Schriftkultur

Der Streit am Esstisch über Bücher

Studenten der Freien Universität Berlin betrachten am Freitag (22.06.2012) in der Alten Synagoge Erfurt das Faksimile einer Thorarolle aus dem 13. Jahrhundert. Unter Leitung von Annett Martini (M) erforschen sie die mittelalterlichen hebräischen Handschriften der früheren jüdischen Gemeinde Erfurt. Die Schriftensammlung war bis zu einem Pogrom 1349 im Besitz der jüdischen Gemeinde. Die Alte Synagoge ist nach ihrem Wiederaufbau seit 2009 Museum.
Faksimile einer Thorarolle aus dem 13. Jahrhundert in der Alten Synagoge in Erfurt © picture alliance / dpa / Foto: Michael Reichel
Von Evelyn Bartolmai · 18.01.2014
Die israelische Historikerin Fania Oz-Salzberger hat mit ihrem berühmten Vater Amos Oz über die besondere Bedeutung von Büchern im Judentum geschrieben. In Israel hat das Werk bereits für einigen Aufruhr gesorgt.
Auch andere Völker haben Worte und Sprachen, in denen sie Wissen, Weisheit und Literatur verfassen - wer wüsste das besser als die Historikerin Fania Oz-Salzberger, deren Fachgebiet die "Buchgeschichte" ist. Doch kein anderes Volk, so ihre feste Überzeugung, hat eine derart besondere Beziehung zum Wort wie das jüdische, und der Beginn dieser Beziehung reicht weit in die Geschichte zurück:
"Schon im Jahre 500 vor der Zeitrechnung, also seit mittlerweile etwa rund 2.500 Jahren, hatten die Juden einen Bücherbestand, der zwar bis heute ständig größer wird, aber immer denselben festen Kern hat, der aus dem Tanach, also der hebräischen Bibel, der Mischna und dem Talmud besteht. Und nicht nur, dass es diesen festen Buchbestand gab - so etwas hatten auch die Römer, die Griechen oder die Ägypter, die Chinesen und später auch die europäischen Völker. Sondern diese Bücher selbst sagen uns, wie wir sie lesen sollen, und sie geben uns schließlich auch die Anweisungen, wie wir sie unseren Kindern weitergeben sollen. Das betrifft die Bibel ebenso wie die Mischna und den Talmud. Die Römer hatten so etwas nicht, obwohl sie herrliche Bücher geschrieben haben, aber heute stehen sie im Regal und verstauben, weil es keinen einzigen römischen Vater mehr gibt, der seinen Sohn lehrt, diese Bücher zu lesen. Und warum nicht? Weil die Bücher selbst eben nicht gesagt haben, 'ihr sollt sie eure Kinder jeden Schabbat und an jedem Feiertag lehren'. Die jüdische Bibliothek hingegen hatte diese Anweisungen schon in den Büchern selbst, dass und wie sie im Kreis der Familie zu lesen sind."
Nicht, dass es in biblischen Zeiten bereits das Genre der Kinderliteratur gegeben hätte, dieses ist in der Tat ein Erfindung der Neuzeit. Nein, die Kinder wurden direkt und ungefiltert mit den Geschichten der Bibel konfrontiert, was aus heutiger Sicht seltsam und ungewöhnlich anmuten mag - von dem Autoren-Duo Oz-Salzberger und Oz jedoch so erklärt wird:
Zitat: "Manche Aspekte jüdischer Sensibilität liegen nicht im Bereich der Psychologie, sondern finden sich auf den verschlungenen Pfaden der Kreativität, des intellektuellen Vermächtnisses und des kulturellen Durchhaltevermögens."
Ab drei Jahren lernten Jungen lesen und schreiben
Und so begleitet das Repertoire der uralt-traditionellen Bücher nicht nur das gebot, die Geschichten den Söhnen zu erzählen, sie also mündlich weiterzugeben, sondern zugleich der Imperativ, die Kinder, und in den alten Zeiten sind damit wiederum nur die Söhne gemeint, auch Lesen und Schreiben zu lehren:
"Jeder jüdische Junge musste seit mindestens etwa dem Jahr 500 vor der Zeitrechnung ab dem Alter von drei Jahren lesen und schreiben lernen. Auch ich habe übrigens in diesem Alter angefangen. Wir haben keine historischen Berichte über jüdische Analphabeten, weil es die einfach nicht gab! Bei Frauen war es etwas anders, sie kannten aber zumindest auch die Buchstaben, jedoch unter Männern gab es mit Sicherheit keine Analphabeten. Als ganz kleine dreijährige Knirpse schon mussten sie das Haus verlassen und in den Cheder zum Rabbi gehen und lernen. Aber auch zu Hause, und das ist ein wichtiger Punkt, gab es immer Texte auf dem Tisch. Sie wurden am Schabbat, zu Feiertagen und zu jeder besonderen Gelegenheit deklamiert, vor allem die Kinder haben aufgesagt und vorgetragen, was sie vom Rabbi gelernt hatten. Das heißt, jede jüdische Familie und in jeder Generation war auch des Lesens kundig. Sie beherrschten nicht nur das Alphabet, sondern sie kannten auch die Bücher auswendig und wussten, was darin geschrieben stand."

