Schwultra-orthodox

Von Dominik Bretsch · 26.06.2012
Israel ist ein liberales Land, in dem gleichgeschlechtliche Partnerschaften oft selbstverständlicher gelebt werden als in vielen anderen westlichen Staaten. Doch religiöse Schwule in Israel leben in einem großen Zwiespalt: dem Widerspruch zwischen der orthodoxen Interpretation ihres Glaubens und ihrer sexuellen Orientierung.
23 Uhr, noch ist es ruhig in der Mikveh, dem bislang einzigen schwul-lesbischen Club in Jerusalem. Die DJane sucht nach den passenden Grooves für den Abend, grüne und blaue Blitze zucken aus der Diskokugel, irren über die leere Tanzfläche und die nackten Männerrücken an der Wand. Für Yaron Gal, einen der drei Betreiber des Clubs kein Grund, nervös zu werden. Im ärmellosen T-Shirt lehnt er am Tresen, auf seinem rechten Oberarm sind die geröteten Einstiche eines frischen Tatoos zu sehen. "Später wird es voll!", sagt er, zieht an der Zigarette und bläst den Rauch zur Decke. Erst im November 2011 hat die Mikveh eröffnet, doch die Diskothek hat sich schon einen Namen gemacht.

"In Tel Aviv hat jede Gruppe ihren eigenen Club, ihre eigene Party. Hier geht´s um die Mischung: es kommen Palästinenser, orthodoxe und säkulare Juden, Schwule, Lesben und transsexuelle Frauen und Männer, und ich glaube das ist, was dem Club die Jerusalemer Schwingung gibt!"

Dabei vibriert Jerusalem sonst vor allem wegen religiöser Spannungen. Rund ein Drittel der Hauptstadtbewohner ist ultraorthodox. In ihrem Weltbild ist Homosexualität ein schwerer Verstoß gegen Gottes Ordnung. Alljährlich gehen sie gegen die Gay Parade in Jerusalem auf die Straße, 2005 verletzte ein junger Ultraorthodoxer drei Teilnehmer mit einem Messer.

Yaron Gal: "Als Schwulenclub-Besitzer hatten wir noch keine Probleme. Als schwuler Mann in Jerusalem weiß ich, dass viele Leute hier das Gefühl haben, dass die Stadt immer ultraorthodoxer wird. Es sind nicht nur die ultraorthodoxen Juden, sondern auch die ultraorthodoxen Muslime und Christen. Viele Homosexuelle haben das Gefühl, dass sie die Stadt verlassen und nach Tel Aviv gehen müssen. Wir sehen eine große Abwanderung nach Tel Aviv und versuchen das zu stoppen, weil wir glauben, dass das genauso unsere Stadt ist wie für alle anderen auch!"

Um zwölf ist der Club voll: 150 Männer und Frauen tanzen zur Musik von Jennifer Lopez und Lady Marmalade. Zwei junge Frauen, die gerade noch eng umschlungen miteinander getanzt haben, machen Pause und gehen zum Raucherraum. Sie kommen aus Ashdot im Süden des Landes, erzählen sie.

"Wenn so ein Club in Jerusalem aufmacht, wo die homosexuelle Community der Stadt hingehen und mit Freunden tanzen kann, ist das schon was Besonderes. Ich glaube, das Leben hier ist nicht einfach und deswegen wollen sie wirklich Leute treffen und Freunde finden. Sie sind sehr offen hier, das ist schön und macht Spaß. Und obwohl ich nicht aus Jerusalem komme, fühle ich mich hier zu Hause."

Ein junger Mann fügt hinzu:

"Es gibt eine große Schwulengemeinschaft hier in der Stadt, die immer nach Orten sucht, wo sie hingehen kann, und es wäre toll, wenn es mehr solcher Orte gäbe. Jeder hat uns gesagt: Wenn dieser Club aufmacht, wird er sofort niedergebrannt, und es wird Demonstrationen geben, aber nichts ist passiert. Was das betrifft sehe ich, dass sich Jerusalem positiv entwickelt."

Doch immer wieder äußern sich ultraorthodoxe Politiker in Israel abschätzig über Homosexuelle, sprechen von abnormalem und unjüdischem Verhalten. Schließen sich jüdische Religion und Homosexualität aus? Nein, sagt Daniel Jonas. Er ist Vorsitzender der Organisation Havrutah, die sich für die Interessen von schwulen religiösen Juden einsetzt.

Der 30jährige lebt in einer Drei-Zimmer Wohnung in Jerusalem. Sein Lebenspartner spült in der Küche das Geschirr, während Daniel mit dem Telefon am Ohr ins Wohnzimmer bittet und Tee einschenkt. An der Wand hängt ein mannshohes Bild von Wilhelm dem Dritten von Oranie. Es zeigt den schwulen König im Gefecht. Fast täglich bekomme er Anrufe von schwulen ultraorthodoxen Männern.

