"Schreiben ist so ähnlich wie eine Beziehung führen"

Moderation: Britta Bürger · 11.09.2012
Die Bücher des britischen Autors David Mitchell zeugen von unglaublicher Fantasie und einem reichen historischen Wissen. Was ihn am Schreiben fasziniert und warum sein neuer Roman in Japan spielt, verrät er im Interview.
Britta Bürger: Der britische Schriftsteller David Mitchell sprengt die Grenzen von Raum und Zeit. In seinem Roman "Der Wolkenatlas" hat er die Schicksale von sechs Menschen miteinander verwoben, die sich in unterschiedlichen Zeiten ereignen. Zum Teil in der Vergangenheit, zum Teil in der Zukunft. Von Episode zu Episode wechselt Mitchell jedoch nicht nur die Zeitebenen, sondern auch das Genre. Gerade hatte die Verfilmung des Buches von Tom Tykwer beim Filmfestival in Toronto seine umjubelte Weltpremiere. Und David Mitchell, der hat schon wieder nachgelegt und einen neuen 700-Seiten-Roman vorgelegt, "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet". Diesmal ist es ein historischer Roman, angesiedelt in Japan um 1800.

Ich hatte die Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch mit David Mitchell und habe ihn gefragt, wie er auf diesen japanischen Schauplatz und diese Zeit gekommen ist.

David Mitchell: Nun, Dejima ist ein Teil von Nagasaki und ich bin da zufällig gelandet, weil ich kein Japanisch lesen konnte. Ich wollte eigentlich ganz woanders hin, mehr so nach Chinatown, aber ich habe einen Fehler gemacht in den Buchstaben und landete dann dort in Dejima. Und das war 1994, das war, bevor ich ein anerkannter Schriftsteller wurde, aber ich wusste, eines Tages werde ich das wieder aufgreifen. Das ist eine gute Story, und sie ist mir im Hinterkopf geblieben.

Bürger: Und was bedeutet diese künstliche Insel, dieser Ort für Sie?

Mitchell: Dejima ist etwas kulturell ganz Besonderes in Japan, weil man muss sich das vielleicht so ein bisschen vorstellen wie mit Nordkorea, wo es ein Verbot gab, überhaupt hinzufahren. Und Dejima war etwas, wo man etwas über Japan erfahren konnte. Es war die einzige Art und Weise, Informationen über Japan zu bekommen. Aber es funktionierte auch in die andere Richtung: Es war auch der einzige Ort, über den Informationen aus Europa nach Japan gedrungen sind. Wo man etwas erfahren hat über die Dinge, die in Europa geschehen sind wie Napoleon oder die großen Erfindungen. Und dieses zweiseitige Tor, was in beiden Richtungen funktioniert hat, das war etwas, was mich fasziniert hat. Und auch das seltsame Leben, was die Leute dort geführt haben.

Bürger: Sie haben ja selbst viele Jahre in Japan gelebt, haben in Hiroshima Englisch unterrichtet, sind mit einer Japanerin verheiratet, Sie haben also ganz konkrete Erfahrungen mit den verschiedenen Perspektiven auf die Geschichte, insbesondere eben auf den kulturellen Wandel im Zeitalter des Kolonialismus. Was ist Ihr Anliegen jetzt mit diesem Buch, das ja ein Ideenroman genannt wird? Welche Fragen haben Sie bei der Entwicklung dieser Geschichte angetrieben?

Mitchell: Der Osten ist faszinierend, der Westen ist faszinierend. Es war einfach so ein Ort, wo sich das getroffen hat, wo es diesen kulturellen und politischen Austausch gegeben hat, auch militärischen. Und heute gibt es einen sehr wirtschaftlichen Austausch zwischen dem Osten und dem Westen, und Dejima war einfach dieser Ort, wo der Westen und der Südosten aufeinandergetroffen sind, und das 240 Jahre lang. Wie kann das nicht unglaublich spannend sein?

Bürger: Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler schreibt, Sie hätten in dem Buch das große Thema des Clash of Civilizations auf kühne, originelle und meisterliche Art durchdekliniert. Sie spricht eben von Clash wieder und nicht von Meeting. Sehen Sie sich denn als so eine Art Kulturvermittler?