Ein Chasside und sein kleiner Sohn beten in einem Gebetshaus in der Nähe des Grabes von Rabin Nachman in der kleinen ukrainischen Stadt Uman.
Schon in jungen Jahren lernen jüdische Kinder den Umgang mit Texten.© picture alliance / dpa / epa Sergey Dolzhenko
Wenngleich die Frauen nicht verpflichtet waren, in die Synagoge zu gehen und dort zu beten, so hieß das dennoch nicht, dass ihr Part sich allein auf Haus und Küche beschränkte. Auch das ist eine Besonderheit jüdischer Bindung an das Wort, dass diese Liebe in der Tat immer auch durch den Magen ging und bis heute geht und Teil der Vermittlung wurde:
"Genau, über das Essen, für das die Mütter zuständig waren, aber auch die Mütter lehrten die Kinder lesen und schreiben, das sie ja auch beherrschten, mehr als nur das Alphabet, bis in die Moderne. Und wenn es ein kluges Mädchen zu Hause gab, dann lernte sie natürlich auch lesen und schreiben, ohne zum Rabbi zu gehen. Und das ist der Unterschied zwischen einer Kultur, die das Buch gleichsam auf den Küchentisch der Familie legte, zu allen anderen Kulturen, egal ob griechisch, römisch, Islam, Christentum, bis zum Beginn der Moderne. Bei allen anderen gehörten die Bücher nur den Männern, in der Kirche, in der Moschee, in den Universitäten. Bücher waren nicht zu Hause und nicht bei Frauen und Kindern. Bei den Juden dagegen fand sich die Bibel nicht nur in der Synagoge, sondern immer neben dem Essen auch auf dem Familientisch. Essen und Bücher - das funktioniert bei Kindern bestens zusammen! Bis heute fordere ich meine Kinder auf, mit einem Buch an den Tisch zu kommen – wobei sie heute allerdings nicht mehr mit dem Buch, sondern mit dem iPad kommen."
Bücher gehörten auf den Küchentisch
Was anderswo ja durchaus ein Grund für hässlichen Streit wäre - am jüdischen Tisch vor allem auch deshalb nicht, weil der Streit zur Kommunikation dazugehört. Nicht als rechthaberisches Gezänk, sondern als Rede und Widerrede, wie Fania O-Salzberger erklärt. Schon als kleines Mädchen, erinnert sie sich, habe sie mit ihrem Vater zunächst über Kinderbücher gestritten, und dabei auch jene Fähigkeit erlebt und selbst erlernt, die sie heute als die "jüdische Kultur des Streites" bezeichnet und die Form beschreibt, wie ein Text tradiert, andererseits aber auch von jeder Generation neu aufgenommen wird und auch angenommen werden kann. Eine Methode, nach der selbstverständlich nun auch das gemeinsame Buch mit dem Vater entstanden ist:
"Deswegen ist es ja auch so authentisch, denn es entstand aus der Debatte, und wir haben ein weiteres Mal erfahren, dass ein gutes Gespräch, ein guter Streit vielleicht das größte Vergnügen im Leben ist. Auf jeden Fall das größte Vergnügen zwischen Eltern und Kindern, und ich kann mir schwer etwas Besseres vorstellen zwischen Eltern und Kindern als ein gutes Gespräch, das ja zumeist auch eine gute, weil wohlmeinende Kritik ist."
Zitat: "Von der Bibel bis zu Bühnenkomikern - jüdische Literatur zeigt eine stete Vorliebe für Widerrede, die respektlose Antwort, die Chuzpe. Und diese redselige Respektlosigkeit gründet in einem zur ständigen Gewohnheit gewordenen rationalen, wenngleich durchaus emotionalen Grübeln und einem tiefen Empfinden für die Bedeutung von Worten."
"Streit also im Sinne einer Diskussion und nicht als quasi religiöses Dogma, welches den Kindern formal und als unumstößlich eintrichtert, was im Tanach steht oder der Rabbi sagt. Oder, was im Christentum den Kindern über den Katechismus vermittelt wird, was zwar wie Fragen aussieht, aber nicht wirklich Fragen sind. Unsere Streitgespräche hingegen folgen bis heute dem Prinzip, nichts akzeptieren zu müssen. 'Ich habe das Buch gelesen und ich habe Recht' - 'nein, ich habe Recht, denn ich habe das Buch auch gelesen' - nicht so, sondern zu hinterfragen, worauf sich der Mitstreiter bezieht. Vielleicht meint er ja etwas ganz anderes? Vielleicht ist sein Argument ja gut, oder vielleicht auch schlecht? Wir sprechen also von einer Kultur, die Kinder von klein auf ermuntert, selbst zu lesen und schwierige Fragen zu stellen, und auch den Eltern widersprechen zu dürfen. Und diese Kultur, diese Polemik und die Textualisierung der familiären Beziehungen, all dies gehört zum Geheimnis des jüdischen Überlebens."
