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Von Stefan Wurzel · 10.10.2013
Einen Großteil ihrer Literatur kaufen Chinesen digital - und gerade Fan-Ficton, bei der die Leser mitschreiben können, ist dort ein großes Geschäft. Die Autoren müssen dafür unter ständigem Zeitdruck neue Texte produzieren - und wer nicht dran bleibt, verliert Leser und Geld. Deshalb wird geschrieben, was der Leser will.
Morgens in der Pekinger U-Bahn. Dichtgedrängt stehen die Menschen in der Linie 1, die einmal quer durch die Stadt fährt. Fast jeder starrt auf das Display seines Handys, liest Textnachrichten, Kurznachrichten auf Weibo, dem chinesischen Pendant zu Twitter – oder gleich ganze Bücher auf dem Smartphone. So wie die 36-jährige Lui Ping.

"Ich mag vor allem Liebesgeschichten. Love Stories mit ganz unterschiedlichem Hintergrund – entweder zeitgenössisch oder irgendwo im alten China angesiedelt. Es werden auch viele Fantasy- und historische Romane angeboten. Aber die Liebesgeschichten gefallen mir persönlich am besten."

Liu Ping arbeitet in einem großen Internet-Konzern. Sie hat schon als Kind gerne gelesen und später als Jugendliche die chinesische Übersetzungen von britischen Autoren des 19. Jahrhunderts verschlungen: Jane Austens "Stolz und Vorurteil" etwa. Bis heute ist Liu eine echte Leseratte. Nur: In einem Buchladen war sie schon seit Jahren nicht mehr. Ob Hardcover oder Taschenbuch - alles zu teuer und zu unbequem, sagt sie. Liu liest nur noch auf ihrem Handy.

"Ich benutze die Lese-Software, die mein Handy-Anbieter bereitstellt. Oder die Software großer Internet-Konzerne wie ‚Ten Cent‘. Das ist billig. Pro Buch zahle ich dann 30 oder 40 Cent."

Eigene Literaturszene im Internet seit Anfang der 90er-Jahre
Liu Ping gehört zu einer neuen Generation von Lesern in China, die dem traditionellen Buchmarkt mit seinen Verlagen und seiner starken Kontrolle durch die Behörden schon lange den Rücken gekehrt hat. Alle 580 offiziellen Verlage sind bis heute in staatlicher Hand, die traditionelle Literaturproduktion weiterhin stark reglementiert. Der Buchmarkt wird von Schul- und Lehrbüchern dominiert. Die Folge: Chinesen kaufen nicht viele Bücher. Im Schnitt gerade mal vier pro Jahr. Hingegen hat sich im Internet seit Anfang der 90er-Jahre eine eigene Literaturszene entwickelt.

In den Internet-Cafés der Volksrepublik wird wie hier in diesem Pekinger Netz-Treffpunkt weiterhin vor allem gespielt. In langen Reihen sitzen junge Leute vor den Bildschirmen und klicken sich durch immer neue Video-Spiele. Trotzdem boomt auch die Internet-Literatur wie noch nie. China hat rund 500 Millionen Internetnutzer. 200 Millionen von ihnen lesen auf dem Computer, über ein Viertel von ihnen nutzt meist nur noch das Handy um Bücher zu lesen. Tendenz steigend, sagt Sun Peng, Chef der Website Hong Xiu Tian Xiang, eine der populärsten Literaturseiten in China.

"Bis letztes Jahr haben die meisten unserer Nutzer noch auf dem Computer gelesen. Aber in der zweiten Hälfte des Jahres hat sich das verändert. Jetzt liest die Hälfte auf dem Handy. Heute gibt es Smartphones in China schon für rund hundert Euro. Das hat auch unser Online-Lese-Geschäft beflügelt.""

Die chinesische Online-Literatur geht über das reine Digitalisieren gedruckter Bücher weit hinaus. In der virtuellen Welt sind nicht nur neue Vertriebs-, sondern auch ganz neue Literaturformen entstanden, die es auch Amateuren erlauben zu Autoren zu werden, also sogenannte Fan-Fiction. Damit lässt sich in China viel Geld verdienen.

