Schwarzes Geheimnis oder Fata Morgana?

Von Dirk Lorenzen · 05.10.2013
Trotz aller Sterne und schillernder Gaswolken: Nach gängiger Theorie besteht der größte Teil des Universums aus Dunkler Materie - so heißt der Teil des Kosmos, der nicht leuchtet und daher nicht zu sehen ist. Bis heute weiß niemand, woraus diese Dunkle Materie bestehén könnte. Und natürlich gibt es auch grundsätzliche Zweifel an der Theorie.
Der Blick in die Tiefen des Weltalls ist für die Astronomen ebenso faszinierend wie verstörend. Denn sie ahnen, dass sie keineswegs alles zu sehen bekommen. Die Sterne bewegen sich viel schneller als allein von der Anziehungskraft der leuchtenden Gestirne zu erwarten wäre – und die großen Haufen von Galaxien müssten sofort auseinander fliegen, wenn man nur die Anziehung der sichtbaren Materie berücksichtigt. Entweder wirkt die Schwerkraft anders, als es Albert Einstein vor hundert Jahren formuliert hat – oder es zieht irgendetwas Unsichtbares an den leuchtenden Objekten.

Die geheimnisvolle Großmacht des Universums
Carlos Frenk von der Universität im englischen Durham ist überzeugt, dass die Materie im Kosmos vor allem eines ist – dunkel:

"Wir wissen jetzt, dass der größte Teil der Materie im Kosmos nicht leuchtet und prinzipiell nicht zu sehen ist. Diese Dunkle Materie macht etwa 90 Prozent aus. Das sichtbare Material, aus dem wir, die Sonne, die Planeten und alle Sterne bestehen, kommt im Universum nur auf etwa zehn Prozent. Der Theorie nach besteht die Dunkle Materie nicht aus der 'normalen' Materie, die wir aus dem Alltag kennen – sondern aus einer ganz anderen Sorte Elementarteilchen. Daher ist eines der größten Rätsel der modernen Wissenschaft: Woraus besteht die Dunkle Materie?"

Es klingt paradox: Da gibt es im Universum offenbar einen geheimnisvollen Stoff, den die Forscher noch nie gesehen haben – und doch spielt er nicht etwa eine Nebenrolle, sondern er beherrscht den Kosmos. Sterne wie die Sonne oder Planeten wie unsere Erde bestehen aus einem Material, das im Weltall hoffnungslos in der Minderheit ist. Die kosmische Großmacht agiert im Verborgenen.

Carlos Frenk: "Auch wenn die Dunkle Materie nicht zu sehen ist, so prägt sie dennoch das Universum. Sie ist verantwortlich für alles, was wir sehen. Galaxien existieren nur deswegen, weil die Dunkle Materie mit ihrer Anziehungskraft die normale Materie hat verklumpen lassen. So sind Sterne, Planeten und letztlich Menschen entstanden. Dunkle Materie leuchtet zwar nicht, aber sie wirkt mit ihrer Anziehungskraft – sie ist der Architekt des Universums."

Zwar weiß bis heute niemand, woraus die Dunkle Materie besteht, aber es gibt einige Theorien. Nach der Populärsten ist das Weltall voll von unsichtbaren Teilchen, die nur ganz selten mal mit sichtbarer Materie wechselwirken und die sich somit nur indirekt über ihre Anziehungskraft verraten.

Die dunkle Mischung für den Kosmos
Volker Springel vom Heidelberger Institut für theoretische Studien und sein Team versuchen in Computermodellen nachzuvollziehen, wie die Dunkle Materie das Universum im Griff hat. Nach der Geburt im Urknall war der Kosmos zunächst ein einziger Brei aus Materie und Strahlung. Heute aber gibt es viele Sterne und Galaxien. Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, packen die Forscher das Weltall in den Computer. In einen Musterwürfel von einigen Hundert Millionen Lichtjahren Kantenlänge füllen sie die Zutaten, die nach aktuellem Stand die Welt bedeuten.

