Schriftsteller: Ukrainer werden Deutschen die Daumen drücken

Christoph Brumme im Gespräch mit Dieter Kassel · 22.06.2012
Nach dem nicht gegebenen Tor für die Ukraine im Spiel gegen England sei die Stimmung im Keller, berichtet Christoph D. Brumme. Er fährt mit dem Fahrrad durchs Land und studiert während der EM-Wochen Land, Leute und Politik.
Dieter Kassel: Der Schriftsteller und Journalist Christoph Brumme macht jetzt schon zum sechsten Mal eine Tour-de-Wolga. Das heißt, er fährt von Berlin aus mit dem Fahrrad quer durch Polen und die Ukraine bis nach Russland. Natürlich hat er das diesmal so gelegt, dass er während der Fußballeuropameisterschaft im Austragungsgebiet ist. Er ist sechs Wochen lang in der Ukraine unterwegs, bemüht sich aber, nicht Kiew und die anderen Austragungsorte anzugucken, sondern sich auf dem Land, in kleinen Orten zu bewegen. Im Moment ist Christoph Brumme in Baltawa, was allerdings kein Dorf ist, sondern eine immerhin ungefähr 300 Einwohner große Stadt. Schönen guten Tag, Herr Brumme!

Christoph D. Brumme: 300.000 Einwohner leben in Baltawa!

Kassel: Was habe ich denn gerade gesagt?

Brumme: 300.

Kassel: Nein, das ist Quatsch. Das war ein Versprecher. 300.000 sind es rund. Also, ich wollte nur sagen, das ist nun kein Dorf mehr. Aber Dorf oder Stadt – ist auch dort immer noch das Ausscheiden der Ukraine durch dieses nicht gegebene Tor das große Thema, oder hat man sich daran jetzt gewöhnt?

Brumme: Nein, daran hat man sich nicht gewöhnt. Heute fragt eine wichtige ukrainische Zeitung: Gibt es überhaupt noch eine Zukunft für den ukrainischen Fußball? Die Stimmung ist im Keller nach diesem Spiel, nachdem die Ukraine ja wirklich besser gespielt hat als England und mehr Chancen hatte und ein reguläres Tor nicht anerkannt wurde.

Kassel: Regen sich die Leute auch im Gespräch mit Ihnen darüber auf? Sagen die, der Schiedsrichter war bestechlich oder irgend so was?

Brumme: Also seltsamerweise die Begründungen, die genannt werden, lauten eigentlich: In unserer Gesellschaft gibt es nicht genug Ordnung, wir verhalten uns nicht genau genug. Wir müssen von den Deutschen lernen. Wir brauchen mehr Ordnung und mehr Genauigkeit zum Fußballspielen.

Kassel: Sie sind ja nun schon einen Weile unterwegs. Wir haben aber das letzte Mal mit Ihnen gesprochen, da hatte die EM noch gar nicht begonnen. Wie ist es denn, seit sie begonnen hat? Wie wird denn Fußball geguckt? Auch wie bei uns viel Public Viewing oder sitzen die Leute eher in der Familie?

Brumme: Also viel auf öffentlichen Plätzen oder in Kneipen. Das erste Spiel, Deutschland gegen Portugal, habe ich in einer Autobahnraststätte gesehen, und alle Ukrainer waren für Deutschland. Die Deutschen sind sehr beliebt, sind die beliebtesten Ausländer in der Ukraine, auch in Russland.

Kassel: Hat man denn die großen deutschen Vorbehalte gegen diese EM wegen der politischen Vorgänge in der Ukraine, hat man die, Sie haben letztes Mal erzählt, die hat man nicht so ernst genommen, Frau Timoschenko hat auch kaum Anhänger in der Ukraine. Hat man die den Deutschen inzwischen verziehen?

Brumme: Also, die Idee, die EM politisch zu boykottieren, würde hier wahrscheinlich auf große Zustimmung treffen. Aber die Idee, sie sportlich zu boykottieren, das ist natürlich nicht sehr sympathisch aus ukrainischer Sicht.

Kassel: Nun hat man sich ja beschwert, dass auch durch die UEFA, aber natürlich auch die ukrainische Politik, im Fernsehen gewisse Dinge bei den Spielen nicht zu sehen sind. Als zum Beispiel zwei Grünen-Politiker ein großes Banner mit "Gerechtigkeit für Julia Timoschenko" aufgerollt haben bei einem der Spiele, konnte man das im Fernsehen nicht sehen. Ist das in der Ukraine trotzdem irgendwie angekommen?

Brumme: Nein. Politik ist wirklich relativ unwichtig in der Ukraine. Also die Differenz zwischen der Regierung und der Bevölkerung ist viel, viel größer als in Deutschland. Niemand macht sich Illusionen, niemand erwartet was Gutes von der Politik.

Kassel: Reden wir über diese Stadt mit den 300.000 Einwohnern, Baltawa. Was ist das für eine Stadt?

