Seemann und Sprachspieler

24.07.2008
Anlass für das Erscheinen des "Großen Lesebuches" ist der 125. Geburtstag des Schriftstellers Joachim Ringelnatz am 7. August. Es bietet eine erbauliche Mischung aus seinem Werk: Skurriles, leichte Muse, Ironie als Haltung gegenüber der Welt und nüchtern-präzise Beobachtung. Das Buch eignet sich als Einstieg in die Texte dieses Klassikers deutscher Komik.
Dem Drama des begabten Kindes ist er auf das Glücklichste entgangen, das Drama, das mit 1933 verknüpft ist, überlebt er keine zwei Jahre. Ab 1933 wird Leuten wie ihm die Luft zum Atmen abgedreht. Bücherverbrennung. Auftrittsverbot. Sein Körper reagiert so punktgenau, wie seine Gedichte und Kabarettverse treffen: die Lunge, zuständig für das Lebenselixier Sauerstoff, verweigert das Funktionieren. Tuberkulose.

Hans Bötticher stirbt mit 51 Jahren, nur 15 davon hat er als der verbracht, den wir alle kennen: Joachim Ringelnatz. Dank mindestens einem seiner Gedichte, zum Beispiel:

Überall ist Wunderland.
Überall ist Leben.
Bei meiner Tante im Strumpfenband
Wie irgendwo daneben.


Geboren 1883 in Wurzen bei Leipzig, hinein in eine Familie, in der Kunst nichts "Hehres", sondern Alltag ist - Vater und Mutter zeichnen, die Mutter näht außerdem Kleider für Puppen, der Vater schreibt Unterhaltungsromane und gibt "Auerbach's Deutschen Kinderkalender" heraus - wird er selbst expressiv tätig. Mit neun schreibt er seine erste Geschichte, er zeichnet und füllt bald regelmäßig Vaters "Kinderkalender". Mit 18 heuert er an.

" Ich fuhr als Schiffsjunge, Leichtmatrose und Matrose auf Seglern und Dampfschiffen (...) nach Süd-, Zentral- und Nordamerika, Afrika, Spanien, Rußland - nach etwa 22 außerdeutschen Ländern. Einige davon lernte ich näher kennen, indem ich mehrmals desertierte und mich dann, meist mittellos, herumtrieb, bis ich irgendwelche Beschäftigung fand."

Auch solche gar nicht so "leichtfüßigen", autobiografischen Texte sind (wieder mal) nachzulesen in diesem so wohlfeilen wie wohlbedachten "Großen Lesebuch", das die Redaktion von "Text + Kritik" eigens zu Ringelnatz' 125. Geburtstag am 7. August dieses Jahres zusammengestellt hat. Abgerundet mit "Daten zu Leben und Werk" und Liane Schüllers Ringelnatz-Beitrag in "Kindlers Literatur Lexikon" bieten die gut 300 Seiten eine - im guten alten Wortsinn - erbauliche Mischung aus Ringelnatz' Werk: Skurriles, leichte Muse, Ironie als Haltung gegenüber der Welt, die vor sich selbst schon überhaupt nicht haltmacht, und nüchtern-präzise Beobachtung, die den politischen Ernst nirgends verrät. Und dieser Sachse, Seemann und Sprachspieler, der seine Heimat über den Ozean verließ, um auf Umwegen in allerlei deutschen Städten und Jobs wieder an Land zu gehen, der 1909 zum Hauspoeten des Münchner Kabaretts "Simpl" wird, aber erst noch den großen Krieg (auf See) und die kleine Revolution hinter sich bringen muss, bevor er 1920 den Durchbruch schafft - in Berlin. Ein paar seiner schönsten Verse sind pure Großstadt-Poesie. "Noctambulatio" etwa beschwört in knappsten Bildern das unheimliche Ineinander von Sex and Crime und endet mit dem Dreizeiler:

Die Dichter und die Maler
Und auch die Kriminaler,
Die kennen ihr Berlin.


Ringelnatz ist Dichter und Maler und obendrein auf der Bühne zu Hause. Ein Multi-Artist, und einer der Klassiker der so reichen Tradition deutscher Komik, die immer noch so schnöde aus dem Kanon herausgehalten wird. Insofern bietet dieses Lesebuch nicht nur einen wunderbaren, im guten Sinn "barrierefreien" Einstieg in Leben und Werk, sondern eine bezaubernd ironische Ehrenrettung: Es erscheint in der Reihe Fischer-Klassiker - zwischen lauter Welt-Dichtern und -Denkern aller möglicher Zeiten. Da, wo Ringelnatz hingehört.

Rezeniert von Pieke Biermann

Joachim Ringelnatz - Das Große Lesebuch,
hg. Redaktion text + kritik, Fischer TB (Fischer Klassik),
Frankfurt/Main 2008, 320 S., 8€