Mitchell: Ja, man benutzt dieses Wort Kampf, also Clash im Englischen schon sehr oft und man meint damit natürlich den Aufprall eines Schwertes auf ein Schild. Aber das hat noch etwas mit der Kolonialzeit zu tun. Das hat etwas Gewalttätiges, und ich finde es viel spannender, wenn es nicht direkt um kriegerische Auseinandersetzungen geht, sondern wenn sich die Kulturen imprägnieren, sich gegenseitig befruchten wie die Finger von zwei Händen, die miteinander verschmelzen. Das halte ich für viel interessanter.

Und was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, ob ich ein Mittler der Kulturen bin, würde ich sagen: Ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn das so ist. Wenn ich das Wissen, das man in Westeuropa über Japan hat, ausbauen könnte. Und umgekehrt ist es auch so, wenn die Japaner, die das Buch lesen, etwas mehr über die Briten und über die Niederländer erfahren, dann wäre ich sehr glücklich. Aber ich bin nicht derjenige, der das beurteilen kann. Ich sehe mich nicht als der große Vermittler, aber wenn mein Buch einen bescheidenen Teil dazu leisten kann, ja, dann bin ich sehr froh.

Bürger: Der britische Schriftsteller David Mitchell ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Sie leben, Herr Mitchell, mittlerweile mit Ihrer Frau und zwei Kindern in Irland. Wie müssen wir uns die Schreibstube des David Mitchell vorstellen?

Mitchell: Nun, ich schreibe in einer Hütte am Ende meines sehr, sehr langen Gartens, und wenn ich da rausschaue, dann sehe ich, wie ich meine Kinder mal wieder den Gemüsegarten zertrampelt haben, aber ich sehe auch einen Teil des Meeres. Also es hat etwas Häusliches, und es hat eben auch etwas, ja, etwas Natürliches.

Bürger: Wie ordnen Sie all die Assoziationen und Details, die sie sammeln? Gerade auch für das neue Buch war das ja eine akribische historische Recherche. Wie ordnen Sie das alles, um so komplexe Bücher am Ende schreiben zu können und dieses Material auch zur Verfügung zu haben?

Mitchell: Wenn ich etwas suche, verlasse ich mich auf meinen Instinkt. Da gibt es dann Dinge, von denen ich annehme, dass sie mal wichtig werden könnten, und da sind es dann Daten oder Fakten, die ich gesammelt habe, von denen ich mir ziemlich sicher bin, dass sie noch mal eine Bedeutung haben werden.

Ich fülle in erster Linie erst einmal Notizbücher. Ich habe mehrere Notizbücher, ich schreibe noch auf Papier. Und aus dieser Fülle entsteht ein gewisses Reservoir, und aus diesem Reservoir fische ich dann sozusagen und angle mir das, was ich brauche und bringe es dann vielleicht auch in eine Form und lerne aber erst einmal 1001 Dinge über die Zeit von damals, von vor 200 Jahren, und war mir lange noch nicht sicher, welche Form es letztendlich haben würde. Und habe erst einmal nur gelesen. Und dann so ganz langsam haben sich Dinge herauskristallisiert, Fakten, kleine Geschichten und Dinge, die ganz besonders lecker waren, die ganz besonders schmackhaft waren. Die habe ich doch dann zusammengefügt zu einem Festessen.

Und in dem Fall war es vielleicht doch eher so, dass ich nicht das Buch gemacht habe, sondern dass ich es in irgendeiner Form gefunden habe. Manchmal findet man eher etwas, als dass man es wirklich herstellt. Manchmal ist es auch genau umgekehrt, da macht man dann etwas, da stellt man es dann her.

Aber natürlich ist das eine großartige Frage, die darauf zurückwirft: Wie schreibt man? Wie funktioniert Schreiben? Und ganz ehrlich, das ist eine Frage, da weiß ich immer noch nicht ganz die Antwort drauf, da lerne ich immer noch dazu. Und für mich ist das beim Schreiben wirklich die größte Frage. Ich weiß es noch nicht, aber ich lerne immer wieder dazu.