Volker Springel: "Das sind so etwa fünf Sechstel Dunkle Materie, ein Sechstel normale Materie. Dann haben wir noch die Dunkle Energie, eine besonders mysteriöse Komponente, die zu einer beschleunigten Expansion des Universums führt. Das ist die Mischung, die man braucht, die großräumige Struktur im Universum zu erklären."

Die Materiemischung mit den hypothetischen Teilchen der Dunklen Materie ist der kosmische Teig, die Schwerkraft ist das Backpulver. Auf dem Monitor vor Volker Springel läuft binnen Minuten das Szenario ab, das im Weltall 14 Milliarden Jahre gedauert hat – und tatsächlich wird dem anfänglichen Einheitsbrei eine Art Schaum oder kosmisches Netz uns unzähligen Sternen und Galaxien.

Volker Springel: "Wir sehen die sehr feine filigrane Struktur der Dunklen Materie am Anfang. Es entstehen zunächst kleine Klümpchen aus Dunkler Materie, die weitere Masse anziehen aus ihrer Umgebung. Die ziehen sich gegenseitig an, verschmelzen miteinander und bilden in der Mitte diese Protogalaxie, der Kern einer Galaxie, die später die Milchstraße sein wird. Wir sehen, dass es ein sehr dynamischer Prozess ist. Es entsteht jetzt diese kollektive Wolke aus Dunkler Materie, in deren Zentrum die Sterne entstehen."

Die simulierten Ansichten des Kosmos ähneln auf den ersten Blick verblüffend den echten Aufnahmen vom Weltall. Mit der Dunklen Materie lässt sich also gut der großräumige Aufbau des Universums erklären. Aber ist das schon ein Beleg für ihre Existenz? Es bleibt der Schönheitsfehler, dass bis heute niemand weiß, woraus die Dunkle Materie besteht.

Die Jagd nach den Geisterteilchen
Zwar laufen seit Jahren aufwendige Experimente, um Teilchen der geisterhaften Dunklen Materie direkt nachzuweisen – doch bisher war alle Mühe vergebens. Auch der neue LHC-Beschleuniger in Genf hat noch keinerlei Hinweise auf die Dunkle Materie geliefert. Plötzlich gerät das ganze Theoriegebäude ins Wanken. Für Klarheit sorgen will jetzt Iris Abt vom Max-Planck-Institut für Physik in München. Die äußerst erfahrene Forscherin plant gemeinsam mit chinesischen Kollegen den Bau eines Experiments, bei dem ein tonnenschwerer Germaniumkristall als Nachweismaterial für die Dunkle Materie dient.

Iris Abt: "Wir suchen nach einem Teilchen, über das wir faktisch nichts wissen, von dem wir aber einfach mal annehmen, dass es in unserem Kristall schwach wechselwirkt, dort den Kristall anstößt."

Sollte die Dunkle Materie im All tatsächlich aus der Teilchensorte bestehen, auf die die Forscher derzeit setzen, dann sind wir stets von Myriaden dieser Partikel umgeben. Doch sie gehen durch die Erde, durch unseren Körper und auch durch den Germaniumkristall hindurch wie durch Butter. Nur ganz, ganz selten verfängt sich eines dieser Teilchen im Kristall und überträgt etwas Energie auf die Germaniumatome – genau danach suchen die Physiker fieberhaft.

Iris Abt: "Wir sind ein klein wenig wie der Mensch, der seine Autoschlüssel verloren hat und unter der Laterne guckt. Wenn ihn einer fragt, glaubst du, du hast sie unter der Laterne verloren, sagt er, nee, aber es ist die einzige Stelle, wo ich suchen kann."

Die Zweifel an der Dunklen Materie wachsen
Die Forscher haben allmählich fast alle Bereiche um die Laterne herum abgesucht – und es gibt nicht einmal eine vage Spur, die zur Dunklen Materie führt. Jagen die Physiker doch einem Phantom hinterher? Funktioniert vielleicht die Schwerkraft, die Gravitation, doch ganz anders, als die meisten heute denken? Eine recht kleine Gruppe von Forschern arbeitet an einer neuen Gravitationstheorie – MOND genannt, nach der Abkürzung für Modifizierte Newtonsche Dynamik.

