Schmuggler und Schieber

Von Mirjam Ulrich · 10.01.2009
Es klingt ein bisschen wie die Geschichte von Asterix und Obelix. Wir befinden uns in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der ganze Westen Deutschlands ist besetzt. Nur am Rhein hört ein kleines Gebiet nicht auf, gegen die Besetzung Widerstand zu leisten. Seine Bewohner leben hauptsächlich vom Schmuggel, drucken ihr eigenes Geld und nennen sich "Freistaat".
Das Leben ist für die französischen Soldaten am Rhein nach dem Ersten Weltkrieg nicht immer leicht. Wollen sie bei den Winzern im besetzten Rheingau guten Riesling für sich beschlagnahmen, stehen sie mitunter in halbleeren Kellern. Die besten Weine sind versteckt. Heimlich haben die Winzer sie ein paar Kilometer weiter im "Freistaat Flaschenhals" in Sicherheit gebracht.

"Flaschenhals" – so nennen Deutsche und Franzosen den schmalen Streifen Land, der nach dem Ersten Weltkrieg am rechten Rheinufer zwischen den Städten Lorch und Kaub unbesetzt bleibt. Landeinwärts erstreckt er sich bis zum Taunus ins freie Hinterland. Außer Lorch und Kaub gehören insgesamt 30 Dörfer zu dem Gebiet. Sein Umriss erinnert an den Hals einer Flasche. An seiner schmalsten Stelle ist er nur 800 Meter breit. Selbstbewusst erklären die Bewohner ihr Territorium zum "Freistaat". Als in ihrer Enklave das Kleingeld knapp wird, drucken sie ihr eigenes: farbenfrohe Scheine zu 25 und 50 Pfennig. Auf manchen stehen Sprüche wie:

"In Lorch am Rhein, da klingt der Becher,
denn Lorcher Wein ist Sorgenbrecher"

"Nirgends ist es schöner als in dem "Freistaat" Flaschenhals"

Ganz ernst gemeint ist die Bezeichnung "Freistaat" nicht, denn eigentlich ist der ganze "Flaschenhals" nur ein Versehen: Im Dezember 1918 haben die Alliierten und die USA den Westen Deutschlands bis zum linken Rheinufer besetzt. Um die zehn Kilometer breite neutrale Zone am rechten Rheinufer zu kontrollieren, haben sie drei Brückenköpfe eingerichtet: die Franzosen in Mainz, die Amerikaner in Koblenz und die Briten in Köln. Das Umland im Umkreis von 30 Kilometern gehört ebenfalls zur Besatzungszone, wie im Waffenstillstandsabkommen von Compiègne beschlossen. Doch in dem Abkommen ist den Verbündeten zwischen Mainz und Koblenz ein Missgeschick passiert. Der französische General Henry Mordacq schreibt in seinen Memoiren:

"Man hatte den schlimmen Fehler begangen, einige Hektar Land in der neutralen Zone zu belassen, anstatt die beiden Brückenköpfe vollständig zu vereinigen ( ... ), was zu fortwährenden Klagen Anlass gab."

Frankreich beansprucht den "Flaschenhals" für sich, aber die Bewohner wehren sich. Im Namen der gesamten Bevölkerung schickt der Bürgermeister von Lorch, Edmund Pnischeck, Protest-Telegramme an die deutsche Delegation der Waffenstillstandskommission. Mit Erfolg, wie er in seinen Aufzeichnungen festhält:

"Schließlich kam am 10. Januar 1919 mit Freude begrüßt ein Telegramm des Generals von Winterfeld, des deutschen Delegierten bei der Waffenstillstands-Kommission, in dem er mitteilte, dass deutscherseits die Besetzung des Flaschenhalses abgelehnt sei."

Auch Frankreichs Verbündete sind dagegen – der "Flaschenhals" bleibt frei. Doch das Gebiet ist abgeschnitten, die Versorgung schwierig. Nichts und niemand darf die neuen Grenzen passieren. Bürgermeister Pnischeck und seine Kollegen nehmen Verbindung mit Limburg auf, der nächsten größeren Stadt im unbesetzten Hinterland. Von dort schafft man Lebensmittel und Heizmaterial für die mehr als 17.000 Einwohner des "Flaschenhalses" heran.

Der 55 Kilometer lange Weg führt über Stock und Stein. Die Fuhrwerke können deshalb nur halb beladen werden, rasch verteuern sich alle Waren. Einige Bewohner verdienen sich darum ihr Geld mit Schmuggel. Über den "Flaschenhals" verschieben sie Lebensmittel aus den Besatzungszonen in das unbesetzte Deutschland. Edmund Pnischeck beschreibt das so:

"Die Chose ging sehr einfach: Abends lief ein Motorschiffchen auf der "Reede" von Lorch ein, die geschützt hinter den Lorcher Inseln liegt; geheimnisvolle Kräfte luden das Motorschiff aus und das verschwand ebenso still und unerkannt wie es gekommen war. Noch in der Nacht wurden die Lebensmittel in Scheunen verstaut und am anderen Morgen setzte sich eine Karawane von 20 bis 25 Fuhrwerken in Bewegung, in der Richtung Limburg."

Die französischen Truppen können das nächtliche Treiben nicht verhindern. Dem Besatzungskommandeur Henry Mordacq bleibt der "Flaschenhals" stets ein Dorn im Auge. In seinen Memoiren gibt er unverblümt zu:

"So ergriffen wir denn jede Gelegenheit, den Flaschenhals zu beseitigen."

Die Gelegenheit bietet sich, als Deutschland Ende 1922 mit den Reparationslieferungen von Holz und Kohle in Verzug gerät. Frankreich und Belgien besetzen im Januar 1923 das Ruhrgebiet. Einen Monat später marschieren französische Truppen auch in den "Flaschenhals" ein – der "Freistaat" wird Geschichte.