"Schwüle Tage"

Rezensiert von Tilman Krause · 20.04.2005
Zu den großen Verkannten der deutschen Literatur gehört nach wie vor der baltische Edelmann und Münchner Bohème-Schriftsteller Eduard von Keyserling. "Als Gottes Atem leiser ging, schuf er den Grafen Keyserling", spotteten die Zeitgenossen gern und meinten damit den dekadenten, kränklichen Menschen, aber auch sein Werk, das ganz und gar der Atmosphäre des Späten, Überreifen, Untergangsgeweihten gewidmet ist.
Was in den Romanen und Erzählungen des baltischen Grafen untergeht, ist zunächst einmal die ostelbische Aristokratie im speziellen, aber doch im Grunde das lange 19. Jahrhundert allgemein, das nach der originellen Berechnung des Historikers Habsbawm bekanntlich bis 1918 dauerte, also just bis zu jenem Jahr, in dem auch Keyserling starb.

Geboren wurde er 1855, und aus Anlass seines 150. Geburtstages gibt jetzt der Manesse-Verlag eines seiner hübschen Bändchen mit Erzählungen des Jubilars heraus. Etwa zehn Jahre dauert inzwischen die kleine, aber durchaus vernehmbare Keyserling-Renaissance an, die sich an der sukzessiven Neuveröffentlichung sämtlicher seiner Romane bei den Verlagen Steidl und S. Fischer ablesen lässt.

Während die Romane Keyserlings (wir nennen nur "Wellen", "Fürstinnen", "Abendliche Häuser") meist von den Konflikten junger, aufbruchslüsterner Aristokratinnen handeln, die mit den Gesetzen ihrer Herkunft ins Gehege kommen und nicht selten nach ihren gescheiterten Emanzipationsversuchen wieder zurückehren in die Schöße ihrer Familien, um dann dort verzagt zu verdämmern, sind die Erzählungen, die dieser Band versammelt, wenig konfliktgesättigt. Der ganze atmosphärische Reichtum der Keyserling’schen Prosa-Palette sowie seine hohe Kunst der Stimmungsschilderung kommen hier zum Ausdruck.

Das Buch bietet ein Fest der oft nur angedeuteten Farben und Sinnenreize, ein impressionistisch hin getupftes Pastellbild, in dem die Lebens- und Liebesformen aus der "Welt von gestern" noch einmal zum Leben erwachen, mürbe schon, und darum melancholisch verschattet, aber doch auch voll der ironischen Distanz dessen, der begriffen hat, dass diese Welt zum Untergang verurteilt war, weshalb er sie bis in ihre feinsten Verästelungen hinein noch einmal nachgezeichnet hat.