Schreckensfund im LKW

Von Monika Köpcke · 19.06.2010
Am 19. Juni 2000 warf ein furchtbares Unglück zumindest für kurze Zeit ein Schlaglicht auf das Drama der illegalen Einwanderung: Damals entdeckten britische Zöllner die Leichen von 58 Menschen, die versucht hatten, unentdeckt auf die Insel einzureisen.
Es war eine schreckliche Entdeckung, so der Polizeisprecher, die die Zöllner im Hafen von Dover in den frühen Morgenstunden des 19. Juni 2000 machten. Im Laderaum eines Lastwagens fanden sie zwischen umgestürzten Tomatenkisten 58 Leichen. Während der Fahrt über den Ärmelkanal waren die Menschen erstickt, weil das Kühlaggregat des Containers ausgefallen war. Der holländische Fahrer wurde sofort verhaftet und ein Jahr später wegen fahrlässiger Tötung zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt.

"Nummer 1: Tod beurkundet um 4.23 Uhr, asiatische Herkunft, männlich, braune Hosen, schwarzer Gürtel, blaue Socken, silberne Armbanduhr am linken Handgelenk, zwischen 18 und 30 Jahre alt, keine besonderen Merkmale."

Die Identifizierung der Toten war mühsam; keiner trug Papiere bei sich.

"Nummer 37: Tod beurkundet um 5.03 Uhr, asiatische Herkunft, männlich, rote Boxershorts, in der hinteren linken Tasche das Foto einer weiblichen Person, weißes T-Shirt, weiße Turnschuhe, zwischen 18 und 30 Jahre alt."

Anhand von Fotos, Fingerabdrücken und DNA-Proben entstand nach und nach das Bild einer Gruppe von 54 Männern und vier Frauen, alle Anfang bis Mitte 20, die sich vier Monate zuvor aus der chinesischen Provinz Fujian auf den Weg in den goldenen Westen gemacht hatte. In den Chinatowns der britischen Städte wollten sie Unterschlupf und Arbeit finden.

Durch Russland, die Ukraine, Tschechien, Deutschland und Holland führte ihre Odyssee, bevor sie am Abend des 18. Juni im belgischen Zeebrügge in den Frachtraum des Tomatenlasters kletterten. 30.000 Dollar hatte jeder von ihnen der Schlepperorganisation bezahlt, die ihre Reise minutiös durchgeplant hatte.

Dover gehört zu den größten Fährhäfen der Welt – ein riesiger Umschlagplatz von Waren und Menschen. Es gehört zum Alltag, dass hier illegale Einwanderer aufgegriffen werden, meist versteckt in den Lastwagen, die mit den Fähren aus Belgien, Frankreich oder den Niederlanden ankommen. Todesfälle gibt es immer wieder: Die Strapazen der Reise, Hitze, Sauerstoffmangel, unmenschliche Zustände in verriegelten Wagen übersteigen die Kräfte. Mit Bedauern, aber routiniert nimmt die Politik diese Dramen zur Kenntnis. Doch dieses Mal war das anders. Die schiere Zahl, 58 Tote, fuhr wie ein Donnerschlag in die europäischen Amtsstuben. Die Schuldigen waren schnell ausgemacht: Die Schleuser und Schlepper, wie nicht nur Großbritanniens Premierminister Tony Blair damals betonte:

"Der Vorfall unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es ist, diesen niederträchtigen Menschenhandel zu verhindern. Denn man versucht, Menschen heimlich und illegal in dieses Land zu schmuggeln. Deshalb haben wir im vergangenen Jahr Maßnahmen ergriffen, um diese Praxis auszumerzen."

Spürhunde, Radargeräte und Kohlendioxid-Detektoren werden seit 1999 bei der Durchsuchung der Fahrzeuge eingesetzt. Außerdem muss jeder Lkw-Fahrer, der beim Schmuggeln erwischt wird, 2000 Pfund Strafe für jeden Flüchtling bezahlen.

Unter dem Eindruck der 58 toten Chinesen beschlossen die europäischen Regierungschefs noch im Juni 2000, die europäische Polizeibehörde Europol verstärkt mit der Bekämpfung der Schleuserkriminalität an den Außengrenzen des Schengener Raums zu beauftragen. Dennoch steigt die Zahl der illegalen Einwanderer kontinuierlich. Schuld daran, darauf weisen viele Flüchtlingsorganisationen und Migrationsforscher hin, sei aber nicht die Schleuserkriminalität, sondern der Mangel an legalen Einwanderungsmöglichkeiten in die EU. Friedrich Burschel von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration betonte nach dem Unglück von Dover:

"Es geht hier um ein Problem der europäischen Abschottung und nicht um ein Problem von Schleppern und Schleusern. Es ist einfach auch ein Mythos zu glauben, dass die Menschen hier verführt werden, etwas zu tun, was sie nicht wollen. Es ist so, dass sie sich an die in den Herkunftsländern meist einschlägig bekannten Agenten wenden, um eine Dienstleistung zu bekommen, einen Transport nach Westeuropa zu bekommen. Dass es darunter Menschen gibt, die unverantwortlich damit umgehen und die Menschen in sklavengleiche Abhängigkeitsverhältnisse zwingen, ist überhaupt keine Frage. Aber das dürfte ein verschwindender Bestandteil dessen sein, was sich Tag für Tag an heimlicher Einreise in die EU abspielt."