Seattle

Stabile Randlage im Nordwesten der USA

Skyline von Seattle im Bundesstaat Washington im Nordwesten der USA
Skyline von Seattle im Bundesstaat Washington im Nordwesten der USA © ARD / Wolfgang Stuflesser
Von Wolfgang Stuflesser · 05.08.2015
Abgeschieden, verträumt, malerisch – mit diesen Attributen lässt sich Seattle im Bundesstaat Washington treffend beschreiben. Ein eigenes kleines Kulturzentrum mit Menschen, die genau das an ihrer Stadt lieben.
Ein Ort der Hausboote
"Wenn Sie gerade eingeschaltet haben: Wir sprechen mit 'Schlaflos in Seattle'."
Zumindest dieser Film fällt irgendwie jedem ein, der an Seattle denkt. Tom Hanks als alleinerziehender Vater, der in "Schlaflos in Seattle" auf einem malerischen Hausboot wohnt und am Ende in Meg Ryan seine zweite große Liebe findet. Seattle, der Ort für das etwas andere, romantische Leben.
"The 'sleepless' house is over there - straight across."

Amalia Walton auf ihrem Hausboot am Lake Union, wenige Autominuten von Seattles Innenstadt entfernt.
Amalia Walton auf ihrem Hausboot am Lake Union, wenige Autominuten von Seattles Innenstadt entfernt.© ARD / Wolfgang Stuflesser
Da, am anderen Ufer, sei das Hausboot aus "Schlaflos in Seattle”, erzählt Amalia Walton. Auch sie wohnt in einem Boot am Lake Union. Wobei, es sind eigentlich keine Boote, sondern wirklich schwimmende Häuser. Amalias ist ochsenblutrot gestrichen und liegt in einer richtigen kleinen Hausbootkolonie mit Nachbarn links und rechts eines langen, schmalen Holzstegs. Sie ist hier aufgewachsen, und auch jetzt, mit einem Job als Anwältin und einem kleinen Sohn, will sie von dieser Lebensweise nicht lassen.
"Yeah, this is the best part of living here"
Das sei das Beste am Leben hier, sagt sie, als sie am Ende des Stegs den Blick in die Ferne richtet - da ist Wasser, nichts als Wasser, dabei ist Seattles Innenstadt nur ein paar Autominuten entfernt.
Amalia Walton: "Zu jeder Tageszeit kann man aus der hektischen Stadt hierherkommen und es ist einfach niemand mehr zu sehen."
Die Tradition der Floating Homes
Die Floating Homes, die schwimmenden Häuser, sind Teil einer langen Tradition in Seattle, erzählt Amanda:
"Als die Europäer nach Seattle kamen, arbeiteten sie vor allem in der Holzindustrie. Und die Leute wollen günstig wohnen – deswegen nahmen sie die Baumstämme, die sie ohnehin vor der Tür hatten und bauten darauf ihre Häuser"
Und im Grunde unterscheidet sich die Bauweise damals gar nicht so sehr von der heutigen - noch immer schweben die Häuser auf Holzstämmen. Die Zedernholzstämme verrotten im Wasser nicht, diese hier seien hundert Jahre alt. Drinnen ist es ein bisschen eng, aber wohnlich. Wenn sie Möbel kauft, muss Amalia sich das gut überlegen:
"Wenn man ein schweres Möbelstück ins Haus holt, muss das Haus ausbalanciert werden – das machen Taucher, die Fässer unten anbringen, die dann mit Luft gefüllt werden!"
Doch es besteht keine Gefahr, dass man als Gast seekrank wird: Die Häuser sind zu schwer und außerdem gut am Ufer vertäut. Nur bei einem Sturm spürt man schon, wie sich das Boot bewegt, erklärt Amalia:
"Als ich ein junges Mädchen war, sind wir einmal aufgewacht und unser Haus hatte sich gelöst und war ans andere Ufer gedriftet. Alle Nachbarn kamen zusammen und halfen uns, es zurückzubewegen."
Da kommt es auf einen guten Zusammenhalt an. Für sie sei jeder Nachbar in den insgesamt 14 Booten an ihrem Steg ein Freund, sagt Amalia. Hier sehe jeder nach dem anderen.
Ein Ort der Kaffeekultur
Vom Wasser aufs Festland: Chelsey Walker-Watson bereitet gerade den perfekten Espresso zu, mit einer Kaffeesorte aus Kenia:
"Er schmeckt wirklich köstlich, ein sehr saftiger Kaffee, mit einem Aroma, das an Lebkuchen erinnert, ein bisschen Kirsche, dann eine Tomatennote, für die sind Kaffees aus Kenia bekannt - und auch eine gewisse Säure, wie Grapefruit."

