Schule des Sehens

Von Birgit Galle · 12.02.2009
Auch für junge Zuschauer bietet die Berlinale ein differenziertes Programm. Dabei ist den Veranstaltern wichtig, keinen Kinderkitsch zu zeigen. Die Filme aus der ganzen Welt bilden die Realität von Kindern ab, die manchmal auch harter Tobak ist. Am Ende verleiht eine junge Jury die Gläsernen Bären.
Rupert, das ist Rupert Grint. Die Mädchen vor dem Kino knipsen ihre Akkus leer. Weil sie Rupert Grint aus "Harry Potter" kennen. Gleich wird er jedoch in einem Film ganz anderen Kalibers zu sehen sein.

Mädchen Kimiko: "In dem neuen Film "Cherrybomb"."

Kimiko, 17. Sie sieht viele Filme während des Festivals. Sieben, acht auf jeden Fall:
"Ich geh jetzt gleich rein. Ich bin gespannt."

Wäre "Cherrybomb" so ein Blockbuster-Potter-Riesending, der Film hätte nicht die Spur einer Chance gehabt, ins Programm von "Generation" aufgenommen zu werden. So aber, als wahrhaftiger Teenager-Erlebnishunger sieht die Sache anders aus. Es geht um die Erziehung der Gefühle. Sie ereignet sich, in diesem Falle, nicht nur beim Verlieben, Partymachen, Pilleneinwerfen, SMS-Schreiben und Autos zerbeulen, sondern kommt – wunderbarerweise - auch auf roten Luftmatratzen geschwommen.

Nach solchen Filmen hat Maryanne Redpath, die Leiterin der Sektion, monatelang unter mehr als tausend Einreichungen Ausschau gehalten:

"Ich sitze zusammen mit einem Auswahlgremium, wir sind vier bis fünf Leute, wir gucken die Filme an, und unsere allererste Voraussetzung ist: einen guten Film anzugucken, also auszuwählen. Wir wollen keine Kompromisse machen, auf der Ebene."

Die Devise lautet: Kein "Kinderkitsch". Das bedeutet, nah am Alltag, am Erleben von Kindern und Jugendlichen zu bleiben. Dazu gehören ätzend peinliche Mütter, besoffene oder paranoide Väter genauso wie zahme Jagdadler in der mongolischen Steppe oder die bescheidene Hühnerfarm einer Maori-Familie inmitten nassgrüner Natur und zwischen Zivilisationsschrottplätzen.

Maryanne Redpath: "Viele unserer Filme, über die Jahre, die haben so dokumentarische Qualitäten gehabt, aufgrund dass die Darsteller auch oft Laien sind, und dass die in ganz authentische Kulissen spielen, also wo die eigentlich zu Hause sind, in eine Land oder die andere, oder eine Kultur, oder mit Religion im Hintergrund, deswegen finden wir, dass unser Publikum diese Übergang machen kann, ganz toll, und freuen sich eigentlich, so realistische Stoffe zu sehen."

Realistische Stoffe? – Oft mehr als das. Nämlich: harte Stoffe!

Sagt ein amerikanischer Schüler: Ich werde mich vor meiner Videokamera umbringen, willkommen allerseits bei meinem Selbstmord. Geht ein georgischer Flüchtlingsjunge nach Abchasien, um dort den Vater wiederzufinden und kneift vor Grauen die Augen zu. Bemuttert ein russisches Mädchen in den Niederlanden die eigene Mutter, eine Prostituierte. Wird ein iranisches Mädchen mit zwölf an einen reichen Mann verscherbelt und wehrt sich. Fürchtet sich ein Kind mehr vor der Trennung der Eltern als vorm bösen Wolf. - Alles wirklich die rechten Filme für Kinder und Jugendliche?

Maryanne Redpath: "Also, wir haben überhaupt kein Problem mit unserem Publikum, die kennen unsere Art von Filmen. Wir haben ein Publikum, das bereit ist, auf diese Abenteuer mit uns zu gehen, unser Jugendpublikum, unser Kinderpublikum sind sehr gewöhnt an diese Herausforderung. Es bestätigt sich Jahr für Jahr, zum Beispiel bei unserer Kinderjury, dass die den Gläsernen Bären an einen harten Film abgeben."

Vielleicht dieses Jahr an einen der beiden Dokumentarfilme. - Einer über mexikanische Kinderarbeiter - "Los Herederos", einer über Berliner Schüler - "Teenage Response".

Maryanne Redpath: "13 junge Leute reflektieren sich und ihre Welt, wer bin ich, wo komm ich her, was ist meine Geschichte, was denk ich, was fühl ich. Also es geht um die Familie, um Kindheit, um Sex und so weiter, und diese 13 jungen Leute sind in wunderschöne Räume gestellt, und die Räume haben die selbst kreiert, also nach ihrem eigenen Geschmack, also wie sie die innerlichen Räume dann nach außen reflektieren, das ist ganz toll gemacht."

Dokumentarfilme gibt es dieses Jahr das zweite Mal, denn "Generation" versteht sich nicht nur als Weltenschau, sondern auch als Schule des Sehens, der Bildsprache. - Stellt sich generell die Frage nach der Ästhetik. Junge Zuschauer - gleich: junge Ästhetik? Manchmal schon. "My Suicide" etwa bietet eine Art Overkill aus Handy-Video-Animations-Bildern-Schnipseln an, hat er doch einen Helden, der sich hinter seiner Kamera beziehungsweise in seinem Studio verschanzt. Eine rasende, sarkastische Kompilation – aber eine mit Herz.

Wer Herz sagt, sagt auch Trost. Der schwebt, bei allem Ernst und Schrecken, durch viele Filme. Oder besänftigt am Ende den Schmerz – mit einem Happy End. Danach sehnen sich junge Zuschauer natürlich, sagt Maryanne Redpath. Allerdings nur, wenn es nicht zu happy ausfällt.

Überhöht märchenhaft geht es am Ende in Aida Begics Film "Schnee" zu. Wenn die Frauen eines bosnischen Dorfes, dessen Männer während des Krieges verschleppt wurden, mit einem fliegenden Teppich einen Fluss überqueren: hin zu der Höhle, in der sie endlich ihre Toten finden können. "Schnee" lief schon auf vielen Festivals, und bekam in Cannes einen Preis. Nach Cannes nur die Sektion Kinder- und Jugendfilm – das ist der Regisseurin Aida Begic sehr lieb.

Aida Begic: "Ich fühle mich toll, weil ich finde, das ist eine sehr wichtige Sektion. Das das ist doch das Wichtigste für uns: mit unseren jüngsten Zuschauern zu reden, ins Gespräch kommen. Denn sie sind unsere Zukunft. Und ich freue mich schon auf ihre Reaktionen. Ich fühle ich mich überhaupt nicht degradiert, nach Cannes und den vielen anderen Festivals und den 15 Preisen weltweit. Nein. Ich bin stolz, dabei zu sein, bei "Generation"."