"Ständig Interaktion zwischen Autoren und Lesern"
Sun Pengs Webseite ist auf Bücher für Frauen spezialisiert. Auf der Seite dominieren die Farben rot und rosa, dazu – neben viel Werbung - romantische Musik. Angeboten werden keine Frauenbücher mit emanzipatorischem Anspruch, sondern Groschenromane fürs Internet. Geschichten von jungen Frauen auf der Suche nach dem Mann ihres Lebens. Die ersten Kapitel sind oft kostenlos, danach werden Mikro-Payments fällig, kleine Summen, die übers Handy abgebucht werden. Ein paar Cent für jedes weitere Kapitel oder für die nächsten paar tausend Wörter. Nur wer zahlt und registriert ist, kann auch die anderen Funktionen der Webseite nutzen und beispielsweise den Fortlauf einer Geschichte beeinflussen.

Sun Peng: ""Am Ende jeder Seite kann man Kommentare hinterlassen, die Leser können sich äußern; Autoren können Abstimmungen über den Fortgang der Geschichte starten. Es gibt ständig Interaktion zwischen Autoren und Lesern."

Die Größe des chinesischen Marktes macht diese Art des Publizierens zu einem lukrativen Geschäft. Die Klickraten sind enorm hoch. Die Volksrepublik bietet zwei zusätzliche Vorteile: Zum einen sind junge Chinesen mehr als andere bereit online und unterwegs zu lesen. Zum anderen erlaubt es die chinesische Sprache – in der jedes Schriftzeichen für ein ganzes Wort steht – viel mehr Text auf einem Handy-Display unterzubringen als etwa das Deutsche.

Begonnen hat Hong Xiu Tian Xiang 1999 als Plattform für Hobbyschreiber. Geld konnte man damals damit nicht verdienen. Heute ist das anders. Die Mikro-Payments der Leserschaft und die Werbeeinnahmen bescheren der Website satte Gewinne. Der Jahresumsatz beträgt heute 12 Millionen Euro. Die Website hat 20 Millionen registrierte Leser – und rund 30.000 Online-Autoren. Nur die erfolgreichsten werden bezahlt – nach einem komplizierten Schlüssel aus Klick-Raten und Wörtern. Sun Peng zahlt nach eigenen Angaben jeden Monat bis zu 450.000 Euro an seine Bestseller-Schreiber aus. Doch damit ist oft harte Arbeit verbunden:

"Der Schlüssel zum Erfolg ist ja, dass man seinen Roman ständig weiterschreiben und updaten muss. Man muss circa 10.000 Worte am Tag schreiben. Man darf nie aufhören. Wer aufhört, verliert seine Leser. Das Schreiben fürs Internet kann daher harte physische Arbeit sein. Einige, vor allem Frauen, geben auf, sie können das über die Jahre einfach nicht durchhalten und sind irgendwann zu erschöpft."

Smartphone
Die meisten Chinesen lesen die E-Books über ihr Smartphone.© picture alliance / dpa Foto: Oliver Berg
Online-Roman wird zur Fernsehserie
Produziert werden die Texte im Akkord. Geschrieben wird schnell und unter ständigem Zeitdruck. Seine Finger seien wund vom permanenten Schreiben, klagt einer von Chinas erfolgreichsten – und reichsten – Online-Autoren. Große Literatur entsteht auf diese Weise nicht. Sondern Gebrauchstexte, die runtergeladen, gelesen und gelöscht werden. Die Geschichten verlangen nach Tempo, nach immer neuen Spannungsmomenten, die die Leser bei der Stange halten. Weniger lyrische Landschaftsbeschreibung, mehr Action. Doch manchmal entwickelt sich aus einem einfachen Text dann doch viel mehr.

Das ist die Titelmusik aus Luo Hun, übersetzt "Die nackte Hochzeit", eine erfolgreiche Fernsehserie aus dem Jahr 2011. Es gibt ein gleichnamiges Buch mit knapp 300 Seiten. Doch die Geschichte basiert ursprünglich auf einem erfolgreichen Online-Roman einer jungen Autorin, Tang Xintian, die erst 2008 mit dem Schreiben begonnen hatte. Der plötzliche Erfolg hat sie völlig überrascht.