Brumme: Also, das Wichtigste vielleicht, es ist eine Stadt, über die man sagt, sie sei das geistige Zentrum der Ukraine. Das heißt, hier lebte oder beziehungsweise ist zur Schule gegangen der berühmte Schriftsteller Nikolai Gogol. Das sieht man auch, an jeder Straßenecke werden Figuren aus Gogols Erzählungen verkauft, egal, ob als Keramiken oder als gestrickte Puppen oder gemalt. Und es ist eine Stadt, in der jeder zweite Mensch wahrscheinlich ein Künstler ist. Es gibt sehr viele Musiker, sehr viele Maler und, ja, so lebt man hier.

Kassel: Wirkt sich das auch auf das Straßenbild aus, also gibt es da auch jetzt bei dem wahrscheinlich doch warmen, sommerlichen Wetter Kunst und Musik auf der Straße?

Brumme: Also es spielen viele Leute auf der Straße Musik. Ich habe es schon erlebt, wenn ein Pantorist auf der Straße spielt, dass die Verkäuferinnen im Geschäft aufhören zu arbeiten und dann rausgehen auf die Straße und mitsingen.

Kassel: Nun liegt diese Stadt, na ja, noch nicht ganz weit im Osten. Die russische Grenze ist noch ein Stück weit weg, aber es ist eindeutig schon die Osthälfte der Ukraine. Sie waren logischerweise am Anfang mehr im Westen des Landes unterwegs. Und nun gibt es natürlich viele Menschen, die immer wieder erzählen, das sei ein großer Unterschied. Die Schriftstellerin Natalka Sniadanko hat zum Beispiel bei uns im Deutschlandradio Kultur gesagt, es gebe immer noch wirklich eine Zweiteilung des Landes, kulturell, politisch, sozial, in Ost und West, das sei nicht eine Nation. Sind die Unterschiede wirklich so groß?

Brumme: Nein. Das kann man so gar nicht sagen. Diese angebliche Spaltung der Ukraine wird immer sehr, sehr stark übertrieben. Die Menschen in der Ukraine leiden nicht unter sprachlichen oder kulturellen Differenzen, sondern unter ökonomischen und sozialen Problemen. Und wenn man die Aufteilung der Sprachen sehen will, dann muss man zum Beispiel auch beachten, dass es ja mehrere Millionen binationale Ehen und Partnerschaften gibt. Wenn der Vater Ukrainer und die Mutter Russin ist, was sind dann die Kinder? Viele können das gar nicht definieren. Und viele wollen das auch gar nicht. Und ich bin hier, wie gesagt, im tiefen Osten der Ukraine. Über diese Stadt sagt man, dass etwa 40 Prozent der Menschen Ukrainer und 40 Prozent Russen sind. Und vergessen werden immer wieder die vielen anderen Nationalitäten. Nach meiner Erfahrung, wenn es Xenophobie in der Ukraine gibt, dann viel seltener zwischen Russen und Ukrainern, aber viel, viel mehr zwischen, sagen wir mal, Polen und Ukrainern, Rumänen und Russen, Armeniern und Aserbaidschanern, Griechen und Italienern. Hier gibt es ja viele, viele Nationalitäten.

Kassel: Aber ist es denn tatsächlich irgendwie auch ein kultureller Unterschied, wenn man wie Sie von der polnischen Grenze kommt, erst den Westen erlebt – nicht zum ersten Mal, aber diesmal – und dann den Osten. Es heißt ja zum Beispiel auch immer bei Wahlen im Osten der Ukraine werden eher Russland-freundliche Parteien gewählt, im Westen eher die Europa-freundlichen. Sind das alles nur Vorurteile?

Brumme: Nein, das sind nicht Vorurteile. Aber man muss die Wahlergebnisse mal genauer analysieren. Bei der Analyse der Wahlergebnisse werden zum Beispiel die Nichtwähler meistens gar nicht beachtet. Das sind oft bis zu 40 Prozent. Und es gibt natürlich im Donbas Hochburgen der jetzigen Regierungspartei, und es gibt im Westen der Ukraine Hochburgen der sogenannten demokratischen Opposition, die ja oft nicht viel demokratischer ist als die Regierungspartei selber. Julia Timoschenko hat sich noch nie einer demokratischen Wahl in ihrer eigenen Partei gestellt.

Kassel: Im Zusammenhang mit der kulturellen Identität wird auch immer gerne über einen Sprachenstreit diskutiert. Es ist ja auch ein neues Gesetz eingebracht worden, das regeln soll, welche Rolle das Ukrainische spielen muss und das Russische spielen darf, und da wurde in den Medien, auch in Deutschland, oft darüber so berichtet, als ginge es da um ein Verbot der russischen Sprache. Ist das eine richtige Interpretation?

