Seeräubergeschichte

Reise ins Erwachsenwerden

Der Autor Richard Hughes
Das Debüt des 1976 verstorbenen Briten Richard Hughes gibt es jetzt in deutscher Übersetzung © Dörlemann-Verlag
Von Sigrid Löffler · 26.11.2013
Die unüberbrückbare Kluft zwischen Kindern und Erwachsenen bildet den Kern des Debüts von Richard Hughes aus dem Jahr 1928. Es ist das zweite Werk des englischen Autors, das auf Deutsch erscheint.
Im Vorjahr begann der unternehmungslustige Züricher Dörlemann Verlag mit der Wiederentdeckung des zu Unrecht vergessenen englischen Erzählers und Hörspielautors Richard Hughes (1900–1976) und brachte dessen klassischen Seefahrerroman "In Bedrängnis" in neuer Übersetzung und schöner Aufmachung heraus – die spannende Geschichte des Frachters "Archimedes" und seiner Besatzung, die in der Karibik in einen Jahrhundertsturm gerät und sich und das Schiff dank Mut und Umsicht wider Erwarten retten kann.
Nun lässt der Verlag Hughes’ Debütroman von 1928 folgen: "Orkan über Jamaika", der gleichfalls mit einem ungeheuren Hurrikan einsetzt, doch ist der Sturm hier nicht Thema, sondern nur Auslöser der Handlung des Romans, der Mitte des 19. Jahrhunderts in der britischen Kolonialwelt der Karibik spielt. Anfangs ruiniert der Orkan Wohnhaus und Plantage der Familie Thornton auf Jamaika, worauf die Eltern beschließen, ihre fünf Kinder in Sicherheit zu bringen und sie nach England zu schicken. Eher zufällig wird ihr Schiff von Piraten gekapert, und die britischen und einige mitreisende kreolische Kinder finden sich an Bord eines Seeräuber-Schiffs, das wochenlang durch die karibische Inselwelt irrt, ehe es aufgebracht wird und die schon totgeglaubten Kinder endlich doch wohlbehalten London erreichen.
Piratenschiff als Abenteuerspielplatz
Was auf den ersten Blick wie eine handfeste Seeräubergeschichte wirkt, offenbart bald andere – und abgründigere – Bedeutungsschichten. Das eigentliche Thema des Romans ist die unüberbrückbare Kluft zwischen Kindern und Erwachsenen, die die Welt ganz unterschiedlich wahrnehmen: Im Grunde leben sie in Parallelwelten, in denen ein jeweils anderes Zeitgefühl und andere Wertvorstellungen herrschen.
Die Kinder leben strikt in einer ewigen Gegenwart – das Vergangene wird rasch vergessen, etwa des Unfalltod des Brüderchens der Heldin, der 13-jährigen Emily. In Gesellschaft der Piraten (die sie die längste Zeit gar nicht als solche erkennen) und außerhalb des zivilisierenden Einflusses der Elternwelt verwildern die Kinder zusehends, nicht anders als hundert Jahre später die schiffbrüchigen Jungen auf ihrem Südsee-Atoll in William Goldings "Herr der Fliegen».
Die Kinder finden ihr Schiffsleben so aufregend, als wäre das Schiff ein Abenteuerspielplatz. Den sinistren, grausamen, ja, sogar mörderischen Ernst der Lage nehmen sie gar nicht richtig wahr, passen sich ihm aber ohne Skrupel an. Allerdings wird Emily, die an der Kippe zur Pubertät steht, in dubiosen intimen Momenten mit dem Piraten-Kapitän von Vorahnungen erwachsener Erotik angeweht, die sie aber nicht wahrhaben will. Und was die Matrosen mit dem 15-jährigen gekidnappten kreolischen Mädchen treiben, deutet der Roman nur an.

Insofern erzählt "Orkan über Jamaika" auch die Reise ins Erwachsen-Werden und ist als Initiationsritus am Übergang von der Kindheit in die gefährlichen Unwägbarkeiten der Sexualität der Erwachsenen zu lesen. Der illusionslose Blick des Autors Richard Hughes auf die kindliche Amoralität ist das eigentlich und beunruhigend Moderne an diesem Roman.

Richard Hughes: Orkan über Jamaika
übers. v. Michael Walter
Dörlemann Verlag, Zürich 2013
255 Seiten, EUR 19,90

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