"Bis dahin hatte es noch keinen Fall gegeben, dass eine populäre Internet-Geschichte zu einer Fernsehserie ausgebaut wird und dann auch noch erfolgreich ist. Meine Geschichte ist vermutlich die erste. Das hat alle überrascht, nicht nur mich, sondern auch andere Internet-Autoren."

Die Geschichte von Luo Hun traf 2011 genau den Zeitgeist. Es geht um die Generation der "Ba Ling Hou", die in den 80er-Jahren geborenen jungen Chinesen: ihre Suche nach der wahren Liebe, dem Druck aus dem Elternhaus, dem Wettlauf um Wohlstand und soziale Anerkennung. Eine nackte Hochzeit, das ist in China eine Heirat ohne materielle Absicherung – also ohne Eigentumswohnung, Auto oder sicheres Einkommen. Sie habe eigentlich nur über ihr eigenes Leben geschrieben, sagt Tang Xintian.

"Mein Mann und ich waren damals gerade in so einer Phase. Wir hatten eine sogenannte "nackte Hochzeit". Dann haben wir ein Kind bekommen und sahen uns mit Herausforderungen konfrontiert, die wir gar nicht erwartet hatten. Ich habe dann angefangen, den Roman zu schreiben – das war wie eine Version meines eigenen Lebens."

Mittlerweile ist Tang Anfang 30. Sie ist immer noch bescheiden und unprätentiös. Zum Interview kommt sie mit der U-Bahn, sie trägt ein einfaches Sommerkleid. Nichts deutet darauf hin, dass sie eine der erfolgreichsten Autorinnen der Internet-Generation ist.

"Man darf nie nachlassen, sonst verliert man sofort viele Leser"
Das hätte sie sich sowieso nie träumen lassen, erzählt sie. Denn studiert hatte sie Informatik und Finanz-Marketing – wegen der guten Aussichten auf einen sicheren und stabilen Arbeitsplatz. Heute lebt sie als freischaffende Internet-Autorin. Doch der Druck aus dem Netz macht auch ihr zu schaffen.

"Nach einem Update dauert es manchmal nur ein paar Minuten, bis die ersten Kommentare eintrudeln. Viele warten auf das neue Kapitel. Manchmal sitzt ich sogar noch am Computer und habe mein Kapitel gerade erst online gestellt – und schon gibt es Rückmeldungen. Man darf nie nachlassen. Sobald man mit Updates nicht mehr präsent ist, verliert man sofort sehr viele Leser."

Mit dem Verlust der Leser sinkt auch das Einkommen. Die Literatur passt sich daher den Erwartungen der Leser – und Leserinnen - immer mehr an. Bei Hong Xiu Tiang Xiang weiß man mittlerweile sehr genau, wer die Kundinnen sind und was sie wollen. Die meisten haben wenig Bildung, wenig Geld und sind unter 35. Gut laufen Liebes- und Bürodramen. Geschichten von einfachen Mädchen, die sich den gut aussehenden, erfolgreichen Chef eines großen Unternehmens angeln und Glück und die große Liebe finden. Reiner Eskapismus, sagt Webseiten-Chef Sun Peng.

"Es macht die Leute glücklich, wenn sie solche Geschichten lesen, es gibt ihnen Hoffnung. Wir brauchen Hoffnung oder auch den Traum, dass solche schönen Dinge auch in unserem Leben passieren könnten. Wir können doch nicht jeden Tag nur den hässlichen Dingen ins Auge sehen oder über die Verlierer lesen. Dann wäre das Leben einfach zu hart."

Eine Hand hält eine rote Rose vor eine Frau in Unterwäsche
Liebesgeschichten und Bürodramen verkaufen sich am besten.© picture alliance / dpa / Jan-Philipp Strobel
Zensur gibt es weiterhin
Im Internet ist möglich, was im normalen Buchhandel oft nicht geht. Die Online-Romane hätten in den offiziellen Verlagen mit ihren komplizierten Auflagen und Genehmigungsverfahren oft keine Chance. Ins Netz gestellt werden dagegen ungefilterte Manuskripte. Kein Lektor glättet holprige Dialoge oder korrigiert unlogische Handlungsstränge. Doch es wäre falsch zu glauben, in der Online-Literatur wäre die große Freiheit zu finden.