"Für die meisten ist es die einzige Nummer, die sie zu diesem Thema anrufen können. Es geht gar nicht so sehr darum, was sie fragen, sondern alleine um die Tatsache, dass da jemand ist, der ihnen zuhört, dass sie ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken können, ohne dass ihr Gegenüber sie zurückweist oder verurteilt. In neunzig Prozent der Fällen bleibt es leider bei einem Anruf. Für Ultraorthodoxe ist es sehr schwer, den Schritt zu tun und zu unseren Aktivitäten zu kommen, in einen Raum voller schwuler Männer. Sie denken nicht im Entferntesten daran, offen schwul zu leben, davon können sie nicht einmal träumen. Sie bleiben verheiratet, oder verheiraten sich, wenn sie es noch nicht sind, und bekommen Kinder."

Daniel trägt auch in der Wohnung eine Kippa. Er lebt orthodox, das heißt, er betet täglich und hält die jüdischen Verhaltens-Vorschriften ein.

"Ich versuche ein Beispiel zu geben, wie man leben kann, aber ich dränge andere nicht, es genauso zu tun. Ich versuche den Leuten zu zeigen, dass es gut ist und gesund, so zu leben und überhaupt, dass es möglich ist!"!

Regelmäßig diskutiere er mit Rabbis, sagt der Havruta-Vorsitzende und nippt am Tee. Er versuche sie davon zu überzeugen, dass die jüdische Religion auch einen Platz für Homosexualität zulässt. Daniel Jonas zieht eine Torah aus dem Bücherregal:

""Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau!" Rabbis flüchten immer zu diesem Satz, weil er so einfach ist und so schwarz und weiß. Es steht geschrieben, es ist das heilige Buch, das war´s, keine Diskussion, da kann man nichts machen. Ich versuche dagegen, das Thema soziologisch anzugehen. Ich möchte nicht über den sexuellen Akt sprechen. Niemand wagt es, ins Schlafzimmer eines heterosexuellen Paares zu gehen. Deswegen versuchen wir, die Diskussion aus diesem Kontext zu holen. Sprecht nicht über unser Schlafzimmer. Homosexuelle sind nicht nur sexuelle Wesen! Wir sind normale Menschen, wir haben ein Leben, wir haben Beziehungen, wir haben unsere Gefühle, wir können ein Haus managen, eine Partnerschaft führen und sogar eine Familie gründen - ohne dass Sex dafür eine Rolle spielt!"

Rabbis spielen für das gesellschaftliche Leben in Israel eine wichtige Rolle. Beispiel Eheschließung: eine Zivilehe gibt es nicht, heiraten ist nur in einer religiösen Zeremonie durch einen Rabbi möglich. Gleichgeschlechtliche Paare können nicht heiraten, allerdings werden im Ausland geschlossene homosexuelle Ehen anerkannt. Rechtlich ist Israel bei der Gleichstellung Homosexueller vielen europäischen Staaten voraus: Sie dürfen Kinder adoptieren, dienen in der Armee. Doch was auf dem Papier steht, ist längst noch nicht Realität.

Im Offenen Haus Jerusalem sitzen fünfzehn Offiziere der israelischen Armee auf Sesseln und Sofas in einer Runde zusammen. Sie tragen Uniform, die Berets stecken zusammengerollt unter den Schulterklappen. Verschränkte Arme, skeptische Gesichter. Eine schmale Frau mit fünf Millimeter kurzen Haaren spricht zu ihnen, wirbt mit weiten Gesten: Elinor Sidi, Leiterin des Offenen Hauses, versucht die Offiziere davon zu überzeugen, dass Homosexualität nichts Schlimmes ist.

"Das war gerade eine schwierige Diskussion. Sie nannten mich eine Perverse, sie sagten, ich sei nicht normal, sie können das nicht akzeptieren, dass ich meine Homosexualität nach außen trage. Sie sagten, du kannst so nicht glücklich werden, du musst Kinder haben. Bis sie hierher kamen, sind sie noch nie einer lesbischen oder bisexuellen Person leibhaftig begegnet. Deswegen hatten sie eine ganz klare Vorstellung davon, was richtig und falsch ist."

Elinor Sidi ist gespannt wie eine Feder. Der Terminplan ist voll, sagt sie: Seminare und Workshops, kostenlose HIV Tests, Aufklärungsarbeit.

"Es gibt einen Anstieg von 20 Prozent bei den HIV-Infektionen in Israel, das ist ein großes Problem, besonders bei schwulen Männern. Es fehlt an Geld und an Mitteln, die Regierung tut nicht genug, um an den Schulen über geschützten Sex aufzuklären. Das zwingt private Organisationen wie das Offene Haus, einzuspringen, HIV Tests anzubieten und aufzuklären."

Dass die Regierung trotzdem mit dem liberalen Image Israels in aller Welt wirbt, ärgert sie.