Brumme: Nein. Es wurde wohl so interpretiert, als ob das Russische als zweite Amtssprache eingeführt werden soll. Aber das wird mit dem Gesetz gar nicht beabsichtigt, sondern es wird gesagt, dass dort, wo sprachliche Minderheiten leben, die jeweilige Sprache als Amtssprache oder als Verständigungssprache zunächst einmal benutzt werden kann. Das betrifft also auch das Krimtatarische oder auch das Russische oder das Rumänische. Nicht allein das Russische. Und in anderen Ländern, westlichen Ländern, ist es ja auch üblich, dass es mehrere Amtssprachen gibt. In der Schweiz, in Belgien, in Holland. Warum nicht auch in der Ukraine? Obwohl das interessanterweise mit dem neuen Gesetz gar nicht beabsichtigt werden soll. Die Regierungspartei hat gar nicht die Absicht, das Gesetz zu verabschieden. Das wurde in die Ausschüsse delegiert und der Opposition wurde vorgeschlagen, dort die einzelnen Punkte zu diskutieren. Das heißt, beide Seiten wollen diesen angeblichen Sprachenstreit, der eigentlich kein Streit für normale, arbeitende Menschen ist, instrumentalisieren. Beide spielen auf der Klaviatur des Ressentiments.

Kassel: Das heißt aber doch wahrscheinlich auch, die Menschen im Alltag, für die ist die Frage, ob sie nun Russisch oder Ukrainisch sprechen, vorausgesetzt, sie können beides, nicht sonderlich relevant, oder?

Brumme: Überhaupt nicht, die sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Und es gibt ja das sogenannte Surjik (Anm. d. Redaktion: Wort wie gehört) - also eine Mischung zwischen Ukrainisch und Russisch. Zum Anfang habe ich das auch nicht verstanden, ich denke, sprechen sie nun Ukrainisch oder Russisch? Aber jetzt weiß ich, okay, es gibt diese Mischmaschform natürlich.

Kassel: Einer der, na ja, Zwecke Ihrer Reise kann man nicht sagen, aber eine der Ideen bei diesem Trip durch die Ukraine für sie war, Deutsche zu treffen, die da leben. Das haben Sie ja sicherlich jetzt, Sie sind eine Weile da, schon getan. Was für Menschen haben Sie getroffen, Leute, die da immer schon leben, Leute, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus da ihr Glück gesucht haben? Was für Deutsche sind das?

Brumme: Also ich habe insbesondere einen Deutschen direkt am Dnjepr getroffen, der hat, ist vor zwei Jahren dorthin umgezogen mit seiner ukrainischen Frau, die er in Deutschland kennengelernt hat. Und der möchte jetzt für immer dort leben. Er hat Internet, er sagt, aus Deutschland vermisse ich allenfalls Bautz'ner Senf. Ansonsten kann ich über Skype mit meinen Freunden und Bekannten reden, und hier bin ich ein freier Mensch und die behördliche Willkür ist auch nicht groß, das wird auch oft übertrieben in Deutschland. Der Janukowitsch hat ja doch viele neue Gesetzte eingebracht, die eigentlich im Wirtschaftsleben auch einiges erleichtern.

Kassel: Kann man natürlich auch sagen, das tut er, um irgendwie dem Westen schön Licht zu machen, weil er natürlich auch als der dastehen will, der alles sehr verwestlicht.

Brumme: Ja, vor allem tut er das im Auftrag der Oligarchen, die einen freien Güterverkehr nach Westen haben wollen. Und es ist ja die Idee oder der Wunsch der Ukraine, ein Assoziierungsabkommen mit der EU abzuschließen. Entsprechend versucht man in vielen Bereichen schon, ökonomische Standards einzuführen.

Kassel: Herr Brumme, zum Schluss doch noch mal der Fußball. Dadurch, dass die Ukraine jetzt ausgeschieden ist, ist damit auch das Fußballfieber erloschen?

Brumme: Ja, es herrscht natürlich erst mal allgemeine Trauer, das ist klar. Man wird weiterhin vor allem den Deutschen die Daumen drücken. Die sind schon die beliebteste Nation hier. Aber für die Ukraine ist es wirklich sehr, sehr schade. Also, ich war auch sehr traurig.

Kassel: Ich kann Ihnen die Frage nicht ersparen: Was tippen Sie denn heute Abend, was das Spiel angeht? Wie geht es aus?

Brumme: Vier zu eins für Deutschland!

Kassel: Klare Worte von Christoph Brumme. Er ist unterwegs in der Ukraine auf seiner Tour-de-Wolga, die ihn insgesamt mit dem Fahrrad von Berlin an die russische Wolga und wieder zurück führen wird. Wir werden noch mal mit Ihnen sprechen bei Gelegenheit. Erstmal wünsche ich Ihnen bei der Reise noch viel Spaß und sage vielen Dank!

Brumme: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links bei dradio.de:

"Fußball kennt keine Grenzen" - Die ukrainische Schriftstellerin Natalka Sniadanko über die Fußball-EM als verbindendes Element

Portal UEFA EM 2012
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