Sie spricht über Kaffee wie andere über Weinsorten - und arbeitet deshalb auch ganz präzise bei der Zubereitung:
Chelsey Walker-Watson in ihrer Slate Coffe Bar in Seattles Ballard-Viertel.
Chelsey Walker-Watson in ihrer Slate Coffe Bar in Seattles Ballard-Viertel.© ARD / Wolfgang Stuflesser
"Dieser Kaffee hat ein fruchtiges, frisches Aroma, deshalb profitiert er von ein bisschen mehr Wasser. Ich nehme als 17,7 Gramm Kaffee und lasse relativ viel Wasser durchlaufen, 45 bis 50 Gramm.”
Und sie misst die Kaffeemenge tatsächlich mit einer Waage ab. Chelsey lässt den Espresso in einen kleinen gläsernen Weinkelch laufen, schwenkt und kostet:
"Beautiful - it's delicious!"
Die Röstung als Erfolgsgeheimnis
Die Mühe lohnt sich offenbar: Den anderen Gästen scheint der Kaffee, ebenso gut zu schmecken, wie der Inhaberin. Die Slate Coffee Bar liegt etwas unscheinbar an einer Wohnstraße im Ballard-Viertel, ein Stückchen nördlich der Innenstadt von Seattle. Das Café ist klein, es reicht gerade für einen Tresen und zwei Tische in den Fenstern. Die Wände sind weiß gestrichen, der Raum lichtdurchflutet - statt plüschigem Charme herrscht hier Klarheit und Zurückhaltung - der Kaffee soll sichtlich für sich selbst sprechen. Hinter dem Tresen steht eine große italienische Profi-Maschine. Chelseys wohl wertvollste Anschaffung, als sie den Laden vor zwei Jahren eröffnet hat, aber nicht das Geheimnis ihres Erfolgs, sagt sie:
"Was uns von anderen abhebt, ist definitiv unsere Röstung: Etwas heller, stärker fokussiert auf die Frucht und das Terroir des Kaffees. Wir kaufen grünen Kaffee und rösten alles selbst. Und wir wechseln unsere Kaffeesorten nach Jahreszeit und haben immer vier bis fünf im Angebot - die Kaffees schmecken sehr verschieden."
Mit dem Kaffeerösten hat der Familienbetrieb vor drei Jahren angefangen, und Chelseys Bruder kümmert sich noch heute darum. Ihre Mutter regelt das Kaufmännische, und sie selbst betreibt die Kaffeebar. Dabei hat sie eigentlich mal was anderes gelernt:
"Ich habe einen Bachelor in Filmtheorie, und im letzten Jahr auf der Uni habe ich angefangen, in einem Kaffeeladen zu arbeiten - einfach um die Rechnungen bezahlen zu können. Aber es hat mir richtig gut gefallen - ich wollte mehr über Kaffee lernen, und ich liebe es, mich mit den Leuten zu unterhalten - also habe ich Jahr für Jahr meine Karriere aufgeschoben - bis ich am Ende verstanden habe, dass es das hier ist, was ich tun möchte."
Mutig gegen die Kaffeegiganten
Ausgerechnet hier in Seattle, Heimatstadt und Firmensitz des gigantischen Starbucks-Imperiums, ein kleines Kaffee zu eröffnen, war natürlich mutig - oder vielleicht sogar klug, mein Chelsea:
"'Pete's Coffee and Tea' und dann Starbucks haben dafür gesorgt, dass es für viele zur täglichen Gewohnheit wurde, rauszugehen und jemand dafür zu bezahlen, dass er ihnen Kaffee kocht. Das hat den Weg für jeden geebnet, der in den USA ein Café betreibt.”
Außerdem sei es nicht schwer, sich von Starbucks abzusetzen:
"Starbucks ist so riesig, da sind wir als kleiner Familienbetrieb natürlich keine Konkurrenz. Das zeichnet uns aber auch aus: Wir servieren nicht so große Becher wie Starbucks, wir haben nur einen Typ Milch und keinen Sirup und Aromen. Bei Starbucks geht es im Unterschied darum, wie man ein auf Milch basierendes Kaffee-getränk dem eigenen Geschmack anpasst."
Für Einsteiger in die Kaffeekultur empfiehlt Chelsey das Spezialgetränk des Hauses, einen sogenannten dekonstruierten Espresso, drei Probiergläser mit Espresso, Milch und Cafe Latte:
"Damit können Sie den Geschmack der einzelnen Komponenten probieren und so verstehen, warum sich Espresso und Milch so gut ergänzen.”
Sunny und Andrew, ein Pärchen aus der Nachbarschaft, haben sich genau das bestellt. Chelsey erzählt ihnen noch, dass die Milch fast unbehandelt ist und nach dem besonderen Winterfutter der Kühe schmeckt.
Sunny: "Thank you so much."
Andrew kommt häufiger her. Er sagt, so einen guten Kaffee wie hier finde man selbst in der Kaffeestadt Seattle nicht so leicht:
"Es schmeckt köstlich und sie lieben, was sie tun. Wenn ich einen Stuhl brauche, kann ich auch entweder zu Ikea gehen - oder bei einem Schreiner etwas Schönes kaufen, das ich liebe. Es ist leicht, diesen Kaffee hier zu lieben - Starbucks dagegen ist ... passabel."