""Niemand aus der Regierung hat sich je darum bemüht, ein fortschrittliches Gesetz für Homosexuelle zu machen. In der gesamten Geschichte Israels gibt es kein einziges Beispiel dafür, dass die Knesset von sich aus ein Gesetz für mehr Gleichberechtigung erlassen hätte. Immer mussten Schwule und Lesben selbst aktiv werden, vor den Obersten Gerichtshof ziehen und so die Knesset zwingen, gerechte Gesetze zu erlassen. Die Privilegien, die wir hier tatsächlich haben, wurden nicht dank der Regierung erreicht, sondern trotz ihr."

Kritiker wie Elinor Sidi sprechen von "pinkwashing": die Regierung nutze Schwulenrechte als PR-Mittel, um von den dringenden Menschenrechtsfragen abzulenken und sich in ein positives Licht zur rücken. Auf dem Blog der israelischen Botschaft Berlin heißt es beispielsweise: "Schwule und Lesben, die im Nahen Osten verfolgt werden, finden Zuflucht in Israel." Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.

Tel Aviv, eine Seitenstraße des Rothschildboulevards, dort ein unscheinbares weißes Haus. Stufen führen ins Souterrain und enden vor einer Tür. Die Mesusa am Türrahmen ist in den Regenbogenfarben bemalt, neben der Klingel beobachtet eine Überwachungskamera den Besucher. Nicht ohne Grund: 2009 erschoss ein maskierter Attentäter hier einen jungen Mann und eine junge Frau. Es ist das Jugendzentrum der Organisation Aguda, die sich um jugendliche Homosexuelle auf der Straße kümmert, darunter viele homosexuelle Palästinenser, die aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen geflüchtet sind. Rami ist einer von ihnen. Sein Augenaufschlag ist schwer, am rechten Oberarm prangt eine handtellergroße Narbe. Dort habe ihm die Familie ein Tatoo "entfernt". Er zieht das T-Shirt hoch und zeigt eine weitere Narbe am Bauch: von einem Schraubenzieher, den ihm sein Bruder dort hineingerammt hat.

"Das erste Mal bin ich mit zwölf nach Israel gekommen. Ich bin vor meiner Familie weggelaufen, die mich zusammengeschlagen hat, weil ich mit einem älteren Mann geschlafen hatte. Er hat mich vergewaltigt, aber als meine Familie es entdeckte, sagte der Mann, es sei meine Schuld und meine Familie glaubte ihm. Für sie ist es nicht normal, für sie ist es eine Krankheit, die sie mir austreiben müssen, es ist eine Schande für die Familie."

Rami, 28 Jahre alt, ist kein Einzelfall. Seit er als Kind aus Todesangst nach Israel geflüchtet ist, lebt er auf der Straße, zuerst in Jerusalem, dann in Tel Aviv. Hier hat er Hebräisch gelernt. Manchmal arbeitet er als Hilfskraft in Restaurants und kann sich mit dem Geld eine Unterkunft finanzieren. Begleitet hat ihn in all den Jahren der Sozialarbeiter Shaul Gonen. Seit 15 Jahren arbeitet er unentgeltlich für Aguda und hat in dieser Zeit etwa tausend geflüchtete Palästinenser betreut.

"Einige haben posttraumatische Störungen, wenn sie herkommen, sie wurden vergewaltigt, oder verhaftet und im Gefängnis geschlagen und gefoltert, weil sie als israelische Kollaborateure verdächtigt werden. Man sieht es an den Narben und Stichverletzungen, nachts nässen sie ein. Sie können nicht schlafen und wachen schreiend aus Alpträumen auf. Einer konnte es nicht aushalten, im Dunkeln zu sein. Als der palästinensische Geheimdienst ihn verhaftet hatte, steckte man ihn in eine 1 X 1 Meter große Zelle. Es war dunkel und überall waren Ratten und Mäuse, die ihn bissen. Selbst Jahre danach schrie er nachts und konnte nicht ohne Licht schlafen.

Shaul und seine Mitarbeiter versuchen, den Palästinensern Schlafplätze und Arbeit zu besorgen, Psychologen helfen bei der Traumabewältigung. Doch das Wichtigste, eine Aufenthaltsgenehmigung in Israel, erhalten nur zwei bis drei pro Jahr, denn der israelische Staat erachte sie als Sicherheitsproblem, sagt Shaul Gonen.

"Viele der jungen Palästinenser versuchen einfach zu überleben, wenn sie nach Israel kommen. Sie schlafen in Müllräumen, am Strand oder in öffentlichen Gärten. Um zu überleben, prostituieren sich viele, verkaufen ihre Körper, brechen in Häuser ein oder dealen mit Drogen und Alkohol. Schließlich kommen sie in israelische Gefängnisse oder werden zurück in die Palästinensergebiete gebracht. Dort werden sie von ihren Familien geschlagen, der Palästinensische Geheimdienst verhaftet sie, oder sie verschwinden einfach und wir hören nie wieder von ihnen."