Schreibtischarbeit

"Ich lese ihre Geschichten niemals vor dem Übersetzen"

Moderation: Matthias Hanselmann · 10.12.2013
Bei ihrer Arbeit geht Heidi Zerning Seite für Seite vor - ohne das Ende zu ahnen. Sonst würde sie sich selbst und den Lesern die Spannung nehmen, meint die deutsche Übersetzerin der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro.
Matthias Hanselmann: Den Literaturnobelpreis für die kanadische Schriftstellerin Alice Munro wird heute ihre Tochter in Stockholm entgegennehmen, die 82-jährige Schriftstellerin kann die Reise nicht mehr selbst antreten. Heidi Zerning, geboren 1940 in Berlin, ist Alice Munros deutsche Stimme, sie übersetzt Munros Werke seit Jahren in Deutsche. Ich habe mich mit Frau Zerning vor der Sendung unterhalten und sie zunächst gefragt, wo sie eigentlich war, als im Oktober die Nachricht kam, dass Alice Munro den Nobelpreis bekommen wird.
Heidi Zerning: Da saß ich im Kino und habe mir genüsslich "Die andere Heimat" angesehen, und kam dann nach Hause und stellte fest, mein Anrufbeantworter muss kaputt sein, denn da stand: Sie haben 20 neue Nachrichten.
Hanselmann: Und Sie sind nicht bewusst in den Film von Edgar Reitz gegangen mit einer Länge von vier Stunden, weil Sie von vornherein wussten …
Zerning: Nein, überhaupt nicht, weil ich hab mir Mittwochabend gesagt, du kannst am Donnerstag tun, was du willst, sie bekommt ihn ja doch nicht.
Hanselmann: Das ist ja toll. Er war ihr ja auch schon mehrmals "angedroht" worden.
Zerning: Sie war lange im engeren Kreis, ja.
Hanselmann: Genau. Sie kamen also nach Hause, hatten den Anrufbeantworter proppevoll – was haben Sie dann getan? Den weggeworfen, oder …?
Zerning: Nein. Als ich dann anfing, das abzuhören, und mitkriegte, was los war, da hab ich erst mal Pause gedrückt und laut ausgerufen: Na endlich!
Hanselmann: Schön. Und dann haben Sie zugelassen, dass man sie anruft, von Journalistenseite.
Zerning: Na, ich hab die alle abgehört, und dann habe ich gewartet, wer ruft am nächsten Tag noch mal an. Gott sei Dank, niemand!
Hanselmann: Frau Zerning, Sie haben annähernd das gesamte Werk von Frau Munro übersetzt. Über zehn Bände mit Kurzgeschichten hat Alice Munro geschrieben. Seit wann übersetzen Sie Munro, und wie das angefangen?
Zerning: Ich übersetze Alice Munro, seit sie beim S.-Fischer-Verlag ist, – sie war ja vorher bei Klett-Cotta –, und zwar seit 1999. Also der erste Band in meiner Übersetzung, "Die Liebe einer Frau", ist im Jahr 2000 beim S.-Fischer-Verlag erschienen. Und von da an ging es weiter.
"Als Schülerin hatte ich mal eine sechs in Englisch"
Hanselmann: Ich habe nun aber gelesen, dass Sie früher in Englisch eine sechs hatten. Da bin ich wirklich stutzig geworden.
Zerning: Das war so. Der Verlobte der Englischlehrerin war Orgelbauer. Und in unserer alten Schule in der Sybelstraße war eine große Orgel. Und die hat der repariert, und das habe ich spitz gekriegt und mich jeden Nachmittag am Pedell vorbei in die Aula geschlichen und stundenlang Orgel gespielt und überhaupt sonst nichts mehr gemacht. Und das hat mir eine sechs in Englisch eingetragen, ja.
Hanselmann: Später ging es dann wieder bergauf, sonst wären Sie nicht Übersetzerin …
Zerning: Beim Abitur war ich dann ein bisschen besser. Da kriegte ich dann eine eins.