Denn das Internet wird in der Volksrepublik weiter streng zensiert. Und Plattformen wie Hong Xiu Tian Xiang müssen sich – wie alle anderen Internet-Anbieter – an die Vorgaben der Behörden halten, Tabu-Themen vermeiden, selbst als Zensoren tätig werden und kritische Textstellen löschen – sonst droht die Schließung der Webseite.

"Wir prüfen vieles selbst – aber dabei geht es meist um generelle Richtlinien. Es darf nicht gegen die Kommunistische Partei gehen oder um Minderheitenfragen, oder irgendwas, was Unabhängigkeitsbestrebungen betrifft oder militärische Geheimnisse. Unser Grundsatz ist: nicht zu politisch und nicht zu pornographisch."

Neben der erfolgreichen Fan-Fiction verblassen andere Online-Literaturangebote. Digitale Lesegeräte haben dennoch ihre Nischen. Kindle hat gerade erst im Sommer sein erstes eigenes Lesegerät für den chinesischen Markt aufgelegt. Konkurrent Shanda ist schon länger mit dem Bambook-Gerät auf dem Markt. Doch Copyright-Probleme machen der gesamten Branche immer wieder zu schaffen, sowohl Online wie auch im traditionellen Buchgeschäft.

Zum jährlichen Tag des Geistigen Eigentums werden zwar gerne - wie hier an einer Pekinger Mittelschule – rote Fahnen geschwenkt, Marschmusik gespielt, lange Reden gehalten und medienwirksam Schreddermaschinen für raubkopierte Bücher vorgeführt. Doch im wirklichen Leben – und im Internet - bleiben Raubkopien ein Riesenproblem, sagt Zhou Dengping von der IT-und Marktforschungsfirma Jiebao.

"Die Regierung tut etwas, aber noch immer kann man jedes Buch, das man lesen will, bekommen, solange man nur Zugang zum Internet hat. Es gibt ständig neue Webseiten, die mit Raubkopien Geschäfte machen. Viele Internetnutzer, die an Raubkopien gewöhnt sind, sind einfach nicht bereit für lizenzierte Bücher im Netz Geld zu bezahlen. Und das ist ein echter Hemmschuh für die Entwicklung der Branche."

"All you can read" fürs Handy
Dabei sind es nicht nur illegale Websites, die Bücher online zugänglich machen, sondern auch große Internetplattformen wie etwa Baidu, Chinas größte Suchmaschine. Vor drei Jahren drohten rund 100 chinesische Autoren dem Internetgiganten mit einer Klage. Der Konzern gab schließlich klein bei, entfernte die beanstandeten Werke und entschuldigte sich. Zwei von Chinas bekanntesten Autoren, darunter der Blogger und Rennfahrer Han Han, bekamen im letzten Herbst sogar Entschädigungszahlungen zugesprochen.

Trotzdem – oder gerade deswegen – setzt China auf die digitale Zukunft. Es sind dabei weniger traditionelle Verlage, die den Ton angeben, sondern große Internet- und IT-Firmen und Telekommunikationskonzerne, die bereits riesige Kundenstämme haben und immer auf der Suche sind nach neuen Inhalten, mit denen sich in der bunten Online-Welt Geld verdienen lässt.

Die neueste Idee: "All you can read"-Angebote fürs Handy. Abonnenten wählen nicht mehr einzelne Bücher aus, sondern erhalten gegen eine monatliche Gebühr Zugang zu hunderten oder tausenden von Werken aus dem Bestand des Anbieters. Das Buch als eigenständiges Werk hätte ausgedient – und wäre damit endgültig zum reinen Füllstoff der digitalen Welt geworden.

Doch gegen diesen kompletten Ausverkauf der Literatur formiert sich bereits eine Gegenbewegung: Pfiffige Autoren wie der Internet-Schreiber Nan Pai Sanshu wollen nicht im Sammelangebot einer Telefonfirma untergehen. Er hat im Internet daher seinen eigenen Laden aufgemacht – und verkauft dort seine Werke selbst – ohne Verlag. Wie bei den großen Internet-Plattformen gibt es seine Produkte als Fortsetzungsroman im Abo. Und wie alle hofft er auf die große Masse der chinesischen Leser.
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