerika gespannt auf den Wahltag in drei Wochen schaut, lassen wir natürlich keinen Amerikaner aus dem Studio entkommen, ohne wenigstens gefragt zu haben, wie er denn diesen Wahlkampf sieht, für wen sein Herz schlägt und warum – wie blicken Sie auf diese Präsidentenwahl?

Ford: Es tut mir weh, das anzuschauen. Die Amerikaner sind ja so uninteressiert an der Art, wie sie regiert werden. Dabei ist die Regierung, Politik, unendlich wichtig, in Deutschland, in Frankreich, in jedem Land – und in Amerika auch. Für mich ist es einfach schmerzlich zu sehen, wie das amerikanische Wahlvolk belogen werden will und wie die Republikaner wieder und wieder ihre Lügen auftischen, und – wie auch der Präsident – immer wieder einen etwas eigenwilligen Umgang mit der Wahrheit pflegt, das tut weh. Und im Übrigen bin ich ja ein überzeugter Anhänger von Präsident Obama. Ich glaube, seine Amtsführung war ein bedeutender, historischer Moment für die amerikanische Geschichte – er war auch ein guter Präsident. Nicht vollkommen, aber wer ist schon vollkommen. Für mich ist es traurig, zu sehen, wie selbst ein guter Präsident wie Obama gezwungen ist, sehr vieles zu tun, was er besser nicht täte.

Scholl: Man hat ja auch den Eindruck, dass es bei diesem Wahlkampf auch wieder wirklich ein geteiltes Land zu beobachten gibt: Auf der einen Seite geht es um den Wohlstand von wenigen und auf der anderen Seite die schlechte Lage von vielen. Mitt Romney setzt ganz unverdrossen auf die Wohlhabenden, Obama tut es nicht. Wie sehen Sie das, ist Amerika wirklich so gespalten, und wird sich Amerika ja vielleicht doch auch für Mitt Romney entscheiden und für seine Versprechungen – Wohlstand für alle?

Ford: Ich bezweifle, dass Romney Wohlstand für alle verspricht. Ich glaube, dass er eher die folgende Strategie verkündet, wenn die Wohlhabenden noch wohlhabender werden, wird auch etwas für diejenigen abfallen, die bisher wenig oder nichts haben. Das ist nichts Neues in der Geschichte der amerikanischen Rechten. Aber die Tatsache, dass Amerika eben so fundamental gespalten ist zwischen denen, die etwas haben, und denen, die nichts haben, bleibt skandalös. Und das wirft natürlich die Frage auf, wie können wir die Menschen befähigen, sich dem Schicksal entgegenzustellen, ihm nicht ausgeliefert zu sein und für sich selbst aus eigener Kraft zu sorgen. Geschieht es dadurch, dass man die Reichen immer reicher werden lässt, oder dadurch, dass man die Menschen, soweit sie nicht selbst für sich sorgen können, unterstützt durch die Hilfe des Staates, der öffentlichen Hand, bis sie dann selbst für sich sorgen können – das ist die große Frage.

Scholl: Danke Ihnen, Richard Ford, für Ihren Besuch und alles Gute! Thank you, Richard Ford!

Ford: Thank you very much!

Scholl: Und Richard Fords Roman "Kanada" ist im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Frank Heibert, mit 464 Seiten zum Preis von 24,90 Euro, und unser Gespräch mit Richard Ford hat Johannes Hampel übersetzt, auch dafür schönen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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