Schriftsteller kritisiert norwegische Künstler

Erik Fosnes Hansen im Gespräch mit Joachim Scholl · 26.07.2011
Der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen bedauert, dass Künstler und Autoren sich in seinem Heimatland nicht mit drängenden Problemen wie etwa dem Extremismus auseinandersetzen. Statt dessen bevorzugten sie die Darstellung privater Konflikte.
Joachim Scholl: Wie begreift man die Attentate, das Massaker von Oslo? Gibt es vielleicht Antworten aus der Kultur, der Literatur, der Kunst Norwegens, in der ja auch stets die Konflikte und Widersprüche der Gesellschaft reflektiert werden? Ich bin jetzt verbunden mit Erik Fosnes Hansen. Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller Norwegens, vielfach ausgezeichnet für seine Romane, auch in Deutschland hat er viele Leser. Guten Tag. Herr Hansen!

Erik Fosnes Hansen: Guten Tag!

Scholl: In den ersten Analysen des Attentäters hieß es, er komme aus dem Nichts, weil er auch überhaupt nicht passt in dieses Bild einer so friedlichen, so offenen norwegischen Gesellschaft. Wie real ist dieses Bild überhaupt Ihrer Meinung nach? Gibt es nicht auch eine dunkle Rückseite, ein Unterfutter, das man eher verdrängt als thematisiert?

Hansen: Tja, das ist natürlich eine heikle Frage, und eine sehr störende Frage, wenn ich es so ausdrücken darf. Es ist natürlich die Frage, die man sich in Norwegen jetzt überall und die ganze Zeit stellt. Hat unsere friedliche, demokratische, offene und ruhige Gesellschaft eben eine solche Rückseite, eine solche – gibt es da solche Unterströmungen, die wir überhaupt nicht gekannt haben, von denen wir überhaupt nicht gewusst haben?

In einer jeden Gesellschaft gibt es natürlich Sachen, es gibt natürlich Leute, es gibt natürlich Unterströmungen, die nicht wünschenswert sind, die nicht schön sind, die gibt es auch bei uns. Aber wir dachten, wir waren der bestimmten Auffassung, dass diese Strömungen, dieser Extremismus, bei uns gewissermaßen unter Kontrolle waren – dass sie, wenn nicht ganz ausgerottet waren, jedenfalls mehr oder weniger ausgelöscht waren –, und dadurch eine ganz bewusste, ganz deutliche Informationsarbeit und Ausbildungsarbeit den Jugendlichen gegenüber in den Schulen und nicht zuletzt dadurch, dass unsere Gesellschaft so schön funktioniert hat, dass unsere Gesellschaft an sich ein Beweis dafür war, dass eben Toleranz, Zusammenleben, Offenheit, Demokratie und Stabilität die höchsten Gesellschaftsgüter waren. An und für sich wäre also die Gesellschaft selbst der Beweis dafür, dass es diese Strömungen, diese Rückseite, gar nicht nötig waren.

Scholl: Es ist nun die Aufgabe eines Künstlers, die dunkle Seite, jenes gesellschaftliche Unterfutter sichtbar zu machen, von dem Sie gerade gesprochen haben, Herr Hansen. In der norwegischen Kultur waren es in der Vergangenheit solche Persönlichkeiten wie der Dramatiker Henrik Ibsen oder der Romancier Knut Hamsun, der Maler Edvard Munch, die Zerrissenheiten, verzweifelte Seelenlagen, gesellschaftliche Krisen und Konflikte geschildert haben. Wie zeigt sich Ihrer Meinung nach die Kehrseite in der gegenwärtigen norwegischen Kultur, der Literatur, der Kunst?

Hansen: Ich würde leider sagen, dass die meisten Künstler Norwegens nicht sehr darauf achten. Das sage ich jetzt Ihnen als ein Kenner von Deutschland, von der deutschen Kultur und vor allem von der – ich würde sagen, ziemlich großen – Gesellschaftsverantwortung der deutschen Künstler. In der deutschen Gesellschaft hat man ja vieles miterlebt, und man hat ja auch gesehen, wie wichtig es ist, dass die Künstler nie damit aufhören, eine gesellschaftliche Stellungnahme zu machen. In Norwegen - wie in den ganzen skandinavischen Gesellschaften - ist das wohl nicht so brisant, ist das wohl auch nicht so gegenwärtig. Es ist nicht so wichtig. Leider Gottes, würde ich sagen.

Viele norwegische Künstler tendieren dazu, eher wohl subjektive oder private Konflikte aufzunehmen in ihre Kunst, und man ist vielleicht – zu einem gewissen Grad jedenfalls – weniger damit beschäftigt, die Gesellschaft zu analysieren, die Zerrissenheiten der Gesellschaft zu verstehen. Es gibt wohl einige, die das versuchen, natürlich! Aber ich würde nicht sagen, dass das, was wir jetzt erlebt haben, in unserer Kunst reflektiert worden ist, sozusagen als eine Vorhersage oder Voraussage von den schrecklichen Geschehnissen, die wir jetzt in den letzten Tagen miterlebt haben. Es ließ sich nicht ahnen, es ließ sich nicht begreifen, es ließ sich nicht im Voraus irgendwie andeuten, dass so was auf dem Weg war.

