Schuld und Sünde, Not und Pein

Von Dr. Thomas Kroll · 01.03.2008
In diesem Jahr liegen das Ende der Weihnachtszeit und der Aschermittwoch sehr nah beieinander. Noch hat man die hellen, fröhlichen Weihnachtslieder im Ohr, da wird man in katholischen und evangelischen Kirchen mit dunklen, eher traurig klingenden Gesängen konfrontiert. Sie artikulieren Themen wie Schuld und Sünde, Schmerz und Leiden.
Aus dem Fundus dieser kirchenjahreszeitlich bedingten Lieder stellt Thomas Kroll in der ersten Folge unserer vierteiligen Sendereihe zur Kultur und Theologiegeschichte der Passionslieder zwei Beispiele vor.

Musik:
"Aus tiefer Not schrei ich zu dir,
Herr Gott, erhör mein Rufen."
CD Geistliches Wunderhorn

Der Beginn von Psalm 130 ist das. Den deutschen Liedtext hat Martin Luther geformt, die Melodie stammt aus Straßburg.
Psalm 130 ist einer von sieben Bußpsalmen. Die Sündhaftigkeit der Menschen und Gottes Vergebung kommen in diesem Gebetstext aus dem Alten Testament mehrmals zur Sprache.

"Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten,
Herr, wer könnte bestehen?
Doch bei dir ist Vergebung,
damit man in Ehrfurcht dir dient." (Ps 130,3)
Musik:
"Darum auf Gott will hoffen ich,
auf mein Verdienst nicht bauen;
auf ihn mein Herz soll lassen sich
und seiner Güte trauen."
CD Geistliches Wunderhorn

Das ist die bekanntere Melodie des Strophenliedes. Sie geht auf Luther selbst zurück und entstand im Jahre 1524. Bis dahin waren die Psalmen der lateinischen Klerikerliturgie vorbehalten.

"Ich bin willens, nach dem Beispiel der Propheten und alten Väter der Kirche, deutsche Psalmen für das Volk zu machen, das ist geistliche Lieder, dass das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe."

Martin Luther 1523 in einem Brief an Georg Spalatin.
Luthers Lied "Aus tiefer Not schrei ich zu dir" ist Gebet und Predigt, Übersetzung und Auslegung. Im hebräischen Wortlaut von Psalm 130 entdeckt der Reformator entscheidende Stichworte, die ihm aus den Briefen des Apostels Paulus vertraut und wichtig sind: Sünde, Vergebung und Erlösung, Gottesfurcht, Warten auf Gott und Vertrauen auf Gottes Wort. Luther bringt all das in einer fünfstrophigen deutschen Liedfassung zur Sprache und setzt mit Hilfe von Ergänzungen Akzente. Dadurch kommt die reformatorische Glaubenslehre klarer zum Ausdruck, insbesondere dies: Vergebung ist allein aus Gottes Gnade möglich – sola gratia – und im Glauben an sein Wort – sola fide.

Musik:
"Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,
die Sünde zu vergeben
es ist doch unser Tun umsonst
auch in dem besten Leben."
CD Geistliches Wunderhorn

Diese Melodie ist ebenfalls im Evangelischen Gesangbuch notiert. Sie stammt von Wolfgang Dachstein und entsteht im selben Jahr wie Luthers Tonfolge.
Der Text betont die Unmöglichkeit, mit guten Werken Heil und Gnade erwirken zu können- Eine Herausforderung für katholische Theologen ist das. Dennoch findet Luthers Lied auch über die Konfessionsgrenzen hinaus Verbreitung, zumal man für katholische Gesangbücher immer wieder theologische Anpassungen vornimmt.
Das aktuelle katholische Gotteslob bietet eine dreistrophige Fassung. Die erste Strophe folgt Luther fast aufs Wort, die beiden anderen fassen Luthers Folgestrophen zusammen. Dann erklingt das betont reformatorische Glaubenslied wieder als schlichtes Psalmlied. Es endet mit den Worten, die schon Johann Sebastian Bach vertont hat:

Musik:
"Er ist allein der gute Hirt,
der Israel erlösen wird
aus seinen Sünden allen."
CD Geistliches Wunderhorn

Im Evangelischen Gesangbuch findet man Luthers Lied unter der Rubrik "Biblische Gesänge". Im katholischen Gotteslob wird es bei den Liedern für die Fastenzeit angeführt. So bezeichnet man katholisch-volkstümlich die 40 Werktage der Vorbereitung auf das Osterfest. Präziser ist die Rede von "vorösterlicher Bußzeit" und auf protestantischer Seite von "Passionszeit".
Zwei Bezeichnungen für dieselbe Zeitdauer sind das, die unterschiedliche Akzente setzen.

Musik:
"O Herr nimm unsre Schuld, mit der wir uns belasten,
und führe selbst die Hand, mit der wir nach dir tasten."
CD Geistliches Wunderhorn

440 Jahre nach Luthers Vertonung von Psalm 130 formt Hans-Georg Lotz Text und Melodie dieses Bußgesangs. Erneut klingen die Themen an, die schon Luther bei seiner Liedschöpfung bewegt haben. In vier Strophen skizziert der 2001 verstorbene Hamburger Musikdozent überdies die ambivalente Situation des gläubigen modernen Menschen vor Gott. Die soziale Dimension christlichen Glaubens kommt ebenso mit in den Blick, wenn es etwa am Ende heißt: "Und hilf, dass wir durch dich den Weg zum andern finden." Vermutlich hat das Lied aus dem Jahr 1964 auch deshalb rasch Einzug gefunden in die Gesangbücher beider Konfessionen.