Zu den Zweiflern an der Dunklen Materie gehört auch Stacy McGaugh, Astronom an der Case Western Reserve Universität in Cleveland in den USA:

"In der MOND-Theorie arbeitet man nur mit dem, was man sieht. Man braucht keine Dunkle Materie. Wir haben damit Vorhersagen für die Bewegung sehr kleiner Galaxien gemacht, bei denen das Modell der Dunklen Materie versagt. Die Übereinstimmung unserer Prognosen mit den Daten ist verblüffend. Zumindest bei den kleinen Objekten funktioniert diese andersartige Schwerkraft sehr gut."


Ob die MOND-Theorie wirklich der Natur näherkommt als das Modell der Dunklen Materie, ist keineswegs sicher. Zu ungenau sind bisher die Beobachtungsdaten der Astronomen, zu groß ist der Spielraum, den die Theorien bieten. Doch in der Teilchenphysik sollte sich innerhalb der kommenden zehn Jahre zeigen, ob tatsächlich riesige Mengen einer unbekannten Teilchensorte das Universum beherrschen oder nicht. Dem Germanium-Detektor von Iris Abt fällt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Iris Abt: "Ich persönlich bin eigentlich ziemlich überzeugt davon, dass diese Dunkle Materie keine schwache Wechselwirkung macht, weil die Kollegen am CERN davon sonst schon irgendeinen Zipfel hätten sehen können. Das müssen wir aber festlegen. Auch wenn man etwas ausschließt, ist das ein Ergebnis."

Sollte auch der Germanium-Detektor keine Teilchen der Dunklen Materie finden, wäre zwar deren Existenz nicht widerlegt. Aber es wäre klar, dass die Dunkle Materie – so es sie überhaupt gibt – ganz anders aufgebaut sein müsste als die Astronomen und Teilchenphysiker heute spekulieren.

Hat sich Einstein geirrt?
Dann könnten auch die Ideen einer anders gearteten Schwerkraft – etwa die MOND-Theorie – an Charme gewinnen. Neue Ansätze rundheraus abzulehnen, ist ohnehin gefährlich, wie der Blick in die Geschichte zeigt. Auch bei der Newtonschen Gravitationstheorie, die mehr als zwei Jahrhunderte über jeden Zweifel erhaben schien, gab es lange Zeit nur eine vermeintlich harmlose Kleinigkeit, die im Widerspruch zur Theorie stand: Damals ging es nicht um kleine Galaxien, sondern um winzige Abweichungen der Bahn des kleinsten Planeten im Sonnensystem.

Die Unstimmigkeiten bei Merkur klärten sich auf eine Weise, mit der niemand gerechnet hatte, betont der Chicagoer Kosmologe Michael Turner:

"Die Theorie, die die Bewegung Merkurs erklärt, war nicht einfach Newton und etwas mehr. Es war etwas völlig Neues – die Einsteinsche Relativitätstheorie! Ich persönlich bin von der Existenz der Dunklen Materie überzeugt. Aber womöglich liegen wir mit dem Urknall doch falsch. Die Dunkle Materie ist derzeit die einfachste Erklärung der beobachteten Phänomene im All. Dort draußen sind Teilchen, die kein Licht abgeben, aber über die gute alte Schwerkraft verfügen. Ob das wirklich so ist, werden wir jetzt bald testen – und dann wird klar, was im Kosmos vor sich geht. Vielleicht erwartet uns eine viel größere Revolution, als wir uns heute vorstellen."

Ob das wirklich so ist, werden die Physiker jetzt bald testen – und dann dürfte klarer sein, was im Kosmos wirklich vor sich geht. Vielleicht erwartet uns eine viel größere Revolution als sich die Wissenschaftler heute vorstellen.
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