Hausbootszene und Kaffeekultur sind wichtige Punkte, wenn man die besondere Atmosphäre von Seattle verstehen will. Doch die Stadt ist nicht nur besinnlich und malerisch - sie kann auch richtig laut sein.
Ein Ort des Grungerock
"Alive" von Pearl Jam - es waren Songs wie dieser, die den jungen Toningenieur Geoff Ott Anfang der 90er aufhorchen ließen. Er kam frisch von der Uni, suchte einen Job - und ging einfach durch seine Musiksammlung und schaute nach, aus welchem Studio die Alben kamen.
Geoff Ott im seinem "London Bridge Studio" in Seattle, wo er seit mehr als 20 jahren am riesigen Mischpult sitzt.
Geoff Ott im seinem "London Bridge Studio", wo er seit mehr als 20 Jahren am riesigen Mischpult sitzt.© ARD / Wolfgang Stuflesser
Soundgarden, Mother Love Bone, Alice in Chains: Viele Bands, die Seattle in den 90ern zum Zentrum der Grungemusik machten, nahmen Platten im "London Bridge Studio" auf. Ott heuerte 1994 als Praktikant an - und nach zwei Wochen ging sein Kollege in Urlaub, drückte ihm noch die Schlüssel fürs Studio in die Hand und sagte, da komme eine Band, um ein paar Songs aufzunehmen.
Er habe sich fast in die Hosen gemacht, weil Alice in Chains für ihn die Band schlechthin sei, erinnert sich Geoff. Aber es ging alles gut, und am ersten Abend, als die Instrumente verkabelt und die Musiker schon weg waren, konnte der junge Tonmann der Versuchung nicht widerstehen und spielte ein bisschen auf Jerry Cantrells weißer Gitarre.
Aber natürlich habe sie bei ihm nicht so gut geklungen.
2005 hat Geoff Ott das Studio gekauft, mehr als 20 Jahre hat er inzwischen am riesigen Mischpult verbracht. Dessen analoger Klang werde bis heute von den Bands geschätzt, sagt er:
"Das Pult bringt uns den warmen Klang, für den wir bekannt sind. Ich mag an der Analogtechnik, dass sie die Musik überlebensgroß klingen lässt. Bei Digital bekommst Du zurück, was Du reintust. Analog fügt seinen eigenen Charakter hinzu und hilft, diesen bombastischen Klang hervorzubringen.”
Die zweite Besonderheit des London-Bridge-Klangs wird erst bei einem Gang durch den Aufnahmeraum klar. Geoff Ott öffnet die Tür von der Sängerkabine zum Schlagzeugraum. Der Raum ist riesig, erinnert fast eher an eine Kapelle als an ein Tonstudio - nur das dort, wo in der Kirche der Altar wäre, das Schlagzeug steht.
Der Raum klinge sehr "live”, sagt Geoff, aber der Klang ebbe auch sehr natürlich wieder ab. Auch der Ort fürs Schlagzeug ist bewusst gewählt: Ein Hohlraum in der Decke darüber schluckt ungewünschte hohe Klänge, und die Wände bestehen aus verschiedenen Materialien von Holz über Stoff bis zu Backsteinen - um unterschiedliche Frequenzen zu dämpfen und so den Ton zu modellieren. Jeff erzählt, dass bis heute immer noch viele Bands zumindest den Schlagzeugpart bei London Bridge einspielen - auch wenn sie den Gesang inzwischen oft zu Hause aufnehmen.
Auch nach dem Boom bleibt Musik wichtig
Die große Zeit des Grunge ist vorbei, aber Musik hat immer noch einen großen Stellenwert in Seattle. Was die Stadt trotz ihrer etwas abgeschiedenen Lage hoch im Nordwesten der USA zum musikalischen Zentrum macht, was den Grunge-Rock hier entstehen ließ, darüber gebe es viele Theorien, erzählt Geoff, vom vielen Regen über die Dunkelheit bis zum guten Hasch:
"Meine Theorie: Wir sind hier so weit weg von allem, dass große Bands auf ihren Touren lange keinen richtigen Grund hatten, herzukommen. Also haben wir unsere eigene Musik gemacht.”
Und genau da macht auch London Bridge weiter - das Studio hat inzwischen sein eigenes Plattenlabel. Voriges Jahr hat Geoff Ott von 52 Bands und Sängern jede Woche eine Single auf seiner Homepage veröffentlicht. Naomi Wachira zum Beispiel.
Alles andere als Grunge. Aber auch bei ihr kommt das "London Bridge Studio” mit seinem besonderen Klang voll zum Einsatz.
Ein Boot, ein Café, ein Tonstudio: Drei ganz unterschiedliche Orte, die etwas ab der touristischen Pfade liegen und die Besonderheit dieser Stadt ganz gut einfangen. Weit im Nordwesten, ein bisschen ab vom Schuss, aber doch ein eigenes kleines Kulturzentrum - und mit Menschen, die genau das an ihrer Stadt Seattle lieben.

Moderner Führungsstil in der Kreativmetropole - Wie Amazon, Microsoft und Starbucks versuchen, von Seattle aus ganze Wirtschaftsbereiche umzukrempeln, erläutert USA-Korrespondent Wolfgang Stuflesser im Gespräch mit Isabella Kolar. Audio Player

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