Scholl: Das Massaker in Oslo. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem norwegischen Schriftsteller Erik Fosnes Hanson. Eine deutsche Zeitung hat den Attentäter mit der Serienmörder-Romanfigur von Brad Easton Ellis aus seinem Roman "American Psycho" verglichen – ebenfalls ein intelligenter Widerling ersten Ranges. In dieser Figur, könnte man sagen, verkörpert sich die Gewaltkultur der USA. Wenn in Norwegen bislang eine solche Figur undenkbar war, Herr Hansen, welche Rolle spielt die Gewalt überhaupt in der norwegischen Kultur? Findet sie überhaupt den Ausdruck?

Hansen: Ja, vollständig undenkbar. Wissen Sie, Norwegen ist eine Gesellschaft, wo es wenige Mörder, wenig Gewalt gibt – es gibt natürlich welche, wie in allen Gesellschaften, aber das sind ja meist Affekthandlungen, oder unter dem Einfluss von Alkohol, von Drogen und so weiter, oder persönliche Tragödien. Dass wäre –so einen überlegten Mord, das ist etwas, was es bei uns kaum gegeben hat. Jetzt stehen wir diesem schrecklichen Phänomen gegenüber, dass ein Mensch quasi 100 überlegte Morde begangen hat. Das sind mehr überlegte Morde, als wir in der gesamten Zeit nach 1945 erlebt haben. Es ist vollkommen unvorstellbar und vollkommen unbegreifbar. Denn unsere Gesellschaft war bislang eine sehr friedliche und eine sehr wenig gewalttätige. Wir hoffen natürlich, dass es auch in Zukunft so bleiben wird, und das ist die Hoffnung aller Norweger in dieser Stunde, dass es uns gelingen wird, die Gesellschaft so zu halten.

Scholl: Aber Herr Hansen, schafft dieses betonte Deklarieren einer offenen Gesellschaft nicht auch ein Tabu oder eine Doktrin, die diejenigen ausschließt, die diese Vorstellung nicht teilen?

Hansen: Ja, das ist eine gute Frage. Die Gesellschaft ist klein, wir sind knapp fünf Millionen Einwohner. Ich würde sagen: In einer so kleinen Gesellschaft werden die Gesellschaftstugenden und waren schon die Gesellschaftstugenden deutlicher als etwa bei Ihnen. Zum Beispiel, was ich in Deutschland erlebt hab, dieses Mogeln, das ist interessant: zum Beispiel nicht die Fernsehgebühren bezahlen, weil es einem nicht gefällt, die Fernsehgebühren zu zahlen. Das ist bei uns fast undenkbar. Alle machen mit, weil in einer kleinen Gesellschaft müssen mehr mitmachen, und da muss man eine größere individuelle Gesellschaftsverantwortung auf sich nehmen und tragen, sonst bräche die Gesellschaft zusammen. Das mag paradox erscheinen zu dem, was ich eben erwähnt habe, dass man in der Literatur mehr eine Tendenz, eine Neigung zum Individuellen sieht, aber gleichzeitig – ich würde sagen, das ist ein wortloses Tabu, das ist keine wirklich ausgesprochene Gesellschaftstugend, es ist einfach so gewesen, dass man sich dann an diese Gesellschaftstugenden hält.

Scholl: Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat gestern in unserem Programm, hier in Deutschlandradio Kultur, gesagt, die Tatsache, dass der Attentäter ein Norweger sei, würde der norwegischen Selbstgerechtigkeit einen Spiegel vorhalten. Gibt es Ihrer Meinung nach eine solche norwegische Selbstgerechtigkeit, die sich also laut der Meinung von Herrn Johan Galtung damit begnügt, zu sagen, wir haben die beste aller möglichen Welten?

Hansen: Tja, ich weiß nicht. Ich denke, das ist erstens zu vereinfacht und es reflektiert auch etwas von der Ächtung, von der – sagen wir mal – Aggressivität Johan Galtungs seinem eigenen Land gegenüber wider. Ich denke, es gibt ja viele verschiedene Staaten und Gesellschaften und Kulturen auf dieser Welt. Alle haben wir etwas, worauf wir vielleicht besonders stolz sind, oder wo wir denken: Na ja, unsere Gesellschaft mag in dieser und jener Hinsicht nicht so gelungen sein, mag es eine langweilige Gesellschaft sein oder eine Gesellschaft, die auf diese Weise misslungen ist; so ist es auch mit unserer Gesellschaft. Und Eines gab es, worauf wir wirklich hätten stolz sein können, und das ist natürlich diese demokratische, friedliche, offene Haltung der Gesellschaft. Dass eben diese in diesen Tagen so erschüttert worden ist, ist natürlich für die Norweger vor allem eine Sorge. Es ist eine Trauer, es ist eine Tragödie. Es ist für uns quasi auf persönlicher, nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene ein Erschüttern von unseren – sagen wir mal – höchsten gesellschaftlichen und menschlichen Idealen. Daher finde ich die Worte von Johan Galtung sehr unangebracht.

Scholl: Wie sind die Verbrechen von Oslo zu begreifen? Das war der Schriftsteller Erik Fosnes Hansen. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Hansen!

Hansen: Bitte sehr!


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