Schreiben hat immer ganz viel mit Entscheidungen zu tun, die man zu treffen hat. Millionen von Entscheidungen. Und einige sind vielleicht molekular, ganz winzig. Also als ein englischsprachiger Schriftsteller muss ich mich dafür entscheiden, benutze ich nun das Wort "maybe" oder "perhaps"? Beide drücken das gleiche aus, aber ich weiß ganz genau, wann ich eher "maybe" sagen möchte und wann ich vielleicht "perhaps" sagen möchte.

Und das ist vielleicht jetzt nur ein kleines Beispiel. Es gibt natürlich auch größere Entscheidungen, die getroffen werden müssen, zum Beispiel siedele ich mein Buch jetzt zur Zeit Napoleons an oder vielleicht 100 Jahre früher. Und das sind letztendlich aber auch Entscheidungen, die einem nicht immer bewusst sind. Das ist wie so eine Spitze des Eisbergs, und bei vielem weiß ich nicht genau, warum ich mich dafür entschieden habe. Das ist ähnlich wie bei Beziehungen. Eine Beziehung ist ja auch eine lange Kette von Entscheidungen, die man zu fällen hat, aber - ja, vielleicht ist Schreiben dann auch so was Ähnliches.

Bürger: In Ihrem früheren Roman, "Der Wolkenatlas", da haben Sie uns ja auch in ganz fremde Welten geführt. Allerdings haben Sie damals ganz verschiedene Biografien an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten miteinander verwoben, sechs Leben, verteilt auf 1000 Jahre, ein Verfahren, das regelrecht nach Kino schreit. Und das ist ja jetzt auch geschehen, Tom Tykwer und die Geschwister Wachowski haben den "Wolkenatlas" verfilmt, gerade umjubelt die Weltpremiere am Sonnabend in Toronto. Waren Sie bei den Vorbereitungen dieses Films, waren Sie daran in irgendeiner Weise beteiligt?

Mitchell: Ich war nicht wirklich in diese Vorbereitung involviert. Es gibt ja drei Regisseure, Tom Tykwer und die Geschwister Wachowski, die alle sehr talentiert sind, die selber auch gute Bücher schreiben können und gute Drehbücher schreiben können. Die haben mich dafür nicht gebraucht, dass ich jetzt noch mal ein Drehbuch schreibe, aber sie waren freundlich und fair genug, mir ihr Drehbuch zu zeigen. Und sie wollten meine Meinung wissen. Und ich war sehr beeindruckt davon. Und für mich ist es eben die größte Ehre, dass sie mein Material genommen haben, um es neu zu interpretieren für den Film.

Sie haben sehr weise entschieden, das jetzt nicht zu werkgetreu zu verfilmen, sondern eben eine Neuinterpretation daraus zu machen. Und das ist jetzt auch ihr Projekt, und wenn dieser Film einen Erfolg hat, was ich ihnen wünsche, dann sind auch sie für diesen Erfolg des Films dann verantwortlich. Aber ich tauche in diesem Film auf, so wie Hitchcock, ich habe zwei kleine Auftritte. Man sieht mich etwa vier Sekunden in dem Film, also Sie können mich jetzt suchen.

Bürger: Kennen Sie all das jetzt nur aus dem Drehbuch oder haben Sie schon Teile oder den ganzen Film gesehen?

Mitchell: Also ich habe den Film gesehen. Noch vor einigen Wochen hier in Berlin.

Bürger: Und Sie strahlen.

Mitchell: I loved it, yeah. I am really happy.

Bürger: Der Schriftsteller David Mitchell. Thank you very much for being with us!

Mitchell: My pleasure. Thank you very much for having me in your program!

Bürger: Danke auch an Jörg Taszman für die Übersetzung. Das neue Buch von David Mitchell, "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet" ist, wie auch "Der Wolkenatlas", bei Rowohlt erschienen, und Tom Tykwers Verfilmung kommt am 15. November in die deutschen Kinos.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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