Segnen, was man nicht verhindern kann

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur · 20.02.2012
Mit der Entscheidung für den Präsidentschaftskandidaten Gauck ist sich Angela Merkel treu geblieben. Wieder einmal folgt sie der Maxime, die einst Kurt Tucholsky der Kirche zugeschrieben hat: Was man nicht verhindern kann, muss man segnen, kommentiert Peter Lange, Chefredakteur von Deutschlandradio Kultur.
So hat sie es in der Energiepolitik gehalten und auch in der Frage eines gesetzlichen Mindestlohns. Und so hat sie es auch diesmal gemacht, nach einer rationalen Abwägung, welche von zwei denkbaren Entscheidungen wohl weniger gefährlich ist. Und offenkundig hat sie eine Isolierung der Union in der Bundesversammlung und einen möglichen Koalitionsbruch als die größere Gefahr gesehen.

Dem steht entgegen, was sie mit diesem abrupten Kurswechsel der eigenen Partei - wieder einmal - zumutet, und ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Bei der hält sie es abermals mit ihrem politischen Urahn Adenauer: Es kann mich niemand daran hindern, über Nacht klüger zu werden. Zur Folgenabwägung mag gehören, dass damit der siechen FDP mal ein Erfolgserlebnis gegönnt wird. Sie kann sich als diejenige Kraft darstellen, die den gemeinsamen Kandidaten fast aller Parteien erst ermöglicht hat. Ob's den Liberalen längerfristig hilft, weiß niemand. Aber schaden kann es nicht.

Mit Joachim Gauck hat Angela Merkel einem Kandidaten zugestimmt, der die Kunst der öffentlichen Rede sehr viel besser beherrscht als seine beiden Vorgänger; und auch der Kanzlerin ist er rhetorisch überlegen. Er ist ein unabhängiger Kopf, auf ähnlichen Nebengeleisen in die Politik geraten wie einst Horst Köhler, und hat alle Voraussetzungen, der routinierten Tagespolitik in Berlin-Mitte noch unbequemer zu werden.

Da sollte sich niemand täuschen. Was für ihn einnimmt, ist seine echte Begeisterung für die freiheitliche demokratische Gesellschaft, die sehr an Leute wie Vaclav Havel erinnert, welche den Zustand der Unfreiheit lange genug erlitten haben. Gauck fordert die Menschen als Bürger heraus, er mutet ihnen zu, sich zu engagieren und Politik nicht nur vom Sofa aus als Fernsehspiel auf dem Bildschirm zu konsumieren.

Zu den Denkern, auf die er sich in den letzten Jahren mehrfach bezogen hat, gehört Erich Fromm und sein 1947 im Exil erschienenes Werk: "Die Furcht vor der Freiheit". Der Sozialpsychologe Fromm und der Theologe Gauck wollen die Menschen ermutigen, von der Freiheit verantwortungsvoll Gebrauch zu machen. Wobei Gauck sicher klug genug ist zu wissen, dass die Freiheit in Europa heute weniger durch Diktaturen gefährdet ist.

Es sind vielmehr unsere Bequemlichkeitsbürokratien, die Hybris multinationaler Internetkonzerne und demokratisch nicht legitimierte Akteure auf den Finanzmärkten, welche Demokratie und Freiheit gefährden. Einem Bundespräsidenten Gauck ist zuzutrauen, dass er diese neuen Herausforderungen in seinen an der Diktatur gewachsenen Freiheitsbegriff integriert. Wenn er ihm gelingt, unsere matt gewordene Demokratie ein wenig zu revitalisieren, dann wird er diesem Land einen weiteren Dienst erweisen - so wie Angela Merkel mit ihrer Kehrtwende auch.