"Texte sind unsere Kathedralen"
Und ist auch eine Erklärung dafür, warum jüdische Kultur sich weniger in prächtiger Architektur, dafür seit Jahrhunderten umso mehr in bis heute faszinierender Literatur manifestiert:
"Texte sind unsere 'Kathedralen' oder auch unsere 'chinesische Mauer'. Bücher wie die Genesis, Jesaja, Kohelet, die Psalmen, das Hohelied, von dem wir sogar glauben, dass es zumindest teilweise von einer Frau geschrieben wurde - solche Bücher sind keineswegs Produkte einer barbarischen Dumpfheit, sondern vielmehr Ausdruck einer hoch entwickelten Zivilisation. Sie mag in der Architektur zwei linke Hände gehabt haben, und die Archäologen fördern in dieser Hinsicht ja in der Tat nicht allzu Pompöses zutage. Aber in der Literatur, Dichtkunst, Geschichte, Philosophie, nicht zuletzt und ganz besonders im Rechtswesen und in der Rechtsethik, da hatte diese Zivilisation mehr als nur ein rechtes Händchen und hat etwas geschaffen, von dem wir bis heute lernen können."
Zitat: "Es geht uns nicht um Steine, Stämme und Chromosomen. Man muss weder Archäologe noch Anthropologe oder Genetiker sein, um jüdische Kontinuität auszumachen und zu untermauern. Man muss kein orthodoxer Jude sein. Man muss überhaupt nicht jüdisch sein. Übrigens auch kein Antisemit. Nur ein Leser."
Obwohl keineswegs eine leichte Strand- oder Bettlektüre, ist das Buch "Juden und Worte" sehr interessant und auch vergnüglich zu lesen. Nicht minder spannend ist indes auch sein bisheriger Werdegang. Im Jahre 2012 erschien es als der in Englisch geschriebene Eröffnungsband der Posen Bibliothek für Jüdische Kultur und Zivilisation der Yale University Press in den USA. Dort wurde es vom Suhrkamp Verlag entdeckt und in einer ausgezeichneten Übersetzung von Eva-Maria Thimme und einem ebenso hervorragenden Lektorat durch Sophia Charlotte Fock im September in deutscher Sprache herausgebracht.
In seiner hebräischen Ausgabe wird das Buch Ende Januar nunmehr auch in Israel erscheinen, doch dank Internet und internationaler Vernetzung nicht nur der akademischen Welt hat es hierzulande bereits einigen Aufruhr ausgelöst. Das religiös-orthodoxe und politisch rechte Lager wirft den beiden Autoren vor, die Einzigartigkeit des jüdischen Volkes in Abrede zu stellen, und spricht ihnen, den säkularen Juden, überhaupt die Kompetenz in Sachen Jüdischkeit ab. “Hellenisiert” zu sein hieß vor 2000 Jahren, was sich heute im Vorwurf des Liberalismus artikuliert - beides seien Formen einer Assimilation, die unweigerlich im Verlust der Jüdischkeit ende.
Das religiös-orthodoxe und politisch rechte Lager ist aufgebracht
Die liberal-säkularen Israelis wiederum sehen in dem Buch ein "Loblied" auf die Bibel, das konservativen und gar nationalistischen Strömungen Vorschub leiste. Das Konzept eines "jüdischen Volkes", so die bekannte These von Shlomo Sand, sei ein Konstrukt des Zionismus und verkenne bewusst die Realität der heutigen "israelischen Nation". Beiden Vorwürfen widerspricht Fania Oz-Salzberger indes mit einer Definition, die nicht nur sehr jüdisch ist, sondern sich auch sehr fundiert und bestens in die gesellschaftliche Debatte um Jüdischkeit, Nation und Volk im modernen Israel einmischt:
"Doch, wir sind ein Volk, und es ist auch sehr alt. Aber es ist nicht ein Volk im Sinne von Blutsverwandtschaft, sondern durch und über seine Texte. Was uns mit den Juden der biblischen Zeit verbindet, sind keine Gene und ich weiß auch gar nicht, ob meine Gene jetzt von den Leuten aus der Bibel oder von den Kosaken oder den Chasaren abstammen, aber das ist mir auch egal. Was uns verbindet, ist die Textlinie, das literarische Band, wenn man so will. Wir sind das Volk der Texte, und keine genetische Ethnie, und als ein solches Volk der Texte sind wir sehr, sehr alt."