Hanselmann: Sehr schön. Frau Zerning, geben Sie uns einen kleinen Einblick in den Arbeitsalltag der Übersetzerin einer Literaturnobelpreisträgerin. Wenn, wie jetzt bei "Liebes Leben", dem neuen Buch von Alice Munro, das Buch in Englisch vorliegt, wie kommt es dann zu Ihnen? Als Fahne, gebunden, ruft der kanadische Verlag an – wie funktioniert das?
Zerning: Also, in dem Fall und im vorletzten war es auch der Fall, dass ich zuerst sogar das Computermanuskript von Alice Munro gekriegt habe, und dann erst die ersten Fahnen und dann die zweiten Fahnen und ganz am Schluss – also ich musste die Anfänge, die ich schon übersetzt hatte, sozusagen dreimal durchgehen auf Veränderungen, die inzwischen stattgefunden hatten. Am idealsten ist natürlich, wenn man vom fertigen Buch ausgehen kann, dann hat man damit keine Schwierigkeiten mehr.
Hanselmann: Und dann, nehme ich an, lesen Sie das Original erst mal in Ruhe durch und verschaffen sich einen kleinen Eindruck.
Zerning: Ich denke nicht daran. Ich habe ganz früh gemerkt – es handelt sich ja um Erzählungen, nicht um Romane, das ist natürlich eine ganz andere Herangehensweise. Es handelt sich um Erzählungen, die in sehr komprimierter Form geschrieben sind und die oft bei Alice Munro ganz am Schluss eine überraschende oder entscheidende Wendung nehmen. Und wenn ich die Erzählung vorher gelesen habe und also Bescheid weiß, wie es endet, dann – erstens nehme ich mir selber die Spannung und die Neugier, und zweitens kann es mir passieren, dass ich durch eine unfreiwillige Wortwahl etwas von diesem Vorwissen an den Leser weitergebe, und das darf natürlich gar nicht sein. Das heißt, ich gehe genauso naiv und spannungsgeladen heran wie jeder Leser.
Hanselmann: Also in Krimi-Terminologie gesagt, der Mörder würde eventuell schon aus Versehen vorher verraten werden.
Zerning: So ist es.
Alice Munro
Die Autorin Alice Munro hat die deutsche Übersetzerin nie persönlich getroffen© dpa / pa
Hanselmann: Ja, aber trotzdem. Sie könnten sich doch einen gewissen Eindruck machen davon, wo die Geschichte langgeht, in welchem Ambiente sie spielt und so weiter. Hilft das nicht auch beim Übersetzen?
Zerning: Das sind besonders die ersten beiden Seiten, auf die es dann ankommt. Und die werden auch am häufigsten überarbeitet. Noch mal und noch mal und noch mal und noch mal, bis der Einstieg in die Geschichte stimmt. Das kommt dann als Nachbereitung. Also das ist nicht der erste Arbeitsgang, sondern der zweite, dritte und vierte.
Hanselmann: Also Sie würden so weit gehen, zu sagen, dass Ihre Übersetzung besser wird, wenn Sie das Buch vorher nicht kennen?
Zerning: Wenn ich die Erzählung vorher nicht kenne, ja. Ausnahmsweise.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton. Ich spreche mit Heidi Zerning, sie ist seit vielen Jahren die Übersetzerin der Werke von Alice Munro, die mit inzwischen 82 Jahren den Literaturnobelpreis 2013 erhalten hat. Heute nimmt ihre Tochter den Preis stellvertretend für sie in Schweden entgegen. Frau Munro selbst will aus gesundheitlichen Gründen Kanada nicht verlassen, hat aber ein Video geschickt, in dem sie wohl mit viel Selbstironie, wie ich gelesen habe, über ihr Leben als Schriftstellerin redet. Frau Zerning, haben Sie Alice Munro jemals kennengelernt?
