Aus den Feuilletons

Schwimmen als fötale Erfahrung

04:09 Minuten
Die Unterwasseraufnahme eines Babys, das beim Schwimmunterricht unter Wasser festgehalten wird
Die "NZZ" empfiehlt: Rein ins Wasser und einfach treiben lassen. © imago/blickwinkel
Von Gregor Sander · 03.09.2019
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Eine Ode an das Schwimmen hat Andrea Köhler in der "NZZ" verfasst. Sie schwärmt von der Freiheit, "die sich in wilden Gewässern einstellt". Nichtschwimmer, Wasserscheue und Nuramstrandlieger werden allerdings von ihr links auf dem Badetuch liegen gelassen.
Buchpreisträger Frank Witzel führte sieben Wochen lang ein Tagebuch der Selbstbeobachtung, das nun unter dem Titel: "Uneigentliche Verzweiflung" bei Matthes & Seitz erschienen ist. Der folgende Satz von Steffen Greiners Kritik in der TAZ wird fett hervorgehoben: "Man wünscht Witzel, den Ausbruch aus der Tristesse des Denkens bald erleben zu dürfen."
Und man ahnt, was der Kritiker meint, wenn Witzel mit den folgenden Worten zitiert wird: "Dies ist im doppelten Sinne ein metaphysisches Tagebuch, da es mir immer weniger gelingt, die sonst in einem Tagebuch vermerkten Dinge des Alltags hier aufzuschreiben. Ich habe das Gefühl, nicht die richtigen Worte dafür finden zu können und, sollte ich es dennoch versuchen, in der Banalität der Kolportage und der falschen Emotionalität stecken zu bleiben."
Landen kann der Autor des buchpreisgewürdigten Werkes "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" beim TAZ-Kritiker mit diesem Versuch allerdings nicht, wenn dieser in zwei Sätzen resümiert: "Über weite Strecken ist das Tagebuch ein Ausstellen der eigenen Bildungsbräsigkeit. Dazwischen geht der Autor schwimmen."

"Wasser öffnet etwas in uns"

Das Schwimmen an sich hat Andrea Köhler zum Thema ihres Aufmachers im Feuilleton der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG gemacht: "Jeder Sprung ins Nass", so Köhler, "sofern er nicht dem sportlichen Ehrgeiz verpflichtet ist, knüpft – mindestens unbewusst – an die fötale Erfahrung an."
Aber die muss ja nicht unbedingt positiv gewesen sein, möchte man einwenden, denn wie sonst erklärt sich eine hohe Dunkelziffer von Nichtschwimmern, Wasserscheuen oder Nuramstrandliegern?
Die werden von der Autorin links auf dem Badetuch liegen gelassen, bei ihrer ganzseitigen Ode an das Schwimmen: "Denn das Wasser ist transitorisch, es öffnet etwas in uns. Selbst inmitten der Stadt vermittelt der Sprung in den See eine Spur jener Freiheit, die sich gemeinhin in wilden Gewässern einstellt."
Und im Schwitzkasten des "Köhlerschen Wirs" lesen wir auch noch: "Im Wasser lernen wir immer wieder aufs Neue, was Bewegung sein kann, dem Rhythmus der Wellen, der gemächlichen oder fordernden Strömung zu folgen. Oder, was uns am schwersten fällt, uns einfach treiben zu lassen."

Schwimmen als nacktes Überleben

Dass es für viele Menschen beim Schwimmen im Mittelmeer seit Jahren um das nackte Überleben geht, wird in der NZZ nicht thematisiert.
Dafür hat sich das ZDF dem Thema Flucht gewidmet mit dem Doku-Drama "Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge", das am Mittwochabend läuft. Erzählt wird die Geschichte des 4. September 2015, den Frank Lübberding in der FRANKFURT ALLGEMEINEN ZEITUNG so beschreibt:
"An diesem Tag erlebte die europäische Flüchtlingskrise ihren dramatischen Höhepunkt. Im Mittelpunkt standen in Budapest gestrandete Flüchtlinge, eine deutsche Bundeskanzlerin und ihr österreichischer Amtskollege. In Nebenrollen erleben wir Minister und graue Eminenzen, Journalisten und Beamte."
Als Interviewpartner standen allerdings nur Thomas de Maizière, Sigmar Gabriel und Peter Tauber zu Verfügung. Die Kanzlerin und alle anderen politisch Handelnden werden von Schauspielern dargestellt, was Stefan Braun in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG moniert:
"In so einer Konstruktion vermischen sich Fakten und authentische Bilder mit Interpretationen und künstlerischen Zuspitzungen. Das lässt sich bei Ereignissen, die lange vorbei sind, vielleicht machen. In diesem Fall hätte es das ZDF lassen sollen. In den fast 90 Minuten finden sich Szenen und Sätze, von denen nur die Beteiligten sagen können, ob sie wirklich so passiert sind."
Komplett begeistert vom Doku-Drama ist hingegen Anja Maier von der TAZ: "Der eigentliche Star des Films", schreibt sie, "ist Mohammad Zatareih, jener junge Syrer, der den Marsch der Verzweifelten über Ungarns Autobahn Richtung Österreich organisiert und angeführt hat. Es ist eine Freude, ihm zuzuhören, wie er heute in perfektem Sächsisch die Ereignisse schildert."
Mohammad Zatareih hat übrigens in Zwickau Deutsch gelernt und sein Asylantrag wurde inzwischen anerkannt.
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