Schöneberger Splitter (2)

Der Schulbeginn

Die Sternberg-Grundschule in Berlin-Schöneberg
Die Sternberg-Grundschule in Berlin-Schöneberg © Deutschlandradio/Maurice Wojach
Von Michael Wildenhain · 08.04.2015
Im "Originalton" dieser Woche erinnert sich der Autor Michael Wildenhain an Szenen seiner Kindheit in einem Kiez in Berlin-Schöneberg in den 1960er-Jahren. Dieses Mal geht es um ein Erlebnis in der Sternberg-Grundschule, die es noch heute gibt.
Schulbeginn. In der Schule, der Sternberg-Grundschule, sitze ich seit der ersten Klasse neben Frank Pallasch. Herr Kippke, der Klassenlehrer, hat eben erläutert, wie der Stundenplan der sechsten Klasse aussehen und welcher Lehrer uns in welchem Fach unterrichten wird, nun sieht er sich um und murmelt: "Erster Tag, zehn Minuten, lohnt nicht mehr – was habt ihr in den Ferien gemacht?"
Er schaut mich an und sagt, weil er weiß, ich werde mich nicht melden, nicht so rasch und niemals unvorbereitet: "Also, nun erzähl mal."
Ich studiere meine Handflächen. "Durchgeturnt", meinte unser Trainer, während er mich anblickte, als müsse ich darauf stolz sein. Ich möchte sagen: Ich habe Reck geturnt. Ich zögere und wünsche mir, ich säße vor einer Mathematikarbeit. Man muss sich weder melden noch reden, und bei jeder Aufgabe gibt es nur eine Lösung.
Während ich meine Hände betrachtete und merke, wie das Schweigen meiner Mitschüler die Stille im Klassenraum verändert, fällt mir ein, wie ich mit meinen Eltern am ersten Tag der Osterferien einen Ausflug unternommen habe.
"Wir begrüßen den Frühling", hat mein Vater gesagt.
"Ich war mit meinen Eltern im Zoologischen Garten."
Ich spreche leise. Neben mir stiert Pallasch zur Tafel.
An der Art, wie einige kichern, kann ich die Genugtuung spüren, die sie wegen meiner Unsicherheit empfinden.
Während ich fühle, wie meine Hände kalt werden, füge ich hinzu: "Im Zoologischen Garten. Um den Frühling zu begrüßen."
Zu verblüfft, um zu lachen, bleibt die Klasse still.
"Den Frühling zu begrüßen?"
Herr Kippke mustert mich ungläubig. Ich bin ihm dankbar, dass er das Scharren der Schuhe unterbindet, indem er fragt: "Und welche Tiere habt ihr gesehen?"
Die Sternberg-Grundschule in Berlin-Schöneberg
Noch immer trägt die Sternberg-Grundschule den alten Namen, sie liegt direkt neben dem Funkhaus vom Deutschlandradio Kultur in Berlin-Schöneberg.© Deutschlandradio/Maurice Wojach
Tiere.
Warum Tiere?
Ich denke an das Pflanzenhaus, an Orchideen, tropische Gewächse, an fleischfressende Blüten, an Knospen, erste Blätter, an einen Teich mit einer Brücke –
"Goldfische", antworte ich.
Die neuerliche Stille kommt mir bedrohlich vor.
"Goldfische."
Ich bemerke, wie Pallasch sein Gesicht, als wolle er mir Zeichen geben, zu einer Grimasse verzieht, während er mit den Lippen ein Wort formt.
Ohne zu verstehen starre ich Pallasch an.
"Goldfische", sage ich leise.
"Im Zoo?"
Herr Kippke runzelt die Brauen. "Du meinst ...?"
"Goldfische. Viele."
Während Pallasch wispert: "Du warst in diesem anderen Dings, dem mit den Pflanzen", und während ich darauf wartete, dass das Lachen der Klasse über mich hinweggeht und ich mit kalten Händen und glühendem Gesicht darin verschwinde, wiederhole ich: "Goldfische. Im Zoologischen Garten. Einen ganzen Teich."
Michael Wildenhain ist der Sohn eines Schlossers und einer Erzieherin. Er wuchs in West-Berlin auf. Nach dem Abitur absolvierte er ein Praktikum als Maschinenbauer und studierte anschließend u.a. Informatik, Philosophie, Mathematik und Wirtschaftsingenieurwesen. Er übte diverse Hilfsjobs aus und gehörte in den frühen 80er-Jahren zwei Jahre lang zu einer Gruppe jugendlicher Hausbesetzer in Berlin. Seit 1987 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Er ist Verfasser von Romanen, Erzählungen, Gedichten, Theaterstücken und Jugendbüchern. Wildenhains jüngster Roman "Das Lächeln der Alligatoren" stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015.
Der Schriftsteller Michael Wildenhain
Der Schriftsteller Michael Wildenhain© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Mehr zum Thema