"Munro lebt zurückgezogen und braucht ihre Privatsphäre"
Zerning: Nein, nie persönlich. Ich weiß, dass sie sehr zurückgezogen lebt und auf ihre ungestörte Privatsphäre großen Wert legt. Und ich käme mir sehr aufdringlich vor, da sie persönlich behelligen zu wollen. Außerdem hat sich Gott sei Dank nie die Gelegenheit ergeben, dass ich ihr eine Frage, eine inhaltliche Frage oder Verständnisfrage stellen musste.
Hanselmann: Deutschland ist ein großes Land, ein großer Absatzmarkt auch für die Werke von Alice Munro. Kennt sie wenigstens Ihren Namen? Kennt sie ihre deutsche Übersetzerin?
Zerning: Ich hab keine Ahnung.
Hanselmann: Hätten Sie Lust, sie mal kennenzulernen.
Zerning: Das muss gar nicht sein. Wissen Sie, ich unterscheide zwischen der schreibenden Person und der Privatperson. Und die schreibende Person Alice Munro, die kenne ich nun nach fast 14 Jahren sehr, sehr gut.
Hanselmann: Waren Sie denn wenigstens öfter mal in Kanada, um das Land und die Leute kennenzulernen, um die es in Munros Erzählungen geht?
Zerning: Leider auch noch nie.
Hanselmann: Haben Sie was mit Karl May gemeinsam? Mir scheint es fast so. Brauchen Sie das nicht?
Zerning: Eigentlich nicht, nein. Ich meine, die Landschaften und die Örtlichkeiten sind bei ihr so bildhaft und so plastisch beschrieben, dass ich mich da vollkommen hineinversetzen kann und hoffentlich es auf Deutsch auch so rüberbringe, dass die Leser sich hineinversetzen können.
Hanselmann: Der Bestsellerautor Jonathan Franzen hat über Munros Schreibstil gesagt: "Sie schafft auf 30 Seiten, wofür ich 800 brauche."
Zerning: Ja.
Hanselmann: Ich hab den Mann gelesen, ich finde, er hätte sich auch manchmal etwas kürzer fassen können. Alice Munro schreibt sehr knapp, sehr direkt. Eine Kurzgeschichte umfasst manchmal ein ganzes Leben. Wie gehen Sie als Übersetzerin mit diesem Schreibstil um?
Zerning: Entscheidend ist, und deswegen sind ihre Erzählungen für mich auch als Übersetzerin so reizvoll, in vielen Erzählungen spielen verschiedene Zeitebenen eine große Rolle. Ein Teil der Erzählung spielt im Jetzt, dann springt die Erzählung zurück in einen Zeitraum vor 40 oder 30 oder noch mehr Jahren und wieder zurück ins Heute. Und sie, Alice Munro, vermag sehr, sehr genau die Atmosphäre der jeweiligen Zeit heraufzubeschwören, und das ist für mich als Übersetzerin, die ich auch noch die Sprache der 70er-, der 60er- und der 50er-Jahre im Ohr habe, natürlich besonders reizvoll.
Hanselmann: Wie würden Sie denn ihren Schreibstil beschreiben?
Zerning: Mir fällt eigentlich nichts Besonderes dazu ein. Ich finde ihn eigentlich unauffällig, sehr einfühlsam, sehr differenziert, aber mit keinerlei stilistischen Besonderheiten.
Hanselmann: Wie arbeiten Sie ganz konkret? Wie erfassen die englischen Wörter und ihre deutsche Bedeutung. Auch mit welchen Hilfsmitteln?
Zerning: Ich habe haufenweise Lexika zu Hause und schlage lieber dreimal zu viel nach als einmal zu wenig. Nicht, um mich der Bedeutung zu vergewissern, das auch oft – liege ich wirklich richtig? Aber auch oft, um Anregungen zu erhalten und dann dadurch noch auf ein anderes, passenderes deutsches Wort zu kommen, was nicht im Lexikon steht.
Hanselmann: Weil ja gerade im Englischen ein Wort oft sehr viele verschiedene Bedeutungen haben kann …
Zerning: So ist es. Es gibt ganz fürchterliche Wörter, vor denen jeder Übersetzer immer zusammenzuckt, wenn sie auftauchen. Das bekannteste davon ist das Wort "mind". Das ist ganz schrecklich.
Hanselmann: Geist, Sinn, Verstand – was auch immer alles dahintersteckt. Und dann schreiben Sie das Ganze wahrscheinlich sofort in den Computer?
"Mein Kopf braucht Papier, Bleistift und Radiergummi"
Zerning: Um Gottes willen! Leider habe ich einen sehr altmodischen Kopf, der am Computer überhaupt nicht funktioniert. Mein Kopf braucht Papier, Bleistift und Radiergummi. Also, ich schreibe es erstmal im Bleistift-Manuskript hin und habe dann die sehr unangenehme Aufgabe, das alles in den Computer reinfüttern zu dürfen, aber das ist noch mal ein Arbeitsgang, bei dem ich auch natürlich gleich Änderungen vornehme unter Umständen.
Hanselmann: Auf die Gefahr hin, dass ich schon wieder baden gehe mit meiner Vermutung: Sie benutzen wahrscheinlich das Internet? Es gibt ja viele Möglichkeiten, dort auch Sinne zu erfassen, Geschichten zu recherchieren und so weiter.
Zerning: Ich habe Gott sei Dank gute Freunde, die, wenn etwas mal im Internet recherchiert werden muss, mir dann helfen. Ich selbst habe keinen Internetanschluss und auch kein E-Mail und bin froh und dankbar dafür.
Hanselmann: Tja. Als digitalisierter Mensch der heutigen Zeit kann man sich gar nicht vorstellen mehr, dass da eine vernünftige Übersetzung herauskommen kann, mit Verlaub. Das neue Werk von Alice Munro heißt "Dear Life", "Liebes Leben" als Anrede. Sie haben es mit "Liebes Leben" übersetzt, das ist ja im Deutschen doppeldeutig, und im Englischen nicht.
Zerning: Der Titel eines Buches hängt nicht allein von mir ab, sondern der wird im Grunde genommen vom Verlag vorgegeben. Also das ist eine Verlagsentscheidung, die auch natürlich entscheidend mit Ansprechgründen – wie spricht dieser Titel die Leute an, wie verkauft sich dieser Titel –, mit solchen Gründen zu tun hat.
Hanselmann: Sie haben gerade sehr anschaulich beschrieben, wie der konkrete Prozess des Übersetzens bei Ihnen abläuft, mit Bleistift, Radiergummi und so weiter. Wo ist da die Kontrolle? Wer checkt sozusagen gegen, was Sie schreiben?
Zerning: Ich habe natürlich einen Lektor oder eine Lektorin im Verlag, die den Text sehr gründlich, auch im Vergleich zum Original durcharbeitet und mich dann, wenn es notwendig ist, hoffentlich immer ertappt.
Hanselmann: Frau Munro hat angekündigt, dass "Liebes Leben" ihr letztes Buch ist. Was denken Sie darüber?
Zerning: Ich glaube, dass sie es diesmal richtig angekündigt hat. Sie hat ja vor, ich glaube, drei Jahren oder so, schon mal angekündigt, dass sie jetzt aufhören wird zu schreiben. Dann hat sie aber festgestellt, wenn sie nicht schreibt, wird sie verrückt. Also hat sie Gott sei Dank weitergeschrieben. Aber ich fürchte, diesmal stimmt die Ankündigung, und das wird sicherlich das letzte große Buch mit einer Sammlung, mit einem Strauß von Erzählungen sein. Es kann vielleicht sein, dass sie noch die eine oder andere Erzählung schreiben wird, aber ich denke, einen so großer Band wie dieser letzte, mit 14 Erzählungen wird es nicht mehr geben.
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